Laissez-faire in der Integrationspolitik fördert Unsicherheit, nicht Toleranz

Vor 20 Jahren witzelte er über die “zufriedene Nation”. Vor zehn Jahren polemisierte er gegen das “multikulturelle Drama” in den urbanen Zentren. Heute nennt er das laissez-faire-Prinzip in der Integrationspolitik einen Fehler. Den Applaus von rechts mag Paul Scheffer nicht, die Ignoranz auf der linken Seite auch nicht, denn der Amsterdamer Grossstadtsoziologe ist ein scharfer Kritiker der herrschenden Zustände ohne die Zuversicht in die Zukunft der Niederlande verloren zu haben.

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Paul Scheffer, führender Soziologe der Integration in den Niederlanden

Auf newsnetz erklärt Paul Scheffer, wie es zur Wende kam, welche Geert Wilders den grossen Aufstieg brachte. Man habe sich im Selbstbild der liberalen Gesellschaft gefallen, Homo-Ehe akzeptiert, Euthanasie zugelassen und die Repression aus der Drogenpolitik gestrichen. Trotzdem blieb die Niederlande eine stark organisierte Gesellschaft, ähnlich wie die Schweiz, Oesterreich oder Belgien, in denen der Wunsch nach Konsens dominiert und dessen Nichterfüllung die Politik verändert.

Mit der Globalisierung seien liebgewordene Sicherheiten in Frage gestellt worden, diagnostiziert Scheffer. Die wirtschaftliche Entwicklung gehe nicht mehr linear nach oben. Die traditionellen Parteiströmungen – die Sozialdemokratie, der Liberalismus und die Christdemokratie – steckten in einer tiefen Identitätskrise, denn Lösungen nach dem Links/Rechts-Schema versagten in EU-Fragen, in der Klimapolitik und bei Migrationsproblemen.

Deren Defizite seien schon vor 10 Jahren sichtbar gewesen. Jetzt würde alles Ungelöste an die Oberfläche gespült, lasse den Eindruck des totalen Politikversagens aufkommen und begünstige Einthemen- und Einmannparteien wie die PVV von Geert Wilders. Der Politik sei dies nicht dienlich, sie müsse sich deshalb darauf einstellen, vorerst mit instabilen Verhältnissen leben zu müssen.

Es sei falsch, die WählerInnen der PVV der Irrationalität zu bezichtigen. Gegen Heimatverlust zu stimmen, folge einer Logik, welche die etablierten Kräfte in der niederländischen Gesellschaft begreifen lernen müssten. Ausgangspunkt der Probleme sei die Unsicherheit im öffentlichen Raum. Ohne die gäbe es nur misstrauische BürgerInnen. Deshalb plädiere er für die Null-Toleranz gegenüber Uebergriffen auf Strassen, in Eisenbahnen und Schulen – zum Schutz der Toleranz in der Gesellschaft.

Einwanderungsgesellschaften wie den Niederlanden empfiehlt der Soziologe einen neuen Gesellschaftsvertrag. “Bisher haben wir nur über Freiheiten gesprochen, aber nicht über Pflichten”. Wer beispielsweise das Recht auf Religionsfreiheit einfordere, müsse auch die Pflicht akzeptieren, die Freiheit für andere zu verteidigen, diktierte er den Journalisten des Tages-Anzeigers ins Notizbuch.

Denn ohne Rechte mit Pflichten zu verknüpfen, komme es zu einer Radikalisierung, die zum Zerfall der politischen Mitte und zur demokratiebedrohlichen Polarisierung führen könne. Das aus den Zukunftsszenarien auszuschliessen, hält Scheffer für naiv. Selber gibt es sich zuversichtlich. Keine Integration sei bisher konfliktfrei verlaufen. Die Auseinandersetzung wie sie in den Niederlanden beobachtet werden können, zeige vielmehr, dass Integration stattfinde, wohl aber erst begonnen habe und nicht schon abgeschlossen sei: “Ich sehe uns in einer Übergangszeit, wo wir uns selber neu definieren, die Gesellschaft ihre Institutionen und den Umgang mit den Freiheiten neu überdenkt.”

Die Analyse könnte man in Vielem auch für die Schweiz machen. Die Befunde zur Ausgangslage sind ähnlich. Denn auch hier hat die Globalisierung bisherige Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt, am Fundament der Liberalen, der Christ- und Sozialdemokraten gerüttelt, und die Forderungen nach einer Neudefinition von menschlichem und kulturellem Zusammenleben geschärft. Nur neue Einthemen- und Einmannparteien haben wir nicht bekommen, dafür eine neudefinierte SVP, welche die Probleme der Migration artikuliert, ohne dass wir schon gesellschaftlich und politisch akzeptierte Lösungen haben.

Claude Longchamp