Das auf Luft gebaute Ja


Eines sei gleich zu Beginn gesagt: Meine nachfolgende Kritik an der Berichterstattung zur resp. an der Umfrage von Marketagent.com zur “1:12 Initiative” heisst nicht, dass sie zwingend falsch ist. Ich mache die nachstehenden Ausführungen, weil bedeutende Elemente der Qualitätssicherung bei der Befragung ausgelassen wurden. Das darf nich sein und sollte sich nicht wiederholen.

Das Medienereignis
“Umfrage prognostiziert Mehrheit für 1:12 Initiative“, titelt die Online-Plattform des Tages-Anzeigers. Berichtet wird über eine Erhebung des österreichischen Instituts Margetagent.com, welche die “Schweiz am Sonntag” in ihrer heutigen Ausgabe veröffentlich hat. Da hiess es im Titel: „1:12 Initiative: Ja liegt in der Luft“.
Resultat: 55 Prozent sind für die 1:12 Initiative, 28 Prozent dagegen und 17 Prozent unentschieden. Signifikante Unterschiede gäbe es zwischen den Geschlechtern, dem Alter und den Sprachregionen, heisst es. Frauen, Rentner und Romand(e)s seien vermehrt dafür; Männer, Junge und Deutschschweizer weniger begeistert.

Die Datengrundlage
265 Kommentare löste die Publikation bis am Abend auf newsnet aus. Eine beachtliche Zahl! Weniger erbauend ist, dass die Befragung selber nur 475 Teilnehmende hatte. Realisiert wurde sie zwischen dem 3. und 10. Mai. Die Ergebnisse der auskunftswilligen Personen wurden in der Folge gewichtet, um nach Geschlecht, Alter, Bildungsniveau und Sprachregionen ein kleines Abbild der Schweizer Gesellschaft zu bekommen. Wie viele Personen in jeder Kategorie befragt wurden, erfährt man nirgends.
Ueberhaupt: Auf was sich die Prozentwerte beziehen, bleibt in allen journalistischen Publikationen des Tages verborgen: auf Teilnahmewillige, also diejenigen, die sich so verhalten würde, wie wenn eine Abstimmung wäre? – oder auf Stimmberechtigte, also ob bei Schweizer Volksabstimmungen sich jemals alle beteiligen würden? – Auf Nachfrage beim Erstautor des Artikels bestätigt dieser, die Zahlen würden sich auf die Stimmberechtigten beziehen. Das ist zwar besser als EinwohnerInnen, aber dennoch unzureichend. Ich wette: 100 Prozent wird die Beteiligung auch bei dieser Initiative nicht sein!

Der unstatthafte Trendvergleich
Trotzdem: In der Folge wird im Bericht der Schweiz am Sonntag ein Bezug gemacht zu einer früheren Umfrage in gleicher Sache, von einem anderen Institut und mit anderer Methode. Die Zustimmungsrate sei deshalb überraschend hoch, heisst es.
Die Initianten freut das Unwahrscheinliche: „Jajajajajaja“, twittert Initiativ-Mentor Cedric Wermuth, „1zu12 auf dem Vormarsch“. Wiederum kein Wort bei wem, und schon gar nicht, dass man beim Vergleich eine andere Basis berücksichtigt hat. Denn die beigezogene Isopublic-Umfrage bezog sich auf jene mit einer einigermassen vorhandenen Beteiligungsabsicht. Das ist, wie wenn man Birnen mit aepfeln vergleicht.

Die Qualitätssicherung
Um solche Missbräuche zu verhindern, hat sich der Verband Schweizer Marktforschungsinstitute VSMS 2012 eine verschärfte Satzung erlassen, welche die Qualitätssicherung bei veröffentlichten Umfragen regelt: Grundgesamtheit, Auswahlverfahren, Stichprobengrösse und Befragungszeitraum müssen bekannt sein. Und, Angaben zu Stimmabsichten sollen auf Teilnahmewilligen gemacht werden, heisst es im Reglement ferner.
Davon sind gemäss Briefing von Marketagent.com mindestens 2 nicht. Das alleine würde eigentlich heissen: Hände weg!
Ueberraschend ist der faux-pas nicht: Gross geworden ist das Unternehmen aus der Wiener Neustadt in Oesterreich, wo publizierte Umfragen zu Wahlen in der vorgelegten Machart verbreitet sind, aber auch häufig kritisiert werden. In der Schweiz unterhält man seit einigen Jahren eine Zweigstelle. Die hiesigen Richtlinien in der Schweiz interessieren jedoch nicht. Da muss der Schweizer Branchenverband aktiv werden.

Marketing oder Information?
Es bleibt der Verdacht: Da hat sich ein Aussenseiter ins Spiel gebracht, um Aufmerksamkeit zu erheischen; und Schweiz am Sonntag liess sich von dieser Marketingaktion instrumentalisieren.
Aus methodischer Sicht ist an der Umfrage dreierlei fragwürdig: Die Befragtenzahl, die klar unter den minimal geforderten 1000 liegt; die intransparente Gewichtung, die namentlich bezüglich des Alters von Belang ist, denn bei Online-Erhebungen fehlen RentnerInnen in genügender Zahl, und die Trendaussage, die auf einem Birnen-Apfel-Vergleich basiert, was nicht statthaft ist.
Wer sich länger mit Abstimmungsbefragungen beschäftigt hat, weiss zudem: Initiativen beginnen im Befragungen fast immer besser, als sie enden. 10 Prozent Meinungswandel im Ja-Anteil ist üblich. Das hat man dank seriöser Umfragen gelernt, die auch zeigen warum: Denn mit der Meinungsbildung ändert sich die Perspektive auf eine Initiative. Vor einer Kampagne ist sie problemorientiert, bei der Abstimmung indessen auf die Folgen ausgerichtet; beides muss nicht gleich sein.

Der Ausblick: Was kommen kann
Ueber solche Fragen zu berichten, hätte aber die Publikationsabsicht zerstört, denn die Umfrage legte – so sie stimmt – richtig eingeordnet eher ein Nein als ein Ja zur 1:12 Initiative nahe.
Der erwartbare Meinungswandel bleibt übrigens aus, wenn der Problemdruck hoch ist, die Initiative keine Fallstricke kennt, keine Ueberraschungsmomente kurz vor der Entscheidung die Zustimmung stützen und die Nein-Seite keine schlechte Kampagne macht. Die beiden letzten Punkte kann man gar nicht prognostizieren. Schwachstelle der Initiative dürfte sein, dass sie von ganz links kommt und damit für Mitte- und Rechtswählende kaum Unterstützung erhalten dürfte. Offen ist eigentlich nur, wie gross der Problemdruck seitens der BürgerInnen eingestuft wird. Dazu wäre eine umfassende, unvoreingenommen konzipierte und methodisch gut gemachte Umfrage durchaus sinnvoll.

Claude Longchamp