Die Szenarien für die heutige Entscheidung über die Zuwanderungsinitiative

Mit welchen Effekten auf das Abstimmungsergebnis ist zu rechnen, wenn die Ja-Seite zur Zuwanderungsintiative besser mobilisiert resp. wenn beide Seiten gleich gut mobilisieren? Eine Übersicht aufgrund der SRG-Umfragen.

Erinnern wir uns: Vor 10 Tagen hielten wir aufgrund der zweiten SRG-Umfrage fest: „Starke Mobilisierung wegen Zuwanderungsinitiative. Ja-Lager legt zu, Nein-Seite nimmt ab.“ Belegt wurden diese Aussagen durch den Vergleich beider Trendbefragungen. Die erste wurde im Schnitt am 27.12.2013 erstellt, die zweite am 21. Januar 2014. Dazwischen lagen 25 Tage. Bis zum Abstimmungssonntag waren es nochmals 18 Tage.

Die letzte Befragung erfolgt so viel vor dem Abstimmungssonntag, weil in der Schweiz 10 Tage davor keine neuen Umfragen publiziert werden dürfen. Durchführung, Datenanalyse, Interpretation und mediale Vermittlung nehmen eine Woche in Anspruch.

Nunrschon deshalb sind die letzten Umfragewerte Zwischenergebnisse, keine punktgenauen Prognosen!

Diesmal kommt namentlich die Mobilisierung hinzu, aber auch der last swing bei den Unentschiedenen. “To uncertain to call” ist die einzige richtige Schlussfolgerung.

Was ist seither geschehen? In der letzten Befragung bekundeten 47 Prozent, sich beteiligen zu wollen. Nun sprechen die Auswertungen aus dem Kanton Genf für eine nationale Beteiligung von 54 Prozent – und mehr. Das sind nochmals 7 Prozentpunkte mehr als in der letzten Umfrage, oder sogar noch mehr.

Eine solche Veränderung ist unüblich; normal ist, dass die Beteiligung nach der letzten Befragung um 2-3 Prozentpunkte steigt.

Das spricht zunächst dafür, dass es bis in die letzten Woche hinein einen kräftigen Mobilisierungsschub gegeben hat. Da wir keine Informationen haben können, wie sich die Stimmen verteilen, sind Szenarien die sinnvollste Analysemöglichkeit:

protest
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In der obigen Grafik sind die Prozentangaben einerseits bezogen auf Stimmberechtigte resp. Teilnahmewillige.

Die erste Variante des Mobilisierungsszenario, “Protest-Votum” genannt, geht davon aus, dass die asymmetrische Mobilisierung aus dem Januar 2014 bis zum Abstimmungstag fortsetzt. Die Erhöhung der Beteiligung bis zum Abstimmungstag begünstigt nochmals die BefürworterInnen, und sie schwächt erneut die Gegnerschaft. Modellierungen diese Prozesses zeigen, dass es ein 46 zu 48 am wahrscheinlichsten ist, mit 6 Prozent Unentschiedenen. Nun geben die Unschlüssigen den Ausschlag. In der hier entwickelten Logik gehen sie mindestens zur Hälfte ins Ja-Lager. Diese gewinnt die Abstimmung mit 50-52 Prozent. Das Ständemehr ist auf jeden Fall gegeben.

gegenreaktion
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Die Prozentangaben sind einerseits bezogen auf Stimmberechtigte resp. Teilnahmewillige.

Das zweite Szenario, “Gegenreaktion” bezeichnet, unterstellt, dass es eine Gegenreaktion zum Schub gibt, der sich im Januar abzeichnete. Die Schlussmobilisierung beider Seiten fällt deshalb annähernd ausgeglichen aus. Nahmhafte Verschiebungen der Ja- und Nein-Anteile ergeben sich nicht mehr. Die Extrapolation legt hier ein 49 zu 44 der Initiativ-GegnerInnen nahe. Massgeblich sind auch in dieser Perspektive die Unschlüssigen, doch gehen sie, wie meist bei Initiative, im Zweifelsfalle häufiger ins Nein als in Ja. Finale Zustimmungswerte von 45 bis 50 Prozent sind dann wahrscheinlich, und die Frage des Ständemehrs erübrigt sich.

Beide Szenarien sind als Extremfälle konzipiert, wahrscheinlich ist eine Mischung, fraglich allerdings in welchem Verhältnis.

Einen verbindlichen Entscheid zu treffen, welches Szenario zutrifft, kann man erst im Nachhinein treffen. Bis jetzt gibt es nur Beobachtungen. Zutreffend ist, dass es werberisch eine Schlussoffensive der Gegner gab. Gebremst wurde sie dadurch, dass Wirtschschaftsminister Johann Schneider-Ammann als Kommunikator zusehends ausfiel.

Noch schwieriger ist es, die Initiantinnen einzuschätzen, denn sie hüllten sich in Schweigen, wie sie am Schluss agieren würden. Die Online-Medien blieben eine Plattform für sie, während die Leitartikel der meisten Wochen- und Tageszeitungen dagegen hielten.

Die EU ihrerseits verhielt sich wie erwartet: Sie machte klar, dass die Personenfreizügigkeit kaum verhandelbar sei, auch wenn es nicht zu einer sofortigen Kündigung der Bilateralen kommen würde. Unerwartet verhielt sich dafür die Ex-Aussenministerin der Schweiz, Micheline Calmy-Rey, die ihr Buch ankündigte, in dem sie den EU-Beitritt forderte.

Claude Longchamp