Ja zu Mühleberg II, wenn auch knapp. Das ist der zentrale Kommentar aus heutiger Sicht zum gestrigen Abstimmungsergebnis. In der 51,2 Prozent Ja bei 48,8 Prozent Nein, ist keine grosse Differenz. Was weiss man einen Tag nach der Abstimmung über die Zusammensetzung von Befürwortung und Ablehnung?
Die Gemeindeanalyse zeigt plakativ, dass bei der “Mühleberg II”-Entscheidung das Land die Städte knapp überstimmt hat. Die Stadt Bern lehnte die Vorlage ab, Biel/Bienne zu 60,8, Köniz zu 54,5, Burgdorf zu 53,5 und Thun zu 51,5 Prozent ab. Als einzige Stadt votierte Langenthal dafür; der Ja-Anteil lag hier bei 52,6 Prozent – und damit nahe beim kantonalen Mittel.
Die vertiefte Analyse aller Gemeinden zeigt ein überdurchschnittliches Ja ist einseitig agrarisch geprägten, aber auch in agrarisch-gemischten Gemeinden. Das Umgekehrte findet sich ausserhalb der Zentren auch in sub- und in periurbanen Vorortsgemeinden. Die übrigen Gemeindetypen sind nahe dem kantonalen Mittel.
Die Besonderheiten zeigen sich jedoch erst, wenn man die Parteienanalyse vornimmt: Nachdem die Skepsis gegenüber der Kernenergie in den Volksabstimmungen von 1990 ihren Höhepunkt hatte, verringerte sich der Widerspruch in den nachfolgenden Entscheidungen Schritt für Schritt. 2003 wurde das Moratorium in der Volksabstimmung nicht verlängert. 58,4 Prozent stimmten dagegen. Bei Ausstieg aus der Kernenergie waren es 66,3 Prozent. Der Kanton Bern entschied in beiden Fällen praktisch identisch (58,6 resp. 67,5 Prozent) mit der Schweiz.
Allgemein ging man davon aus, dass der postmaterialistische Wertwandel seinen Höhepunkt erreicht hatte, und entsprechende Konflikte wieder abnehmen würden. Nachfolgende Generationen sind nicht mehr im gleichen Masse beeinflusst, wie jene, die durch die Reaktor-Unfälle in Harrisbourgh oder Tschernobyl gleichsam politisiert wurden.
Die Zustimmung zur Kernenergiepolitik ist im Kanton Bern jedoch gesunken, ohne die negative Mehrheit von 1990 erreicht zu haben. Erklärt werden kann die gegenläufige Dynamik durch die Besonderheiten einer kantonalen Abstimmung. Die Polarität wird nicht durch einen nationalen, vielmehr durch einen kantonalen Abstimmungskampf aufgebaut. Das führt zu anderen Akteurskonstellationen, in denen die lokalen Bezüge wichtiger sind.
Es wird noch zu klären sein, was alles anders war: die Themen, wie das Zwischenlager in Mühleberg, die Kampagne, stark geprägt durch die Botschaft der BKW, den Anteil an erneuerbarer Energie nicht erreichen zu können, die Berichterstattung durch die Medien, wo bisweilen Bund und BZ diametrale Positionen bezogen oder das Klima, diesmal massiv durch einen Stadt/Land-Gegensatz geprägt. Wahrscheinlich scheint mir, dass eine verstärke Politisierung stattgefunden hat, wenig wahrscheinlich ist für mich, dass einer neuer Wertwandelsschub in Richtung nachmaterialistischen Präferenzen stattgefunden hat.
Jetzt schon greifbar sind Schätzgleichungen zu Zusammenhängen beim Stimmverhalten. Sie zeigen, dass sich die linke Skepsis zur Kernenergie nur unwesentlich verstärkt hat, sich vor allem aber die bürgerliche Zustimmung verringert hat. Dafür spricht auch, dass es zahlreiche Gemeinden gibt, die bürgerlich wählen, anders als 2003 jetzt aber ablehnend zur Kernenergie gestimmt haben.
Typisch hierfür sind Gemeinden wie Seehof, zu 94 Prozent von bürgerlichen Parteien repräsentiert, 2003 zu 76 Prozent gegen das Moratorium, jetzt aber nur noch zu 28 Prozent für Mühleberg II. Das Kernenergie-freundliche Lager wurde um 49 Prozent verringert, es ist zwischenzeitlich auch 66 Prozent kleiner als der Anteil bürgerlicher WählerInnen.
