Wie das Schweizer Konkordanzsystem effektiv funktioniert

“Wer regiert die Schweiz?”, ist eine der beliebtesten Fragen in Wissenschaft und Publizisitik. Eine variable Allianz die sich namentlich bei offenen vorparlamentarischen Prozessen, aber auch angesichts der Europäisierung der Schweizer Politik aus unterschiedlichen Akteure aus dem Mitte/Rechts resp, Mitte/Links-Spektrum zusammenfindet, ist die Antwort einer jüngst erschienen Genfer Dissertation.

Machtteilung und Kompromissfindung sind wohl die berühmtesten Stichworte, wenn es gilt, das politische System der Schweiz zu umschreiben. Konsensdemokratie, der dritte Begriff im Bund, ist bis heute in der politikwissenschaftlichen Literatur geläufig, wenn man theoretisch über unser Land spricht.

11 Fallstudien als Basis
Und wenn man genauer hinschaut, wie es Manuel Fischer in seiner jüngst erschienen Doktorarbeit gemacht hat? 11 Fallstudien, die wichtigsten Sachfragen zwischen 2001 und 2006 betreffend, hat er mittels Interviews bei Handelnden, Berichterstattenden und AnalytikerInnen dokumentiert und mit Netzwerkanalysen seziert, um zum Schluss zu kommen, dass gerade eine der untersuchten Entscheidungen dem besagten Ideal entspricht. Fünf scheinen widersprechen ihm offensichtlich, weitere fünf bestätigen die Theorie teilweise, widersprechen ihr aber auch ebenso.

Dennoch zieht Fischer einen erstaunlich positiven Schluss über die Funktionsweise der Konkordanzdemokratie in der Schweiz. Kritisiert wird auch bei ihm der Mangel an Innovation, gelobt wird dagegen die anhaltende Fähigkeit zur Integration. Das Referendum, die Vielzahl an Minderheitsparteien, die historische Erfahrung mit der Vermittlung zwischen kulturell gespaltenen Teilgesellschaften nennt er als Gründe, warum angelsächsische Vorstellungen der Demokratie mit klar geteilten Aufgaben zwischen Regierung und Opposition hierzulande versagen würden.

Typologie der Entscheidungsstrukturen
Seine eigens für die Dissertation entwickelte Typologie der Entscheidungsstrukturen unterschiedet zwischen Machtverteilung einerseits, Akteurskonstellationen anderseits. Ist die Macht in einer Entscheidung verteilt und wird zwischen den Akteursallianzen vermittelt, spricht er von Muster des Kompromisses. Bilden sich dagegen Koalitionen, zwischen denen polarisiert wird, nennt er den Entscheidungsstil den der Dominanz. Dazwischen figurieren die Konkurrenz und der Konsens. bei denen es entweder verteilte Macht, aber keine Annäherung der Akteure gibt, oder aber eine vorherrschende Koalition existiert, die von der Minderheit nicht bekämpft wird.


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In den 11 Fallstudien ist die Dominanz eine Koalition als Entscheidungsstruktur am häufigsten. Das war beispielsweise der Fall, als es um den Neuen Finanzausgleich, um das Entlastungsprogramm 2003, das Ausländergesetz, die Erweiterung der Personenfreizügigkeit und um den Beitritt zu den Abkommen von Schengen/Dublin ging. In allen Fällen etablierte sich im Verlauf des Prozesses eine Gruppe mit ähnlichen Präferenz und hoher Interaktion rund um einen Lösungsvorschlag, der so mehrheitsfähig wurde und auch gegen Minderheiten bis hin zur Referendumsabstimmung durchgesetzt werden konnte.

Wer regiert die Schweiz?
Die fünf Fälle sind es denn auch, die Fischer aufgreift, um die Frage zu beantworten, wer die Schweiz heute regiere. In allen fünf Fällen waren Bundesbehörden, das parteipolitische Zentrum, bisweilen von der Wirtschaft geführt in der Mehrheitskoalition vereint. Doch hätte das nicht gereicht, wenn es nciht zu einer relevanten Ausdehnung gekommen wäre. Bei den beiden Europa-Entscheidungen war das die Linke, bei den anderen Vorlagen die Rechte.

EU-Fragen, Infrastrukturthemen, insbesondere im Verkehrsbereich und Bildungspolitik sind denn auch die Bereiche, in denen gemäss Fischer eine Allianz aus Mitte/Links die Schweiz führt, derweil in Finanz- und Migrationsfragen eine aus Mitte/Rechts das tut. Ausgesprochen konfliktreich sind dabei die EU-Fragen, denn hier kommt es in der Regel zu Volksabstimmungen, bei denen sich die SVP als Opposition profilieren will. In anderen Fällen scheint ihr das wenig wichtig zu sein, selbst wenn sie nicht Teil der Koalition war, welche die Gesetzesarbeit bestimmte.

