Wahlbeteiligung in den Kantonen: mehrheitlich sinkend, aber nicht nur

Die Wahlen im Kanton Zürich haben die Diskussion zur Wahlbeteiligung wieder angeheizt. Hier eine Uebersicht über den Haupttrend und über die Kantone, die davon abweichen.

Die Wahlbeteiligung auf Bundesebene ist in vielerlei Hinsicht bekannt. Seit der Einführung des Frauenwahlrechts hat die Teilnahme an Nationalratswahlen nachgelassen, aber nicht dauerhaft. Der Tiefpunkt war 1995. Damals lag der Beteiligungswert gesamtschweizerisch bei 42 Prozent. Seither steigt die Teilnahme an der Parlamentswahl wieder langsam, aber kontinuierlich an. 2011 erreichte sie mit 48,5 Prozent wieder einen neuen Höchststand. Im Vergleich zu 1971 beträgt der Rückgang noch 8 Prozentpunkte.

Der Haupttrend: der anhaltende Rückgang
Die Entwicklung bei kantonalen Parlamentswahlen ist nicht identisch. Zwar sinkt auch hier die Teilnahme, eine gesicherte Trendumkehr gibt es aber nicht. In den ersten Jahren nach der flächendeckenden Einführung des Frauenwahlrechts 1971 lag der Schnitt der national hochgerechneten Proporzkantone bei 51 Prozent. Heute ist er bei 38 Prozent. Der mittlere Rückgang beträgt demnach 13 Prozentpunkte.

Man kann es jetzt schon sagen: Die mittlere Wahlbeteiligung in den Kanton war seit 1971 immer tiefer als auf Bundesebene, und die Schere hat sich zusätzlich geöffnet.

grafik1generellsinkend
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

In zahlreichen Kantonen verläuft die Entwicklung nach unten mehr oder weniger konstant. Namentlich erwähnen wir hier die Kantone Zürich, Luzern, Glarus, Zug, Fribourg, Solothurn, Schaffhausen, Thurgau und Jura. Grosse Abweichungen im Trend gibt es in dieser Gruppe nicht – und wenn, waren sie nicht von Dauer.

Die grösste Differenz findet sich übrigens im Kanton Jura. Die Beteiligung an der ersten Wahl im neuen Kanton lag bei 81 Prozent; die letzte Wahl mobilisierte nicht einmal mehr die Hälfte der Wahlberechtigten. Unterschied: 32,2 Prozent. Man könnte das als Sonderfall bezeichnen, bedingt durch die Neugründung, die eine ausserordentliche Politisierung mit sich brachte. Seither wäre eine gewisse Normalisierung eingetreten. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Denn die Veränderung im Kanton Solothurn ist ähnlich krass, ohne dass es hier eine Neugründung gegeben hätte. Gleiches gilt für Kantone wie Luzern oder Thurgau.

Den geringste Beteiligung kennen aktuelle der Thurgau und Neuenburg. Hier nahmen an der letzten kantonalen Parlamentswahlen 30,8 Prozent teilt. Der tiefste Wert überhaupt resultierte mit 29,5 Prozent bei den Wahlen 2002 im Kanton Bern.

Nebentrend 1: Rückgang, der abflacht oder aufhört
Das verweist auf den zweiten Typ an Entwicklungen. Demnach hat sich der frühe Rückgang abgeflacht oder es ist eine eigentliche Wende mit erhöhten Beteiligungswerten, die nicht einmal, sondern bis heute anhaltend sind. Dazu gehören nebst dem erwähnten Bern die Kantone St. Gallen, Waadt und Genf.

grafik2sinkendmitwende
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Am grössten fällt die Trendwende in der Waadt aus, liegt sie doch bei rund 10 Prozentpunkten. Diese Typ an Entwicklungen entsprich am ehesten dem auf der Bundesebene.

Nebentrend 2: spät einsetzender Rückgang
Ein dritter Typ findet sich am ehesten in Neuenburg und Tessin, denn hier war die Wahlbeteiligung lange stabil, sinkt aber in den letzten Wahlen ab. Im Tessin ist die seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts der Fall, in Neuenburg seit den 00er Jahren im 21. Jahrhundert.

Grafik anclicken, um sie zu vergrössern
grafik3stabildannsinkend
Nebentrend 3: ohne zeitlich einheitliche Entwicklung
In den anderen Kantonen gibt es keinen wirklichen Trend. Entweder ist die Wahlbeteiligung weitgehend stabil wie in den beiden Basel. Kantonale Politik steht hier nicht im Zentrum der Bürgerschaft; das Verhältnis ändert sich aber auch nicht gross.

grafik4stabil
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Oder aber sie schwankt, ohne dass sie heute geringer wäre als damals. Dieser letzte Typ findet sich in den Kantonen Schwyz, Ob- und Nidwalden, Aargau und Wallis. Hauptgrund ist hier die Spannung vor Wahlen in die Regierung. Ist sie durch eine Auswahl gegeben, steigt die Beteiligung an, ohne das sinkt sie aber auch wieder.

grafik5schwankend
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Ursachenanalysen
Was sind die Gründe für die Veränderungen der Teilnahme an kantonalen Wahlen? Abstrahiert man von dem eben erwähnten situativen Element kann man von einem generellen Bedeutungsverlust der Kantone als Gesetzeseinheit ausgehen. Dort, wo Lebensräume und Kantonsgrenzen nicht mehr übereinstimmen, tauchte das Phänomen früh aus, und es fällt ausgeprägt aus. Typisch hierfür der zerklüftete Kanton Solothurn, im Gravitationsfeld gleicher mehrerer urbaner Zentren. Aber auch Kantone wie Thurgau, Schaffhausen oder Luzern sind in den Bann Zürichs gezogen worden. Das fällt die Veränderung überall über dem Mittel aus.

In fast allen Kantonen ist die Teilnahme an kantonalen Wahlen heute im urbanen Gebiet geringer als in den ruralen Gegenden. Das wiederum kann mit der medialen Situation in Verbindung gebracht werden. Geschlossene Lebenswelt sind hier stark aufgebrochen worden. Soziale Kontrolle wurde individualisierte Lebensweisen ersetzt, mit folgen für die Politik.

Politische Betätigung ist nicht generell rückläufig, teilweise einfach selektiver geworden. Das muss nicht einmal mit der Ausgangslage vor der Wahl tun haben. Vermutet werden kann nämlich, dass sich die Teilnehmenden selber nicht immer gleich zusammensetzten. Vielmehr kommen zu den regelmässig Wählenden immer mehr auch solche hinzu, die sich aufgrund ihrer Meinungsbildung, ihrem Interesse an der Wahl oder der Betroffenheit durch die Umstände beteiligen.

Repolitisierungen dieser Potenziale durch neue Konflikte, neue Parteien oder neue Kommunikationsformen, wie wir sie ausgehend von den urbanen Zentren auf Bundesebene kennen, haben auf der kantonalen nur teilweise gegriffen. Deshalb zeigt sich das Neue in den Kantonen weniger klar aus beim Bund.

Beispielsweise im Kanton Zürich, der eben wählte, merkt man davon jedoch wenig, wenn der Kantons- oder Grosse Rat gewählt wird. Hierfür fehlt es bei kantonalen Wahlgängen einfach an polarisierenden Themen, derweil diese bei Abstimmungen und nationalen Wahlen viel auch in diesen Grossagglomerationen mobilisierend wirken.

Claude Longchamp