(zoon politicon) Arend Lijphart’s bahnbrechende Analyse von Demokratie-Muster habe ich hier ja schon gebührend vorgestellt. Seine Einteilung der Schweiz als extremer Fall einer Konsensdemokratie ist bei mir und ersten Kommentatoren nicht unbestritten geblieben. Jetzt liefert Adrian Vatter, seit Februar 2008 neuer Politologie-Professor an der Universität Zürich, eine empirisch gehaltvolle Re-Analyse von Lijphart’s Ueberlegungen, die zu einer vergleichbaren Relativierung gelangt.
Neue Zeit – neues Material
Wertvoll ist Vatters Studie, weil sie sich streng an der neue Konzept der international vergleichenden Demokratieforschung hält, dieses aber mit neuen Daten füllt, welche den Zeitraum 1997-2007 betreffen.
Das empirische Material bezieht Vatter aus 10 Veränderungen und Reformen, welche die Institutionenpolitik der Schweiz in den letzten Jahre bestimmt haben. Namentlich sind das
. die Wählergewinne der SVP,
. die Veränderungen im Wahlmodus für den Bundesrat und
. das erstmalige Eintreffen des Kantonsreferendums
als die zentralen Prozesse der Gegenwart, dann aber
. die Totalrevision der Bundesverfassung,
. die Bilateralen Abkommen I und II mit der EU,
. die Justizreform,
. der Beitritt der Schweiz zur UNO,
. die Reform der Volksrechte und
. der neue Finanzausgleich als die wichtigsten Reformen.
Bestehendes Konzept – veränderte Positionierung
Bezogen auf die Zeiträume, die Lijphart untersucht hatte (vor allem 1945-96, speziell aber auch 1971-96) bewertet Vatter seine neuen Beobachtungen nun wie folgt:
Erstens, das Verhältnis von Exekutive und Parteien, in der Schweiz typischerweise zugunsten der Regierungen geregelt, verändert sich in Richtung politische Parteien. Das gilt als Zeichen dafür, dass Wettbewerbs- gegenüber Verhandlungsmuster gestärkt wurden. Ins Gewicht fallen die Veränderungen im Wahlrecht, die Stärkung der Legislativen und der vermehrte Pluralismus unter den Interessengruppen, die alle in Richtung majoritärem Typ wirken.
Zweitens, das Verhältnis von Bund und Kantonen beurteilt Vatter insgesamt stabiler; die Veränderungen halten sich in Grenzen, bei der Suprematie Dritter über den Gesetzgebungsprozess entwickeln sich die Schweiz sogar eher in Richtung gemischter Strukturen.
Beides zusammen hat zur Folge, dass die Schweiz, auf der Landkarte der Demokratien weiterhin im Süden angesiedelt wird, das heisst ausgesprochen föderalistisch bleibt. Bezogen auf die Ost/West-Achse kommt jedoch eine Abbau der weltweit extremen West-Position hinzu.
Bewertungen für Theorie und Praxis
Vatter stellt sich die Frage, ob die Schweiz unverändert eine akzentuiert machtteilende Verhandlungsdemokratie sei oder nicht. Er beantwortet sie mit einem vorsichtigen “Nicht-mehr-ganz-so-stark”. Er spricht von einem zunehmenden Normalfall einer Verhandlungsdemokratie. Von einer Wettbewerbsdemokratie sei die Schweiz noch weit entfernt, die Extremposition bei der Konsenssuche sei aber aufgeweicht.
Das lässt Adrian Vatter auch einige Folgerungen zur aktuell laufenden Debatte ziehen: Aller Normalisierungstendenzen zum Trotz befinde sich die Schweiz im Demokratienvergleich immer noch klar auf der Seite der Konkordanz. Sie sei “noch weit entfernt” von einen Regierungs/Oppositionssystem, wie es von der SVP aufgrund ihrer inneren Befindlichkeit diagnostiere. Zudem gäbe es erhebliche “Hindernisse für einen Systemwechsel zu einem Konkorrenzsystem in der Schweizerischen Referendumsdemokratie.”