Opposition von links gibt es nach Fischer vor allem dann, wenn die Macht zwischen Koalitionen einigermassen gleichmässig verteilt ist. In Fischers Untersuchung war das beim Kernenergiegesetz der Fall, aber auch bei der 11. AHV-Revision. Bei letzterem kam es schliesslich zu einer Referendumsabstimmung, mit der die Gesetzesarbeit der Behörden schliesslich aufgehoben wurde.

Weiterführung der Pionierarbeit aus dem Jahre 1980

1980 legte Hanspeter Kriesi erstmals ein Standardwerk zu Entscheidungsstrukturen und Entscheidungsprozessen in der Schweizer Demokratie vor, das sich ebenfalls mit der Netzwerkanalyse der Sache näherte. Fischer nimmt auf diese Pionierarbeit ausdrücklich Bezug, nicht ohne die Unterschiede zu betonen. Denn in den 70er Jahren dominierten die sozio-ökonomischen Verteilungsfragen, welche meist eine Polarisierung mit bürgerlicher Mehrheit und linker Minderheit hervorbrachten.

Das hat sich zwischenzeitlich gründlich geändert, denn Fischer spricht sich klar für eine Dreiteilung der Akteurslandschaft aus. Hauptgründe für diese Veränderungen arbeitet er zwei heraus: ein geöffnetes vorparlamentarisches Verfahren und die Europäisierung der Schweizer Politik. Beides habe nicht einfach ein neues System hervorgebracht, wie machen meinten, aber die Entscheidungsstrukturen verändert. Denn als Folge beider Wirkkräfte kann der Autor zeigen, dass eine Koalitionsbildung befördert werde, deren parteipolitische Zusammensetzung durch die Themenstellung bestimmt sei. Denn die Oeffnung von Entscheidung bevor sich Regierung und Parlament festlegten, erlaube es, Netzwerke mit gemeinsamen Präferenzen zu identifizieren und sie gezielt zu organisieren, um die eigenen Durchschlagskraft zu verbessern. Bei der Europäisierung führt der meist geringen Handlungsspielraum der Schweiz dazu, dass sich die Kräfte zusammenfinden, die konsequent für die Bilateralen sind, derweil die anderen in die Sachopposition wechselten.

Meine Würdigung
Die Untersuchung, 2012 beim Politikwissenschafter Pascal Sciarini von der Uni Genf angenommen, erhielt diesen Januar 2013 den Preis für die beste politikwissenschaftlichen Dissertation, die im Vorjahr an einer Schweizer verfasst worden war. Die Stringenz der Analyse, die sich auch in einer vorteilhaften sprachlichen Darstellung wiederfindet, berechtigt die Auszeichnung durchaus. Nicht alles, was aufgezeigt wird, ist allerdings neu; zahlreiche quantifizierende Untersuchungen über Mehrheitsbildung namentlich im Parlament legen seit einigen Jahren nahe, was jetzt anhand schwergewichtiger Entscheidungen klar ersichtlich belegt worden.

Der eigentliche Wert der Arbeit kommt vor allem in der gelungenen Einbettung empirischer Ergebnisse in die Theoriebildung zum Ausdruck. Diese erweitert unser Verständnis von Konkordanzdemokratien, mindestens, das für das Beispiel der Schweiz. Bezogen auf die Mehrheitsbildung von Fall zu Fall ist man nach der Lektüre der Arbeit mit aktuellen Beispiele ausgerüstet und von der Vorstellung geheilt, in der Schweiz gebe es ein Demokratiemuster mit einer Entscheidungsstruktur. Vielmehr lernt man bei Fischer, dass es auch heute ein erstaunlich gut funktionierendes System gibt.

Zwar sieht auch Forscher Fischer in den Veränderungen im Parteien- und Mediensystem Gründe für eine wachsenden Konflikthaftigkeit der Schweiz Politik. Anders als Skeptiker ist das für ihn aber kein Grund, vom Ende der Konkordanz zu reden. Vielmehr ortet der Optimist gerade darin neue Chancen der flexiblen Problembewältigung mit Pendelausschläge von Mitte/Rechts bis Mitte/Links.

Realistischerweise wird man etwa nach der gescheiterten Gesundheitsreform „Managed Care“ oder dem Gegenvorschlag zur Abzocker-Initiative nachhacken und sich die Frage stellen müssen, ob die zwischenzeitlich noch mehr relativierte Stärke von CVP, FDP und Economiesuisse, dem Kern der Entscheidungsstruktur, auch zu Null-Entscheidung durch unheilige Allianzen spätestens bei Volksabstimmungen führen müsse. Sollte sich dieser neue Befunde aus der Praxis verallgemeinern, müsste man die wissenschaftliche Analyse der Entscheidungsstrukturen in der Schweizer Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts bald neu schreiben. Bis dahin ist dem Grundlagenwerk zur Gegenwartspolitik der Schweiz zu wünschen, dass es in vielen Kursen als Lehrbuch eingesetzt und bald schon neu aufgelegt werden muss.

Claude Longchamp