Konfliktherd Agglomeration

Politische Analysen im urbanen Raum der Schweiz sind selten. Umso mehr sollte man sich für die spärlichen Forschungsergebnisse hierzu besonders interessieren. Hier meine Besprechung der jüngsten Dissertation zum Thema – mit viel Lob und ein wenig Tadel.

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Themenstellung
Urs Scheuss hat sich während Jahren mit Agglomerationen auseinander gesetzt. Schon seine 2003 erschiene Lizentiatsarbeit zu „Demokratie und Agglomeration“ war dem Thema gewidmet. Nun liegt seine Doktorarbeit in der Druckfassung vor, und auch sie beschäftigt sich mit dem Forschungsgebiet. Uebertitelt ist die Arbeit, die im Rahmen des NCCR Demcoracy bei Daniel Kübler an der Uni Zürich entstanden ist, mit „Konfliktherd Agglomeration“. Versprochen wird via Untertitel eine Analyse der politischen Gegensätze im urbanen Raum der Schweiz.
Ausgangspunkt der Arbeit sind die Veränderungen in den Wähleranteilen in den sieben ausgewählten grossen Agglomerationen der Schweiz. 482 Gemeinden auf Schweizer Boden, zu den Agglomerationen Zürich, Basel, Genf, Bern, Lausanne, Luzern und Lugano zählend, bilden die Grundlage der Untersuchung. Betrachtet wird der Zeitraum von 1970 bis 2000.

Hauptergebnisse
Als Erstes erfährt man, dass die Agglomerationen insgesamt durch eine Polarisierung der politischen Orientierungen geprägt ist resp. war. Mit Ausnahme der Agglomeration Lugano kennen alle untersuchten Ballungsräume einen steigenden Anteil linker WählerInnen. Dieser hat über alle seiben Agglos hinweg von 22 auf gut 28 Prozent zugenommen. Auch bei der SVP gibt es ein entsprechendes Wachstum, denn ihr Wählenden-Anteil ist von 14 auf 21 gestiegen. Gegen den Trend entwickelt haben sich hier die Agglomerationen Bern und Lausanne, denn da sank der Wähleranteil der SVP.
Viel wichtiger als das sind, zweitens, die statistischen Analysen, die unter drei Gesichtspunkten erfolgen: Erstens aufgrund der sozioökonomischen Zusammensetzung der Gemeinden, zweitens hinsichtlich des Kontextes einer Gemeinde im Gesamtgfüge der Agglomeration, und drittens aufgrund des Grades an geschlossenen Beziehungen.
Die Regressionsanalysen zwischen Partei(block)stärke und Merkmalen der Gemeinden resp. ihren BewohnerInnen legen insgesamt nahe, dass die heutigen Linksparteien in Agglomerationsgemeinden stark sind, wenn diese spät urbanisiert wurden, wenn der öffentliche Verkehr stark genutzt wird und wenn sie eher unterdurchschnittlichen sozioökonomischen Status haben. Das ist anders als in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, denn damals war die Linke in früh urbanisierten Gemeinden mit starker sozioökonomischer Benachteiligung stärker, und einen Zusammenhang mit der OeV-Nutzung gab es damals nicht.
Dafür ist die SVP heute in früh urbanisierten Gemeinden stark, wo grössere sozioökonomische Benachteiligungen herrscht, ebenso dort, wo es keine ausgeprägte OeV-Nutzung gibt und dies obwohl die Distanz zum Zentrum hoch ist. Auch das hat sich geändert, denn 30 Jahre zuvor war sie in spät urbanisierten Gemeinden stärker, ebenso in Gemeinden ohne sozioökonomische Benachteiligung.
Der nachgewiesen Wandel in den Partei(block)stärken ist nicht kontinuierlich. Vielmehr sind die Veränderungen in der Regel zwischen den Wahlen von 1991 und 1999 erheblich. In dieser Zeitspanne wächst die Linke nur noch beschränkt (in der Agglo Luzern gar nicht mehr), die Rechte dagegen stark, namentlich in den Agglomerationen Luzern, Zürich und Basel. Und, in genau dieser Periode ergibt sich die Umschichtung in früh urbanisierten und benachteiligten Gemeinden, deren Präferenzen bis in die 80er Jahre linker waren, jetzt rechter sind.