Strukturelle Gemeinsamkeiten haben diese Gemeinden nicht. Zu vermuten ist deshalb, dass jenseits der einleitend beschriebenen generellen Bestimmungsgründe für die Positionen in der Kernenergiepolitik die lokalen Netzwerke und personennahe Kommunikationskanäle, die periphere Lage im Kanton oder die problematisierte Nähe zu einem Kernkraftwerk entscheidend waren.
Claude Longchamp
Was Herr Longchamp falsch interpretiert ist die “schwindende Zustimmung zur Kernenergie”. 2003 wurde über den Ausstieg aus bestehenden AKW abgestimmt, jetzt über ein neues AKW. Das ist ein grundsätzlich anderes Thema. Und damit wurde die erste Abstimmung über den Bau eines neuen AKWs in der Schweiz gewonnen. Welches AKW weltweit hat auch eine Volskabstimmung hinter sich?
Die Interpretation müsste also anders sein: Während man 2003 noch davon ausging, dass in der Schweiz nie mehr ein neues AKW gebaut werde und man sogar über den Ausstieg abstimmte, redet heute niemand mehr vom Ausstieg. Neue AKW sind sogar mehrheitsfähig.
Vielleicht ist es ein saloppe Formulierung, auf jeden Fall aber eine, die im Nachgang zur Abstimmung x-fach zu hören war. Ich denke, es ist nicht falsch, sich dazu Gedanken zu machen.
Meine Interpretation können sie in Ruhe nochmals nachlesen. Ich widerspreche aktive der Auffassung, dass es eine Umkehr in den generellen Werthaltungen zur Kernenergie gibt. Im Abstimmungskampf gab es aber neue Kritik, vor allem zur Zwischenlagerung in Mühleberg.
Sie können mir aber sicher in einer andere heiklen Frage weiter helfen: Wie wird sich die EU-Energiepolitik auf die Schweizerische Entscheidung 2013 auswirken?
Bin immer wieder erstaunt, dass es Leute gibt, die genau sagen können, worüber wir abgestimmt haben.
Aus meiner Sicht kann man das nur aus offizieller Warte, oder dann bloss aus der individuellen Optik beantworten.
Die offizielle war: “Grossratsbeschluss betreffend Stellungnahme des Kantons Bern zum Rahmenbewilligungsgesuch für den Ersatz des Kernkraftwerks Mühleberg”. Alles andere ist subjektiv.
Was, um Himmels Willen, ist der postmareraltische Wertwandel?
Materialismus bezeichnet das Streben nach materiell Greifbarem: nach Geld, nach Haus, nach Besitz.
Der Postmaterialismus geht davon aus, dass es auch ein Streben “danach” gibt, eines nach Werten, wie Glück, wie Schönheit, oder wie Umweltschutz.
Der amerikanischen Sozialforscher Ronald Ingelhart, der sich in den 70er Jahren mit diesen Phänomenen weltweit beschäftigt hatte, kam zum Schluss, dass kollektiv gesprochen mit der Entwicklung von Reichtum in einer Gesellschaft zusammen hängt. Individuell gesehen entwickelt sich dieses Streben dann, wenn grundlegende Bedürfnisse (wie Sicherheit oder Zugehörigkeit) gesichert sind.
Er entwickelte zwei Hypothesen mit prognostischem Charakter: die Sozialisations- und die Mangelhypothese. Diese meint, dass das, was als mangelhaft empfunden wird, das Streben bestimmt, während jene davon ausgeht, dass die Mangelerlebnisse in der Sozialisationsphase als Jugendliche entscheidend bleiben.
Die zweite Annahme hat sich besser bestätigt, lässt in einer Biografie charakteristische Konstanten erkennen. Die erste ist umstritten, weil sie mit der Annahme verbunden ist, dass es gesellschaftliche zu einer generellen und unumkehrbahren Mangelempfindung von materiellen zu postmateriellen Dingen kommt.
Entsprechend wurde erwartet, dass jede nachfolgende Generation postmaterieller als die vorhergehende ist.
Auf unsere Fragestellung bezogen: Angenommen wurde, dass jede nachfolgende Generation ökologischer ist als die vorhergehende, es also zu einem langsamen, aber konstanten Uebergang kommt zu ökologischen Werthaltungen in einer Gesellschaft kommt.
Morgen cal, können Sie mir KURZ die wichtigsten Merkmale der EU-Energiepolitik erläutern? Ich werde dann eine Aussage über die Auswirkung auf die Schweizerische Entscheidung 2013 wagen:-). Danke.
Hier ein link zu zahlreichen Hinweisen über Absichten und Entscheidungen:
http://www.bing.com/search?q=eu+energiepolitik+oettinger&src=IE-SearchBox&Form=IE8SRC