Was Bern von Unteriberg trennt – aber auch was Uitikon von beiden unterscheidet

Mein Follower @UrsWyder aus Basel ist erbost: “Nachrichten: das Gegenteil von rechts-konservativ ist links-liberal?”, fragt er @srf3. Ganz anders meine Followerinnen @cesseiva, besser bekannt als Claudine Esseiva, die Generalsekretärin der FDP Frauen, die mir aus Bern antwortet: “sehr spannend”. Und Barbara @SchmidFederer, Zürcher CVP-Nationalrätin, schiebt nach: “Auch aus Zürcher Sicht sehr spannend.”

fadenkreuz
Quelle: Sonntagszeitung/sotomo
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Die neue politische Geografie der Schweiz
Bezogen haben sich alle auf das Gleiche: Die neue politische Geografie der Schweiz, die heute die @sonntagszeitung (leider ohne Karten) publiziert hat. Das Missverständnis, ausgelöst durch die SRF3-Nachricht zur Veröffentlichung ist typisch. Zwar verwendete das Institut sotomo welchanschauliche Vokabeln, die man/frau zur Selbstverortung auf sich selber anwenden kann. Gemeint sind aber nicht indidivuelle Einstellungen, sondern politkulturelle Polarisierungen. Vermessen werden sie durch Abstimmungsergebnisse der Gemeinden.

Gäbe es immer die gleichen Gegensätze, würden sich immer wieder die gleichen Gemeinden gegenüber stehen. Gemeinhin wären das die rechten und die linken. Nun zeigt die Erfahrung, dass das nicht stimmt. Zwar gibt es klare Präferenzen gewisser Gemeinden, wenn es um Eigentumsfragen oder Wohlfahrt geht, auch wenn man über mehr Staat oder mehr Markt abstimmte. Doch reichen diese Gegensatzpaare nicht aus, um die wichtigen raumbezogenen Polarisierungen in ihrer Ganzheit zu beschreiben. Denn die Schweiz kennt auch Modernisiserungskonflikte, mit typisch konservativen und progressiven Gemeinden, solchen die traditionsbewusst abstimmen und solchen die modern ausgerichtet sind.

Für die Wahl- und Abstimmungsforschung haben die vielen Volksentscheidungen einen riesigen Vorteil. Weltanschauliche Profile der Gemeinden kann man nicht nur aufgrund ihrer Wahlergebnisse machen; es ist auch möglich, solche anhand der Abstimmungsresultate zu erstellen. Ohne Umweg über den Parteientscheid, kann man so typisch sachpolitische Präferenzen bestimmen. Geleistet wird dies, als Information für die SpezialistInnen, durch die Faktorenanalyse. Ihr Ergebnisse ist, dass sie sagt, wie nahe eine Gemeinde der ersten, zweiten, etc. Dimension nahe kommt.

Politgeograf Michael Hermann ist seit 10 Jahren der Meister dieser Analyse. Mit seinem Atlas der politischen Landschaften der Schweiz schlug er drei themenübergreifende Dimensionen vor: den links/rechts-Gegensatz, die Polarität zwischen konservativer und liberaler Weltanschauung und den Gegensatz zwischen ökologischer und technokratischer Politik. Eingebürgert hat sich seither, mindestens die beiden ersten Dimensionen zu verwenden, um das politische Profil einer Gemeinde zu bestimmen.

Gemäss heutige Publikation ist Biel/Bienne im Kanton Bern die linkestes Gemeinde der Schweiz. Uitikon im Kanton Zürich ist die rechteste, Ennetbaden die progessivste und Muotathal die konservativste. Im Detail liessen sich weitere Gemeinden finden, wobei die Urteile etwas zufällig würden, weshalb die Raitings nur Gemeinden mit mehr als 2000 EinwohnerInnen berücksichtigten. Was analytisch ausgesprochen nützlich ist, hat eine Schwäche: die Bezeichnung der Pole ist eine Wertung des Unterschungsleiters, nicht des Rechners. Da schwankt auch Hermann: früher sprach er von liberal als Gegensatz zu konservativ, heute von progressiv-liberal als das Umgekehrte von konservativ. Andere wiederum denken, das Gegenteil von konservativ sei modern.

Die raumbezogenen Gegensätze
Interessant finde ich die neue Geografie der Schweiz, weil sie die Wanderungen der Gemeinden im beschriebenen Fadenkreuz aufzeigt. Verglichen wurden dabei die Zeiträume 1990 bis 1993 einerseits und 2010 bis heute anderseits.