Interpretationen
Urs Scheuss interpretiert diese Befunde im Rahmen der Theorie(n) zu Konfliktlinien: Diese unterstellen, dass politische Orientierungen eine Folge der Sozialstruktur und von grösserer Dauer sind, mit dem Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen aber auch ändern können. Vereinfacht gesagt, wählt die (urbane) Arbeiterschaft die SP, das Bürgertum die FDP. Doch warum wählt man SVP? Da gehen auch die Ansichten in den Theorien auseinander.
Stein Rokkan, der Vater aller Analysen zu Cleavages argumentierte, die Allianzbildung unter den Akteuren sei entscheidend, also wer in einem Konflikt mit wem eine Verbindung eingeht. Derweil meint Stefano Bartolini, sein Nachfolger unter den AnalytikerInnen von Konfliktlinien, man stelle besser auf geschlossene politische und soziale Beziehungen, sprich Milieus, ab. Scheuss steht hier klar auf der Seite von Bartolini.
Wo sich ein Wandel einstellt, gibt es ebenfalls zwei Positionen: Gemäss der ersten können die vorherrschenden Konflikte ändern, sodass neue Trennlinien auftreten, während die zweite eine Emanzipation der Individuen von politischen Organisationen unterstellt, mit einer generell abnehmenden Bedeutung von Konfliktlinien für Parteibindungen und Wahlentscheidungen.
Eine brauchbare Antwort auf Letzteres gibt die Dissertation nicht, denn die Hypothesen, die zur Konfliktstrukturierung hergeleitet wurden, liessen sich kaum bestätigen. Als Grund kann man annehmen, dass nicht die Konflikte in Gemeinden strukturierend wirken, sondern die nationalen oder kantonalen einen Einfluss auf Wahlentscheidungen (bei überregionalen Wahlen) haben. Empirisch nachweislich sind dagegen die postulierten Zusammenhänge bei den übrigen Bestimmungsgründen. Scheuss präferiert dabei, aufgrund stringenterer empirischer Befunde, Argumente aus dem räumlichen Kontext einer Gemeinde, ergänzt durch die sozialwirtschaftliche Merkmale ihrer EinwohnerInnen.
Konkret: Die linken Parteien wachsen in Gemeinden, die auf öffentlich-kollektiven Konsum setzen. Gemeint ist damit die Förderung von Infrastruktur, die der Allgemeinheit zu Gute kommt, beispielsweise der Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Die Rechte wiederum wird dort stärker, wo der Konsum privat-individuell ausgerichtet ist, sprich günstige Steuern reiche BewohnerInnen anziehen. Doch das ist nur die bekanntere Hälfte der Analyse. Die weniger geläufige führt die Veränderungen auf die Folgen der Globalisierung zurück. Denn namentlich die kulturelle Abgrenzung, beispielhaft an der gesellschaftlichen Ablehnung der Migration erkennbar, führt zu Globalisierungskritik und Stärkung von Parteien, die sich diesen Positionen annehmen. Genau das erwartet der Autor in Gemeinden mit sozioökonomischer Benachteiligung, spricht mit hohem Anteil EinwohnerInnen mit tiefer Bildung, mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Rentneranteil. Und präzise hier findet seit den 90er Jahren die Rechtsentwicklung statt, weg von den rtogrünen Parteien hin zur SVP. Wenn die Linke in den 90er Jahren trotzdem zulegen konnte, hat dies mit ihrem Wachstum in den Mittelschichten der Vororten zu tun, die sich in Gemeinden mit überdurchschnittlichem soziökonomischem Status finden. Entsprechend verlieren der Wohneigentumsanteil einer Gemeinde beziehungsweise der Zeitpunkt der Agglomerationsbildung und die Distanz zum Zentrum an Bedeutung, um linke oder rechte Präferenzen vorherzusehen.
Scheuss‘ Bilanz zum Konfliktherd Agglomeration lautet: Die SVP ist sowohl die neue Vertreterin klassisch rechter Vorlieben als auch globalisierungskritischer Positionen. Sie steht für Eigenverantwortung und Schutz der Einheimischen, während die erweiterte Linke für kollektive Angebote und Gleichheit der Menschen agiert. Dabei unterscheiden sich neue Parteien wie die Grünen und traditionelle wie die SP kaum mehr.

Kritik
Für diese klaren Ergebnisse gebührt dem Autor Applaus. Sie sind nicht nur stringent hergeleitet, sie erhellen auch, was gegenwärtig in Agglomerationen geschieht – weit über Wahlen hinaus.
Weniger Freude hatte ich dagegen beim Lesen der Arbeit des heutigen stellvertretenden Generalsekretärs der Grünen Partei. So ist die Sprache ausgesprochen theoretisch-abstrakt. Zentrale Konzepte wie “Konfliktstrukturierung”, “Gemeindekontext” und “Bevölkerungskomposition” werden nirgends sinnlich erfahrbar gemacht. Zudem ist die Datenpräsentation ausgesprochen technisch. Ohne ein geübtes Auge für Regressionsanalyse, insbesondere für erwartete positive und negative Vorzeichen bei Erklärungsvariablen, ist nicht jedes der empirischen Ergebnisse einfach nachzuvollziehen.
Aergerlich ist vor allem das Publikationsdatum. Denn die Arbeit hätte entweder zeitnahe zu den verwendeten Daten erscheinen müssen, oder aber sie hätte die Aktualität miteinbeziehen sollen. Die Publikation der Doktorarbeit in der Reihe „Politik und Demokratie in den kleineren Ländern Europas“ erfolgte 2013, das Datenmaterial erstreckt sich, in 4 oder 10 Jahresrhythmen, gerade mal bis 2000. 2010 wird ganz ausgelassen, obwohl in den Nullerjahren des neuen Jahrhunderts gerade in den Agglomerationen viel geschehen ist: So hat sich 2007 die GLP von der GPS abgespalten, und sie hat den Wettbewerb unter anderem um linke Stimmen gerade im urbanen Raum neu aufgemischt. Das gilt auch für die BDP, 2008 von der SVP separiert, die in Agglomerationen namentlich für die FDP, beschränkt auch für SVP und SP zu Konkurrenz geworden ist. Und auch das MCG muss erwähnt werden, denn in der Agglomeration Genf ist es, gleich wie die Lega in der Agglomeration Lugano, viel wichtiger als die dortigen SVP-Sektionen. Sie alle widersprechen der Logik in diesem Buch, die auf politische Polarisierung ausgerichtet ist, denn sie stehen für Pluralisierung der politischen Akteure, teils auch für Rezentrierung der Politik. Nur, darüber erfährt man in der grundlegenden Arbeit zu politischen Gegensätzen im urbanen Raum der Schweiz nichts. Leider!

Claude Longchamp