Wahlforschung in Theorie und Praxis (2): Die Grillini in der politikwissenschaftlichen Analyse

Beppe Grillo ist der neue Star und Schreck der italienischen Politik zugleich, denn der Populist weiss einen Viertel der Wählenden hinter sich und schränkt mit seinen Positionen die Regierungsbildung entscheidend ein. Der italienische Politikwissenschafter Giovanni Sartori hat vor 35 Jahren ein Instrumentarium entwickelt, um die Kennzeichen solcher Wahlergebnisse wissenschaftlich umreissen zu können.

Giovanni Sartoris Idee war es, den parteipolitischen Pluralismus, der beim Uebergang vom Zwei- zum Mehrparteiensystem entsteht, einschätzen zu lernen. Denn anders als in Zweiparteiensystemen mit in der Regel klarem Wahlsieger, können Wahlen in Mehrparteiensystemen zu Regierungsbildungen führen, die von geregelt bis ungeregelt ablaufen. Konkret differenzierte der italienische Experte zwischen gemässigtem, polarisiertem und segmentiertem Pluralismus. Ersteres liegt dann vor, wenn ein Mehrparteiensystem Parteien mit ungleicher Stärke, aber geringer ideologischer Spaltungen kennt; zweiteres wird durch weltanschauliche Distanzen zwischen den relevanten Parteien definiert, und vom dritten Typ kann man dann sprechen, wenn relevante Parteien eine Regierungsbildung mit anderen Gruppierungen ausschliessen. Im ersten Fall ist Regierungsbildung normalerweise ohne Probleme möglich, im zweiten ist sie erschwert, im dritten wird sie verunmöglicht.


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Die Lage in Italien
Ohne Zweifel, Italiens Parteiensystem der Gegenwart ist pluralistisch, ja pluralistischer geworden Drei Parteien-Bündnisse, eine weitere Einzelpartei Partei und drei Regionallisten schafften den Einzug in Kammer und Senat. Zwischen 1994 und 2013 dominierten zwei Bündnisse, das Rechte und das Linke, die sich in der Regierung abwechselten. Seit Neuestem funktioniert das nicht mehr, um gesichert regieren zu können. Hauptgrund ist die 5-Sterne-Bewegung des Politkomikers Beppe Grillo. Denn seine gut 25 Prozent Wählende will er in keine Regierungskoalition einbringen, und auch keine Minderheitsregierung will er auf Dauer dulden. Einzig Uebereinstimmungen in der Sache lässt er mit links und rechts zu, wenn es dem Volk diene.


Beppe Grillo, Chef des Movimento5stelle

Der ausdrückliche Bezug auf das ungeteilte Volk ist typisch für Populisten aller Art. Dazu gehört, dass die neue politische Partei kein entwickeltes Programm vorgelegt hat. Versprochen hat siee, ein Grundeinkommen für alle einzuführen. Zudem will sie sich für ein Referendum einsetzen, mit dem man über den Verbleib Italiens in der Euro-Zone entscheiden will. Seit der Wahl lässt man durchblicken, die Schulden nicht abbezahlen zu wollen, da der jetzige Staat sowieso zusammenkrachen werde.
Ein solches Programm ist nicht ohne Grund: Die Wirtschaftsleitungen Italiens sind klar rückläufig. Die Märkte haben die Regierung Berlusconi ausgehebelt, und die EU führte die Regierung Monti. Denn mit der Entwicklung der drittgrössten Wirtschaft innerhalb der Europäischen Union steht auch die Zukunft des Euros auf dem Spiel. Erschwert werden die institutionellen Reformen in Italien durch ein Parteiensystem, das ausgeprägt dem folgte, was die Politikwissenschafter Richard Katz und Peter Mair “Kartellparteien” genannt haben: politische Gruppierungen, die als Kompensation für ihre verringerte gesellschaftliche Verankerung in erhöhtem Masse vom Staat leben, mit der Folge, dass die Habenden Nichthabende ausgrenzen, derweil die Konsequenzen von Sieg und Niederlage bei Wahlen verringert sind, denn staatliche Unterstützung wird ganz unabhängig davon gewährleistet. Genau dagegen wehren sich die „Grillini“, beispielsweise mit ihrer Forderung, mit einer schnellen Wahlrechtsreform die Zahl der ParlamentarierInnen zu senken.
Dafür das Anhalten des innenpolitischen Drucks auf die kommende Regierung sorgt Beppe Grillo selber. Für ein Parlamentsamt hat sich schon gar nicht beworben. Er zieht es vor, wortgewaltig ausserparlamentarisch Bewegungen auszulösen oder zu stoppen; beispielsweise mit seinen Tiraden auf den Staat, die Institutionen und die Mitbewerber in der Politik, lanciert oder unterstützt via Twitter, wo er auf eine Million Follower zählen kann! Diese neuartigen “Parteiengemeinschaft” vermittelt er erfolgreich das Gefühl, Teil der relevanten Arena der italienischen Politik zu sein.