Ergebnis: Keine Gemeinde (mit mehr als 2000 EinwohnerInnen) ist innert 20 Jahren soweit nach links gerückt wie die Stadt Bern, keine soweit nach rechts wie Wollerau im Kanton Schwyz, keine so konservativ geworden wie Nürensdorf im Kanton Zürich und keine so progressiv geworden wie, gleich nochmals, die Stadt Bern.

Spannender noch als diese Extreme sind die Veränderungen der Gemeindetypen, denn nur die lassen verallgemeinerte Schlüsse über Stadt/Land-Gegensatz zu (siehe Grafik). Da legt die Auswertung von Politgeograf Hermann nahe, dass die Gemeinden im ländlichen Raum ihren Standort kaum verändert haben; sie können aufgrund ihres Abstimmungsverhaltens insgesamt als rechts-konservativ bezeichnet werden. Die Charakterisierung gilt auch für Kleinstädte und deren Agglomerationen, wenn auch etwas eingeschränkt. Ganz anders positioniert sind die mittelgrossen und grossen Kernstädte und ihre Umländer. Mittelstädte sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Schnitt nach links gerückt und etwas progressiver geworden, während die Grossstädte sich nur wenig nach links bewegt haben, aber deutlicher progressiver geworden sind. Klar Gegenbewegungen finden sich in dem Agglomeration der grossen und mittleren Städte. Sie sind seit der EWR-Entscheidung 1992 zuerst nach rechts gerückt, in den letzten 10 Jahren konservativer geworden. Je reicher sie sind, um so klarer fällt diese Veränderung aus.

Die Dynamik legt nahe, dass ein Gegensatz grösser, einer auch kleiner geworden ist. Gewachsen ist der Stadt/Land-Graben, vor allem weil die grossen und mittleren Zentren aussenorientierter geworden sind. Damit haben sie sich von den Landgemeinden entfernt, die sich kaum bewegt haben. Doch das ist nur die Hälfte des heutigen Stadt-Land-Gegensatzes. Denn den gibt es auch zwischen den Kernstädten und ihren Umländern. Hart ist die Polarität zwischen links-progressiven Zentren und begüterten Vororten, die mal rechtsliberal waren, heute zwischen rechtsliberal und rechtskonservativ stehen. Arbeitergemeinden stehen nicht so eindeutig rechts, doch sind sie konservativer geworden.

Noch etwas: Bei allem, was hier berichtet wurde, darf man eines nicht vergessen: Analysiert wurden hier nur die 1500 Gemeinden der deutschsprachigen Schweiz. Nicht berücksichtigt wurden die räumlichen Polarisierung in den lateinischen Landesteilen. Denn das hätte die Uebersicht nochmals deutlich kompliziert.

Die Folgerung für meine FollowerInnen

Was heisst das nun für meine Follower? Urs Wyder, der Basler Physiker mit konservativer Grundhaltung, stimmt in seiner Wohngemeinde wohl meist mit der unterliegenden Minderheit. Denn mit dem linksprogressiven mainstream hat er wohl nichts am Hut. Ganz anders Claudine Esseiva, die im Vorstand der Stadtberner FDP aktiv geworden ist. Mit ihrem progessiven Fiminismus lebt sie ganz im Trend. Gleiches gilt auch für die libaral-solziale Barbara Schmnid-Federer. Nun muss sich das noch für die beiden Frauen und ihre Parteien auszahlen; denn von der Offenheit in den grossen Städten hat in jüngster Zeit nicht die Rechte, auch nicht überall die Linke profitiert. Genutzt hat sie vor allem der GLP. Im ländlichen Raum, kleinen Zentren und in Arbeitergemeinden rund um grössere Städte gibt es dafür nur wenig Potenzial, in den mittleren und grossen Zentren jedoch schon, ebnenso in der reichen Vororten, namentlich bei Menschen, die weder linke noch rechte Parteien unterstützen mögen.

Und noch zu Urs Wyder: Der räumliche Gegensatz zwischen Bern und Unteriberg ist polit-kulturell gesprochen tatsächlich jener zwischen einer links-progressiv-liberalen Grundhaltung einerseits, einer rechts-konservativen anderseits. Was für Gemeinden zutrifft, muss aber nicht für jede(n) EinwohnerIn gelten. Allerdings, zum Rechtskonservativen der Landgemeinden und zum Linksprogressivliberalen der Kernstädte gibt es je einen weiteren Gegensatz: die rechtsliberalprogressive Position, an Eigentum und Offentheit gleichzeitig ausgerichtet. Denn Kernstädte wie Bern und Umländer wie Uitikon bewegen sich, bei Volksabstimmungen, ganz anders als das Land, für das Unteriberg in extremis steht!

Claude Longchamp