Wahlforschung in Theorie und Praxis (1): Analyse der Landtagswahl 2013 in Liechtenstein

Meiner erste Vorlesung “Wahlforschung in Theorie und Praxis” im Frühlingssemester an der Uni Zürich behandelte die jüngsten Wahlen in Liechtenstein. Was taugt Wahlforschung, auch wenn man keine Untersuchungen zu WählerInnen-Entscheidungen hat. Eine Kostprobe.

Das Ergebnis der Liechtensteiner Landtagswahl vom 3. Februar 2012 hallt wohl noch nach. Erstmals hat Liechtenstein vier politische Gruppierungen im Landtag; zur FBP, VU und FL sind die DU (“Die Unabhängigen”) hinzu gekommen. Wahlverluste gab es vor allem für die VU, aber auch für die FBP, derweil die DU abräumte, aber auch die FL zulegen konnte. Mit der Regierungsbildung ist die grösste Partei, diesmal die FBP, betraut. Nach Sondierungsgesprächen mit allen Gruppierungen strebt sie eine Koalition mit der VU an, um dem Land Stabilität zu gewähren, wie sie selber sagt.


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Quantitativ sind zwei Ergebnisse der Wahl von Belang: Liechtensteins Wahlgeschichte legt nahe, dass der Zyklus, während dem eine Partei die stärkste im Ländle ist, immer kürzer wird. Die VU hielt sich eben eine Legislatur in dieser Position, die FBP war das zuvor während zweier Amtsperioden, während frühere Konstellationen mindestens sechs Wahlen in Folge hielten. Man kann es auch so sagen: Mit dem EWR-Beitritt ist das Modell Liechtenstein in Bewegung geraten. Debatten um das Fürstenhaus und seine Stellung im Regierungssystem erschüttert widerkehrend das Ländle. Zudem verzeichnet der Volatilitätsindex, die Richterskala für politische Erdbeben, mit 17,6 einen bisher unbekannten Rekordwert. Auch das hat einen Hintergrund: Der Umbruch im Parteien im Parteiensystem Liechtensteins ist gegenwärtig so gross wie noch nie – die aktuelle Situation stellt die bisherigen Krisen in den Schatten.


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Politikwissenschaftlich kann man von einer Erosion der beiden grossen Volksparteien sprechen, wie man das aus anderen Ländern kennt. In der Schweiz hält der Trend seit Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts an: Symptomatisch dafür ist der Niedergang von FDP und CVP, dem vormals ruhenden Pol im schweizerischen Parteiensystem. Allgemein typisch für den Wandel ist, dass die Bindungsfähigkeit von Volksparteien, insbesondere in jüngeren Generationen nachlässt. Hauptgrund hierfür sie die veränderten Sozialisationsbedingungen in individualisierten Gesellschaft, aber auch der Funktionsverlust von traditionellen Parteien. Das eröffnet Spielräume für neuen Parteien, die ihrerseits die Dekomposition von Volksparteien vorantreiben.

In Liechtenstein begann das in den 80er Jahren mit dem Aufkommen der FL. Seit 1993 ist sie konstant im Landtag vertreten. Soziologisch gesprochen ist sie mit dem Wachstum neuer Mittelschichten und ihren veränderten Wertvorstellungen entstanden. Sich selber sehen sich die FL-Wählenden links der beiden grossen Parteien, ihre Wählerschaft ist mehrheitlich weiblich und überdurchschnittlich gut ausgebildet. Das hat Teile der Gesellschaft Liechtenstein von den vorherrschenden Parteien entfremdet.

Ob 2013 der zweite Schritt gemacht worden ist, muss man offen noch etwas lassen. Ein erster Schritt war die Landtagswahl ohne Zweifel, ob der entscheidende Schritt aber schon gemacht wurde, weiss gegenwärtig niemand. Das hängt zunächst mit der gewählten Mannschaft der DU selber zusammen. Denn die kann und will sich programmatisch nicht so schnell festlegen. Das aber erschwert WählerInnen-Bindungen über den Moment hinaus, und es macht die Bewegung nicht unbedingt allianzfähig, um bei Regierungsbildungen verbindlich mitreden zu können.

Meine These ist, dass die DU dann mittelfristigen Erfolg haben wir, wenn sie sich für eine Nischenpolitik rechts der beiden Volksparteien entscheidet. Ich meine damit nicht rechtspopulistisch, aber rechtsbürgerlich.

Eine Nischenpolitik führen heisst, im Auftritt nicht die Volksparteien kopieren zu wollen, aber auch nicht auf den vermeintlichen “Flugsand” zu setzen, der die FL begünstigen würde. Vielmehr heisst es, Interessenpolitik zu machen. Der Umbruch im Finanzplatz Liechtensteins, aber auch beim öffentlichen Budget im Ländle sowie bei den Pensionskassen dürften genügend Platz schaffen, um Interessen abzudecken, die von der Regierungsposition abweichen werden. Soziologisch gesehen sollte sich die DU als Partei der jüngsten Generation profilieren; und es würde nicht überraschen, wenn Wählerbefragungen in Zukunft zeigen werden, dass sie für Männer attraktiver ist als für Frauen, für gut gebildete eher als für normale BürgerInnen.


Quelle: Gabriel/Westle 2012
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Bis auf Weiteres gilt (auch) für Liechtenstein: Traditionelle Parteibindungen weichen sich auf: einmal, weil die bekannten Sozialisationsmechanismen bei Jungen nicht mehr im gewohnten Masse greifen, dann, weil neue Themenlagen die bisherigen Loyalitäten sprengen. Neuorientierungen, kann man vermuten, finden in oberen Bildungsschichten statt, in unteren nimmt die Parteiungebundenheit zu.

Genau deshalb würde ich heute nicht von einem eigentlichen “realignment” im Liechtensteiner Parteiensystem zu sprechen, von “dealignment” aber schon. “Dealignment” kann man dabei mit Erosion umschreiben, ein Phänomen, von dem aktuell die VU als vormalige Mehrheitspartei betroffen ist, das sich aber auch verallgemeinern kann. “Realignment” wiederum wäre Einbindung in neue oder erneuerte Parteien, und zwar auf Dauer. Dazu reicht das Angebot der DU noch nicht.

Deshalb war die jüngste Wahl trotz erheblicher Veränderungen wohl auch nicht “kritisch”, wie die Wahlforschung es nennen würde, wenn sich nachhaltig etwas ändert. Eine “converting election”, wie es Jürgen Falter vor Jahren definierte, war es jedoch schon. Wenn die Veränderung dennoch überdurchschnittlich gross war, hat das, nebst den aktuellen Themen, mit den Rücktritten in der Regierung auch mit der Sperrklausel von 8 Prozent zu tun. Eine solche verzögert die kontinuierlichen Anpassung des Parteiensystems und der Parteistärken an neue Gegebenheiten. Und wenn es dann dazu kommt, ist der Knall umso lauter.

Wie ich die Reaktionen der Studierenden während der Veranstaltung wahrgenommen habe, wie mir aber auch die nachträglichen Fragen, die mir gestellt wurden, zeigt, interessiert die Veranstaltung die 60 Teilnehmenden. Es war wohl mehr, als ein blutleeren Rahmenvortrag zum (gewissen) Wahltheorien – es war durchaus als angewandte Wahlanalyse gedacht, die man aus und für die Praxis macht.

Claude Longchamp