Die 20. Volksinitiative, die angenommen wurde – ein Kommentar zu den möglichen Gründen

Es brauchte gut 100 Jahre, bis die ersten 10 Volksinitiativen Verfassungsrealität wurden. Die nächsten 10 Zustimmungen kamen in weniger als 20 Jahren zusammen. Das ist eine bemerkenswerte, fast schon exponentielle Beschleunigung der Erfolge von Volksinitiativen. Eine Spurensuche der Ursachen.

Das Initiativerecht des Volkes wurde in der Schweiz 1891 eingeführt, um die Bundesverfassung nicht nur von oben bestimmen, sondern von unten ändern zu können. Seither sind sehr viele Volksinitiativen gescheitert, aber auch 20 mit Volks- und Ständemehr angenommen geworden. Eine Spurensuche der Erfolgsursachen.

Zwei institutionelle Reformen standen bisher auf dem Podium der populärsten Volksinitiativen, und ein Geschenk, dass sich die SchweizerInnen selber machten. Konkret: Der arbeitsfreie Bundesfeiertag am 1. August kam 1993 mit mehr als 84 Prozent Zustimmung durch. Aehnlich erfolgreich waren die Erweiterung des Referendumsrechts auf Staatsverträge (71 Prozent 1921) und die Einführung des Proporzwahlrechts für den Nationalrat (67 Prozent 1918).

Neu hat die Abzocker-Initiative von Ständerat Thomas Minder den dritten Rang inne, denn 67,9 Prozent stimmten seinem Vorstoss für die Stärkung der Aktionärsdemokratie heute zu. Die Frage sei erlaubt: Leben wir in einer Krisensituation, wie am Ende des 1. Weltkrieges?

Zum Glück erleben wir heute keinen Abend eines verheerenden Weltkriegs. Aber wir sind mitten in einer turbulenten Umbruchszeit von geschlossenen Nationalstaaten und global ausgerichteten Gesellschaften, die Verdruss erzeugt, was dabei alles passiert, und Unsicherheit weckt, wie es mit der Schweiz weiter gehen.

Das Ja zur Verwahrungsinitiative für Sexual- und Gewaltverbrecher (2004), zur Unverjährbarkeitsinitiative für pornografische Straftaten (2006) sprechen für ungelöste Probleme in den genannten Umständen. Sie haben das Klima entstehen lassen, in denen die BürgerInnen ein Zeichen setzen wollen, wie beim Ja zur gentechfreien Landwirtschaft (2006), zum Bauverbot für Minarette (2009), zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen (2010) und zur Limitierung des Zweitwohnungsbaus (2010).

Drei Gemeinsamkeiten haben diese Erfolgsbeispiele für Volksinitiative in der Gegenwart: Genauso wie die Abzocker-Initiative griffen sie eine weit verbreitetes Bevölkerungsproblem auf, dem sie mit dem Volksrecht Einhalt gebieten wollen. Egal, wer die Trägerschaft ist, sie alle fanden partei- und lagerüberfreifend Zustimmung, weil die Behörden das Problem verkannten oder ungenügend regelten. Und, sie alle sprachen die BürgerInnen direkt an, nicht vermittelt über Verbände oder Parteien, die im Parlament gut vertreten oder verankert sind. Heute machen mit den Möglichkeiten der Volksinitiative BürgerInnen für BürgerInnen Politik.

Die Behörden tun gut daran, ihre Ohren neu auszurichten, wenn sie Volksinitiativen beurteilen. Denn sie haben das vormals treffliche Augenmass verloren, was Minder- und was Mehrheitsanliegen sind. Auch in der Mittelwahl gegen erfolgversprechende Initiative gibt es kein Rezept mehr: Weder indirekte, noch direkte Gegenvorschläge sind eine sichere Waffe, um Mehrheiten zu spalten. Und auch die Kampagnenkommunikation mit BundesrätInnen an der Spitze, Verbänden und Parteien im Rücken tragen nicht mehr im gewohnten Masse, wie die Gegner der Abzocker-Initiative rund um economiesuisse heute exemplarisch erfahren musste.

Die Initiatenten haben eine gute Weile experimentiert; heute treten sie mit bunten Rezepten auf, wenn sie ihre Anliegen vortragen: Die einen setzen ganz aufs ungelöste Thema, die anderen vermitteln mit starken Fahnenträgern. Sie leichtfertig zu negieren oder politisch zu diskreditieren, hat sich als fatal erwiesen. Denn wenn die Sache gravieren genug ist, prallt die personalisierte Kritik ganz einfach ab. Mehr noch, die neuen PolitikerInnen aus dem Volk avancieren zu den massgeblichen Kampagnekommunikatoren.

Bisher kamen bei Volk und Ständen vor allem Volksinitiativen durch, die Ueberfremdungsgefühle ansprechen konnten. Hinzufügen musste man jüngst auch ökologische Anliegen. Und seit heute können sogar wirtschaftspolitische Forderungen mit mehrheitlichem Sukkurs aus dem Volk rechnen. Das ist nicht nur eine Erweiterung der Problempalette. Es hat mit ökonomischen Fragen eine Schwelle erreicht, von der man bisher glaubte, sie sei in der Schweiz sakrosankt.

Der heutige Sonntag lehrt, dass es in den bewegten Zeiten der Gegenwart keine Tabus mehr gibt. Die Konkordanzdemokratie, fein austariert zwischen Behörden, Verbänden und Parteien, ist mächtig in Bewegung geraten. Sie wird getrieben von BürgerInnen, welche verdrängte Themen aufgreifen, ihre Lösungen mit Volksinitiativen geschickt umsetzen und von einer Mehrheit anderer BürgerInnen dafür belohnt werden, dass sie Orientierungen anbieten, wie sich die Schweiz von Problemen befreien kann, um sich selber neu zu orientieren, wenn die Politik versagt.

Claude Longchamp