Nach Giovanni Sartori erfüllt der gegenwärtige Parteienwettbewerb in Italien wichtige Bedingungen, dass das Parteiensystem heute nicht mehr nur extrem fragmentiert ist, und es auch nicht nur durch eine starke Polarisierung prägt wird, sondern eigentliche Antisystemparteien Wahlerfolge feiern. Diese segmentieren die parteipolitische Landschaft so, dass Mehrheitsbildungen und damit Regierungsfähigkeit weitgehend ausgeschlossen werden. Statt stabile Verhältnisse zu gewährleisten, wie es die Theorie vorsehen würde, befördert die Praxis entsprechender Wahlen die Instabilität. Und so zeichnet sich immer deutlicher ein Szenario ab: Pier Luigi Bersani bildet eine Minderheitsregierung, welche die Regierung Monti ablöst, ein Jahr lang ein Notprogramm realisiert, zudem auch ein neues Wahlrecht gehört, auf dessen Basis spätestens 2014 ein gänzlich erneuertes Parlament gewählt wird.

Der Vergleich zur Schweiz

Um mit dem Instrumentarium der Parteisystemanalyse umgehen zu lernen, habe ich meine Studierenden in der gestrigen Vorlesung gebeten, die Schweizer Parteienlandschaft nach den Wahlen 2011 zu beurteilen. Es lag auf der Hand, dass wir keine italienischen Verhältnisse hatten. Zwar ist die Regierungsbildung auch hierzulande etwas erschwert, aber nicht verunmöglicht. Gelegentlich finden sich Spuren der besagten Segmentierung, beispielsweise 2007, als die Grünen den möglichen Eintritt in den Bundesrat mit dem Ausschluss der SVP zu verbinden suchten; oder wenn die SVP, wie 2011 geschehen, damit droht, die Regierungsbildung unter Ausschluss der Linken selber an die Hand nehmen zu wollen, sollte die Mehrheit des Parlaments ihre Wunschkandidaten für den Bundesrat nicht berüchsichtigen. Allerdings, anders als die 5-Sterne können weder die SVP, noch die Grünen die Bildung einer Regierung sperren.


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Typisch für das heutige Parteiensystem der Schweiz ist indessen die Polarisierung geworden. Seit den 90er Jahren haben angesichts neuer Konflikte die weltanschaulichen Differenzen zwischen den Parteien an Bedeutung gewonnen. Wie zahlreiche Studien der letzten Jahre zu WählerInnen-Präferenzen, Parteiprogrammen, Kandidatenpositionen und Fraktionsverhalten belegen, ist die ideologische Distanz insbesondere zwischen der SVP auf der einen, der SP und der GPS auf der anderen Seite gewachsen. Verringert haben sich damit die Gemeinsamkeiten der Bundesratsparteien, wobei FDP und CVP, die sich sachlich noch am nächsten stehen, gemeinsame Positionen im Nationalrat nicht ohne weiteren Partner durchbringen können. Anders als in Italien hat die Schweiz nicht eine blockierende Mitte, sondern eine blockerte.


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Etwas veränderlich ist die Zahl der effektiven Parteien, wie Sartori das Produkt aus Parlamentsparteien und ihrer Wählerstärke nannte. 1991 erreichte unser Parteiensystem den bisherigen Höchstwert an Fragmentierung, der sich angesichts der Konzentrationsbewegungen rund um die SVP vorübergehend verringerte, mit dem Entstehen von GLP und BDP jedoch wieder etwas erhöhte. Unabhängig davon, die Fraktionalisierung des schweizerischen Parteiensystems ist, gerade auch im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hoch.

Auch in meiner Analyse passen diese Befunde zum polarisierten Pluralismus. Ich weiss, dass nicht alle Schweizer PolitikwissenschafterInnen das so akzentuiert sehen. Meines Erachtens ist es aber genau das, was auch Wahlforschung hierzulande spannend macht: Die Differenz beispielsweise bei Wahlen zu bestimmen, die entsteht, weil wir ein politisches System haben, das auf Machtteilung angelegt ist und bleibt, derweil für das Parteiensystem Machtkonzentrationen typischer geworden sind, die zur Konkordanz nicht wirklich passen wollen.

Claude Longchamp