Offen ist aber für Vatter, wie die Schweiz mit den beiden unterschiedlichen Tendenzen umgehen wird: der Polarisierung innerhalb des Parteienlogik einerseits, der weitgehend Stabilität im Verhältnis von Bund und Kanton andererseits.
Weshalb ich die Lektüre empfehle
Was mir an der Studie besonders gefällt? Erstens ist sie knapp gehalten und ausgesprochen lesbar verfasst. Zweitens ist sie materialreich und dieses ist konsequent verarbeitet. Und drittens werden die Befunden, die in der Binnensicht der Schweiz gerne dramatisiert werden, durch das international vergleichende Vorgehen in das Licht gerückt, in das sie gehören.
Allein schon damit ist Adrian Vatter über Arend Lijpharts Grundlagenwerk hinaus gegangen. Dass es dabei zu Schlüssen zwischen politikwissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis kommt, ist für mich umso erfreulicher.
Claude Longchamp
Adrian Vatter: Vom Extremtyp zum Normalfall?, in: Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 14/2008, pp. 1 ff.
Ich finde, man sollte eines deuticher sagen: Vatter schreibt, die Schweiz entwickle sich vom Extrem- zum Sonderfall einer Konsensdemokratie, nicht etwa einer Demokratie!
Das heisst, die Schweiz bewegt sich in ihren Demokratievorstellungen kaum.
Lieber Claude,
freut mich natürlich, dass Du meinen SPSR-Artikel positiv einschätzest und auch für Deine Studis gebrauchen kannst.
Das ist im übrigen wohl die schnellste Rezension eines SPSR-Artikels!
Die von Dir – an anderer Stelle – erwähnten Kritikpunkte an Lijphart
teile ich auch: Der Begriff Konsens(us)demokratie ist stark normativ
besetzt und bringt natürlich auch Lijpharts klare Präferenz für diesen Demokratietyp zum Ausdruck. Leider hat sich bis heute keine der möglichen Alternativbegriffe wirklich durchgesetzt bzw. stehen zum Teil für zwar ähnliche, aber nicht ganz identische Demokratiekonzepte (Konkordanz-, Proporz-).
Die Verknüpfung der direkten Demokratie mit dem Konzept der Mehrheits- und Konsensusdemokratie ist in der Tat tricky. Ich habe mich damit vor gut zehn Jahren in einem PVS-Aufsatz (1997) beschäftigt. Meine Hauptthese: Direkte Demokratie kann nicht generell als majoritär oder konsensual betrachtet werden, vielmehr müssen die einzelnen Volksrechte nach ihren Wirkungen analysiert werden: top
down-Instrumente wie obligatorische Referenden und insbesondere ad
hoc-referenden (Plebisizite) stärken demnach eher die Stellung der
Regierung und sind in dem Sinne majoritär, bottom-up-Instrumente wie
fakultative Referenden und Volksinitiativen schwächen hingegen eher
die Regierungen und geben das agenda setting zumindest teilweise
weiteren Akteuren in die Hand (d.h. machtteilend im Sinne von
Konsensusdemokratien). Das oligatorische Referendum lässt isch
allerdings nicht ganz zweifelsfrei zuordnen. Anhand eines
internationalen Vergleichs versuche ich z.Z. aufzuzeigen, dass sich
diese theoretischen Zusammenhänge auch empirisch abbilden lassen.
Zumindest in groben Zügen trifft dies auch zu. Ich halte Dich gerne
auf den Laufenden…
Liebe Grüsse und ein schönes Frühlingswochenende
Adrian
lieber adrian
danke, das ist eben bloggen, schneller als der wind …!
schöne zeit in züri
claude
[…] Kulturen sind nicht statisch. Ihre allgemeine Dynamik wird durch wichtige Entscheidungen bestimmt. Die Akteure, die sich dabei äussern, verändern die […]