Momentaufnahmen und Prognosen vor Volksabstimmungen

Umfragen zu Volksabstimmungen lassen direkt keine Prognosen zu. Das ist nicht neu. Neu ist, dass man sie mit Prognosetools verbessern kann.

Die zweite und letzte SRG-Umfrage ergab bei der Familieninitiative 40 Prozent bestimmt oder eher Ja, bei der Energie- statt Mehrwertsteuer-Initiativen 19 Prozent Ja. Die anderen waren dagegen oder unentschieden. Der Trend war bei beiden Vorlagen negativ. Bei der CVP-Initiative sank er innert Monatsfrist um 12 Prozentpunkte, beim glp-Begehren um 10. Das ist im Schnitt oder darüber, wenn man nur jene Fälle betrachtet, bei denen die Unterstützung nachlässt.

Im Kommentar zur Umfragen hielten wir fest, beide Vorlagen würden am heutigen Abstimmungssonntag abgelehnt. Im einen Fall sehr deutlich. Im anderen Fall werde es wohl etwas wenig einseitig, aber dennoch deutlich sein. In den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sahen wir den Hauptgrund für den starken Meinungswandel respektive -umschwung.

Diese qualitativen Aussagen basieren auf der Erfahrung, dass Volksinitiativen beser starten und schlechter enden. Denn zu Beginn eines Abstimmungskampfes beurteilen die Stimmberechtigten eher das Problem, zum Ende dessen vorgeschlagene Lösung. Bei der Energie- statt Mehrwertsteuer-Initiative waren sowohl die Prädisponierung als auch der Trend negativ. Das Problem wurde nicht im Sinne der Initiantin gesehen, die Meinungsbildung verlief ebenso wenig zu ihren Gunsten. Etwas differenzierter war unsere Einschätzung bei der Familieninitiative. Hier sprachen wir von einem potenziell mehrheitlich gesehenen Problem, wofür es aber noch keine tragfähige Lösung gäbe, auch nicht im Sinne des CVP-Vorschlags.

Nun ist das keine quantifizierbaren Prognosen. Die Gründe hierfür haben wir schon mehrfach vorgetragen: Erstens müssen die letzten Befragung in der Schweiz in der dritten Woche vor dem Abstimmungstag stattfinden. Denn sie müssen spätestens 10 Tage davor veröffentlicht sein. Zweitens taugten ihre Ergebnisse nur dann als Vorhersage, wenn die Meinungsbildung zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen ist. Solange es Trends und Unschlüssige gibt, ist das aber nicht der Fall. Drittens sind die Effekte der Mobilisierung stets nur schwer einschätzbar, und auch sie können des Endergebnis beeinflussen. Im langjährigen Schnitt weichen die Resultate bei Volksinitiativen 5 Prozentpunkte vom Umfragewert ab: In aller Regel sind die Ja-Werte tiefer, denn der Trend, der sich aus den beiden Vorbefragungen ableiten lässt, setzt sich meist auch nach der zweiten Erhebung fort.

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Seit rund zwei Jahren arbeiten verschiedenen Forscher daran, genau diese Entwicklung nach der zweiten Befragung zu formalisieren. Dazu gehört unter anderen der Politikwissenschafter Oliver Strijbis, der ein Modell entwickelt hat, das Umfrageergebnisse und weitere berücksichtigt. Zwischen ihm und dem gfs.bern gibt es seit einiger Zeit eine Kooperation, auch wenn beide Tools unabhängig von einander erstellt werden.

Im Schnitt kommt Strijbis den effektiven Abstimmungsergebnissen etwas näher als Umfragen. Seine mittlere Abweichung beträgt 4 Prozentpunkte – mal nach oben, mal nach unten. Im aktuellen Fall prognostizierte er 33 Prozent Zustimmung bei der CVP-Initiative, 19 Prozent bei der glp-Vorlage. Zur Kontrolle lässt er die vorliegenden Befragungs- und Prognoseresultate von einem Panel an ExpertInnen und Laien evaluieren. Die wiederum rechnen mit 33 resp. 16 Prozent Zustimmung.

Der Unterschied ist, dass Prognosen den weiteren Verlauf vorweg nehmen, derweil Momentaufnahmen, das festhalten, was erhoben wurde. Sie verändern sich mit Umfragen, müssen aber schneller als diese was wahrscheinliche Ergebnis anzeigen. In der obigen Darstellung wird dies nachträglich geprüft. Richtig ist, dass Prognosen schneller dem Endergebnis näher kommen, aber alles andere als stabil sind. Die Auswertung legt in beiden Fällen nahe, dass auch nach der zweiten SRG-Befragung mehr als üblich geschehen sein muss.

Die neuen Instrumente sind kein Ersatz für Umfragen. Wie Strijbis mehrfach wiederholt hat, braucht es die Momentaufnahmen am Anfang und während des Abstimmungskampfes. Ohne die würde sein Prognoseinstrument genauso wenig funktionieren wie der Prognosemarkt. Diese wiederum sind eine Möglichkeit, das Publikationsverbot von Umfragen zu kompensieren, das dazu führt, dass diese nicht am Schluss, sondern unterwegs gemacht werden müssen.

Claude Longchamp