Die BDP-Wählerschaft wissenschaftlich durchleuchtet

Die neue Mitte als rationaler Protest gegen Leistungen und Politikstile der polarisierenden Parteien, aber auch als verändertes Teilnahmeverhalten bisheriger Nichtwähler, für die die alte Mitte nicht mehr überzeugt. Das ist die Quintessenz eines Forschungsseminars an der Uni Zürich zu den Nationalratswahlen 2011.

Unbenannt
Gut lachen: Martin Bäumle (glp.) und Hans-Ueli Grunder (BDP), die Präsidenten der Wahlsieger 2011

Die “neue Mitte” war das Thema der Erstanalysen zu den Nationalratswahlen 2011. BDP und GLP waren mit je 5 Prozent Wählenden-Anteile die eigentlichen Wahlsiegerinnen. Und das Zentrum, bestehend aus CVP, BDP und GLP schien in Griffweite, einen Gegenpol zu den polarisierenden Kräften in der Schweizer Parteienlandschaft bilden zu können.

Zwischenzeitlich weiss man es: Die Mitte ist parteipolitisch fragmentierter denn je; umso mehr interessiert, was aus den beiden neuen Parteien wird, nicht zuletzt, weil sie sich in den kantonalen Parlamentswahlen erneut empfehlen konnten. Genau dieser Fragestellung ist ein Forschungsseminar an der Uni Zürich nachgegangen. Unter der Leitung von Silja Häusermann, neue Professorin für Schweizer Politik, forschten junge Studierende ein Jahr lang. Die Selects-Daten boten die Grundlage, auf der sie Aussagen prüften, die man aus den Wahltheorien oder aus dem politischen Diskurs ableiten kann. Innovativ sind die Ergebnisse vor allem zur BDP, wie eine Präsentation der Resultate diese Woche am Institut für Politikwissenschaften zeigte.

Die wohl verbreitetste Auffassung zur BDP betrifft die Unterstützung von Bundesärtin Eveline Widmer-Schlumpf. Was entwicklungsgeschichtlich durchaus Sinn macht, muss aus Sicht der Wählenden nicht unbedingt stimmen, habe ich mein Wissen hierzu erweitert. Tobias Bolliger kommt in seiner Arbeit zum bisher nicht erwarteten Schluss, die Themenwahl sei bei der Entscheidung für die BDP mindestens so wichtig gewesen wie die Personenwahl. Das treffe insbesondere für die Migrationspolitik zu, bei der das nicht-xenophobe Angebot der neuen Partei auch konservativer Menschen überzeugt habe. Auf die Energie- und Umweltpolitik, im Gefolge des Atomunfalls in Fukushima für viele Gewählte der BDP eine vorrangiges Thema, liesse sich der Befund allerdings nicht übertragen. Gleich zwei Frauen haben sich mit der Frage beschäftigt, welche Grundüberzeugungen die BDP-Wählerschaft teilten. So unterschiedlich sie es ausführen, Anna Raschle und Chantal Schaller können beide unabhängig voneinander nachweisen, dass die Ablehnung von Christoph Blocher einerseits, das Vertrauen in die Institutionen der Schweiz anderseits die beiden zentralen Determinanten der BDP-Wahl seien.

Etwas gewagt fragte sich Carlo Bundi, ob die BDP das Elite-Pendant zur SVP sei. Immerhin, er kann nachweisen, dass die Bildungszusammensetzung beider Parteien ungleich ausfällt. Insbesondere bei sozio-kulturellen SpezialistInnen, beispielsweise bei AerztInnen und Angehörigen anderen liberalen Professionen bestehe eine Tendenz, die BDP vorzuziehen, nicht aber bei Bauersleuten. Mehr noch als das erhellt der zweite Hinweise die Sozialstruktur der neuen Partei: Die BDP ist mehrheitlich ein Phänomen der reformierten Wählenden. Das bestätigt auch Jonas Raeber, der jene Wählenden untersuchte, die sagten, sie könnten sich vorstellen sowohl BDP wie auch CVP zu wählen. Schliesslich gingen die KatholikInnen unter ihnen vermehrt zur CVP, die reformierten zur BDP. Auch das Geschlecht spielte eine Rolle: Frauen fühlten sich von der CVP mehr angezogen, während Männer die BDP eher bevorzugten.

Die wohl interessantes Analyse der “neuen Mitte” hat Jacqueline Büchi vorgelegt. Sie formulierte fünf Hypothesen, warum man 2011 zu einer neuen Partei stiess: Weil man kein Vetrauen in keine Partei mehr habe, weil man enttäuscht über die politischen Leistungen der 2007 gewählten Partei sei, weil man deren politischen Stil nicht mehr teile, weil eine Synthese aus Anforderungen der Wirtschaft und der Umwelt angestrebt werde oder weil man mit der alten Mitte nicht zufrieden gewesen sei. Ihre systematisch für GLP und BDP ermittelten Analysen fasst sie unter dem Stichwort der rationalen Protestwahl zusammenfassen: BDP- wie GLP Wählende zeigen keine überdurschschnittliche Politikverdrossenheit; sie handelten vielmehr durchaus vernünftig. Enttäuschte der alten Mitte stiessen zur einer der beiden, wenn sie erstmals (wieder) wählen gingen. Ablehnung von Leistungen oder Auftritt der bisherigen Partei motivierte vor allem Teile der GPS zur GLP zu wechseln, derweil dieses Phänomen bei SVP- oder FDP-Wählenden zu einem Switch zur BDP führten. Nur bei SP-Wählenden, die zur BDP wechselten, versagte ihre Theorie.

Spannend fand ich auch die Präsentationsart. Statt der üblichen Seminararbeiten mit powerpoint-Folien stellten die Studierenden ihre Fragestellungen, Theorien, Hypothesen, Daten, Analyseverfahren und Ergebnisse auf je einem A3 Poster vor, dass sie den interessierten Gästen mündlich ausführten. Das zwingt, so mein Eindruck, schneller zu klaren Aussagen zu kommen, was Sache ist und was nicht. Mindestens bei der BDP hatte ich den Eindruck mehr gelernt zu haben, als ich aus den bisherigen Berichten über die Selects-Daten entnehmen konnte. Das ist ein vielversprechender Anfang, dank präzisen Fragestellungen und modernen Analysemethoden mehr über den aktuellen Wandel des Parteiensystems in der Schweiz zu erfahren. Gratulation an alle, die das Wagnis eingegangen sind!

Claude Longchamp