Programme, Identifikation, Klienten – was Herbert Kitschelt an der Partei/Wähler-Beziehung er- forschen würde, wenn er in Zürich Professor wäre

Zürich, Universität, Hauptgebäude, Hörsaal 217. Es spricht Professor Herbert Kitschelt, bevorzugter Nachfolger von Hanspeter Kriesi auf dem Lehrstuhl für vergleichende Politik.

Herbert Kitschelts Karriere begann in Bielefeld, wo er 1979 in Soziologie doktorierte. Bald danach stieg er an der Duke University auf, bis hin zum Georg V. Allan Professor in Internationalen Beziehungen. Auf dem Weg dazu hat Parteien in Westeuropa studiert, vor allem die grünen und die rechtsextremen. Er hat sich vertieft mit den neuen Parteiensystemen in Osteuropa beschäftigt, zum Beispiel mit dem Nationalkonservatismus, und aktuell widmet er sich in seinen Publikation vor allem den lateinamerikanischen Parteien.

Sein Probevortrag an der Zürcher Uni geriet zur eigentlichen Programmentwicklung über Aensätze der Steuerbarkeit von Demokratien. Seine Grundfrage lautete: Was können Parteien WählerInnen typischerweise anbieten, um (dauerhaft) von ihnen gewählt zu werden.

Mitten im 20. Jahrhundert schlug Anthony Downs vor, politische Programme als zentraler Beziehung zu untersuchen. Parteien entwickeln sie, WählerInnen bewerten sie. Angus Campbell erweiterte dieses Steuerungsinstrument um die Identifikation. WählerInnen verarbeiten nicht nur Informationen, sie wollten Charismatiker sehen, Persönlichkeiten unterstützen, welchen sie vertrauen können, wenn es um ihre Zukunft geht. Herbert Kitschelt nun interessiert sich für bisher wenig Beachtetes: die Klientelbildung durch Bevorzugung von Gruppen unter den Wählenden beim Zugang zu öffentlichen Gütern.

Die klassische Vorstellung in der Demokratieforschung lautet: Mit der Modernisierung von Demokratie verschwindet der Klientelismus, es nehmen die Programmentscheidungen zu, die in der Mediendemokratie durch Persönlichkeitswahlen abgelöst werden. Nach Kitschelt stimmt das zwar teilweise, beispielsweise wenn man die Klientelismus-Verbreitung mit dem Por-Kopf-Einkommen der Länder vergleicht. Indes, im Zeitvergleich besteht keine Gewähr, dass er abgelöst wird. Vielmehr zeigt beispielsweise Indien, dass die Entwicklung sogar umgekehrt sein kann.

Zu 88 Demokratien hat Kitschelt relevante Steuerungsdaten gesammelt, die es ihm erlauben, seine Beobachtungen und Schlüsse auf gesicherter Basis zu entwickelt. ExpertInnen aus Wissenschaft standen ihm zur Seite, aber auch JournalistInnen, um zu seinen Informationen zu kommen. Gegenwärtig ist er daran, sie vergleichend auszuwerten. Zahlreiche Papers hat er dazu verfasst, teils alleine, teils für seiner Forschungsgruppe an der Duke University.

Käme Kitschelt nach Zürich, brächte er nicht nur ein neuartiges Forschungsprojekt mit. Es wäre ein eigentliches Forschungsprogramm mit vier Schwerpunkten: der Beschreibung von Verhältnissen und Trend in der Wähler/Parteien-Beziehung, der vergleichenden Analyse von Zusammenhängen, wie sie bisher noch kaum betrieben worden ist, der Suche nach Ursachen für Steuerungsformen, und der Ableitung von Folgen für einzelnen Politikbereiche.

In der Diskussion machte Kitschelt klar, dass ihn kulturelle Faktoren der Länder unwichtig dünken. Politische Oekonomie zieht er als handfester in der Analyse vor. Und auf institutionelle Fragen möchte er, wie so oft in der Politikwissenschaft, nicht reduziert werden. Vielmehr würde ihn die typologische Vielfalt der Wähler/Parteien-Beziehungen in Demokratien interessieren.

Einige seiner möglichen KollegInnen in naher Zukunft zeigten sich etwas überrascht, dass Kitschelt den Klientelismus überhaupt als Steuerungsmöglichkeiten von Demokratien interessiere, ohne ihn als Vorstufe der Entwicklung zu kritisieren. Da blieb der Kandidat für die Professur von Hanspeter Kriesi hart: Er ziehe eine neutrale Betrachtungsweise von Phänomenen vor, mit denen westliche Intellektuelle zwar wenig anfangen könnten, er aber beim Studium der Parteiensysteme und ihrer Realitäten auf der ganzen Welt begegne, war seine dezidierte Antwort.

Würde Kitschelt nach Zürich kommen, würde er gerne die Datensammlung um eine zweite Welle erweitern: einerseits die Trendinformationen komplementieren, anderseits die Elitenurteile durch Bevölkerungsbewertungen ergänzen. Und er müsste wohl auch das Beispiel der Schweiz, das ihm in seinem Datenschatz bisher fehlt, miteinbeziehen.

Zweifelslos für beide Seiten eine Herausforderung!

Claude Longchamp