Wahlen im Zeitalter des populistischen Machtanspruchs

Heute begann meine Bachelor-Vorlesung zur Wahlforschung an der Uni Zürich. Hier einige Gedanken, die ich meiner Einleitung von heute zugrunde gelegt habe resp. die ich im Verlaufe des Semesters vertieft begründen möchte.

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Vorneweg die Fakten: Donald J. Trump ist nach US-amerikanischem Wahlrecht zum Präsidenten für die Jahre 2017-2020 gewählt worden. Die Stimmen der Elektoren sprachen eindeutig für ihn, auch wenn eine direkte Volkswahl wohl anders ausgesehen hätte. Trump kann sich auf eine Mehrheit in beiden Parlamentskammern stützen, und er kann seinen Einfluss auf die höchsten Gerichte mit der Zeit erhöhen. Sein bisher grösstes Problem sind die Medien, namentlich die liberale Presse, die klar gegen ihn eingestellt ist. Problematisch ist auch sein Rückhalt in der tief gespaltenen Gesellschaft, die sich gegen ihn aktiviert.

Die richtige Analyse der US-Wahl 2016 ist noch nicht geschrieben. Vielfach vermutete Annahmen waren der erfolgreiche populistische Appel in seinem unüblichen Wahlkampf, die Symbiose von Marktmedien und tabubrechenden Politikern, der überraschende Durchbruch des Aussenseiters bei den primaries der Republikaner, der Frust der Industriearbeiter über den Niedergang ihrer Branchen und die Angriffsflächen, die beide BewerberInnen boten.
Weitgehend unbestritten blieben die Ergebnisse der Exit-Polls am Wahltag. Sie legen nahe, dass sich die Wählerschaften der beiden KandidatInnen hinsichtlich der stets wirksamen Parteiidentifikationen (Republikaner vs. Demokraten), der sich widersprechenden Weltanschauung (Konservatismus vs. Liberalismus) und der zentralen Streitthemen (vor allem dem Mauerbau zu Mexico) nach geschlagenem Wahlkampf klar unterschieden. Hinzu kamen gegensätzliche Bewertungen der Regierung Obama, diametral andere Diagnosen zur gewünschten politischen Richtung zwischen Internationalismus und Nationalismus resp. zwischen Freihandel und Protektionismus. Die Haushalte lasen dies aufgrund ihrer realen oder erwarteten Finanzlage je nach Schicht verschieden.
2016 die von Obama 2008 geformte Wählerkoalition aus demokratischen KernwählerInnen, aber auch ethnischen Minderheiten teils zerfallen. Je höher die Arbeitsplatzverluste in einer Gegend waren, desto stärker orientierte man sich selbst in traditionell demokratischen Wahlkreisen neu. Viel zitiert wurde dabei der rust-belt mit der serbelnden Automobilindustrie, wo sich namentlich die weissen Arbeiter den Republikanern zuwandten. Da ging es aus Wählersicht nicht um Nutzenmaximierung, wohl aber um Schadensbegrenzung. Genau das haben die akademisch gebildeten Oberschichten in den liberalen Städten übersehen, weil sie vom Auftritt des republikanischen Präsidentschaftskandidaten zunehmen angewidert waren und sich mehr denn je neu orientiert haben.

Bis jetzt sind mir zwei mehrschichtige Analysen der Wahl aufgefallen. Die erste stammt von Allan Lichtman, dem Historiker, der seit 1984 alle Präsidentschaftswahlen richtig prognostiziert hat. Aus seinen 13 Schlüsseln zum Weg ins Weisse Haus kann man die Erfolgsstory bei den letzten US-amerikanischen Wahlen so ableiten: Da sind einmal die beiden Kandidatinnen, Trump der tollpatschige Charismatiker, der die Aufmerksamkeit auf sich zog, und Clinton, die kompetente Frau, die zu lange in Washington war und abgegriffen wirkte. Da geht es um die Amtsdauer der Herrschaft der Demokraten, die mit 8 Jahren Obama-Regierung an ihre eigene Grenze stiess. Da fehlte vor allem der grosse Wurf in der zweiten Legislatur, der die regierende Partei neu erfunden hätten. Da waren die verlorenen mid-terms zwei Jahre zuvor, bei denen die Zeichen auf Wechsel gestellt worden waren. Lichtman analysierte das Ergebnis auch aussenpolitisch, wobei der für die USA so wichtige Erfolg fehlte, ja die Obama-Regierung im nahen Osten eine eigentliche Niederlage erlitt. Jeder dieser Gründe hätte für sich genommen nicht gereicht, meint der Historiker; die Gesamtheit der genannten Ursachen seien aber ausreichend genug, um den Sieg von Trump zu begründen. Der einzige, der Trump hätte verhindern können, sei Trump selber, meinte Lichtman kurz vor der Wahl. Nach der Wahl sagte er, es sei gut möglich, dass er in ein Amtsenthebungsverfahren laufe. Man solle sich schon mal ausführlich mit Pence beschäftigen, dem möglicherweise nächsten US-Präsidenten.
Die für mich inspirierendste Einbettung von alledem stammt von keinem Sozialwissenschafter, sondern von einem Physiker. Zu seinem 75. Geburtstag warnte Stephen Hawking anfangs 2017, am gefährlichsten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte angekommen zu sein. Das mag etwas übertrieben wirken; seine Argumente sind aber bedenkenswert klar: Hawking deutet den Sieg der Populisten als Aufschrei der Wut derjenigen, die sich von ihren Politikern im Stich gelassen fühlten. Denn Jobverlust und Dequalifizierung seien keine Erfindungen ungeliebter Regierungskritiker, sondern Realitäten, die sich in vernichteten Produktionsbetrieben resp. bedrohten Arbeitsplätzen der Mittelschichten manifestierten. Der Fortschritt lasse sich nicht vermeiden, so Hawking, doch bringe er anders als früher nicht Wohlstand für alle, sondern vermehre er Ungerechtigkeiten. Namentlich das Internet und soziale Medien würden das unzensuriert zeigen. Das führe zwangsläufig zu Migration, getrieben durch Hoffnung auf Verbesserung, in einem Land hin zu zunehmend überforderten Städten, zwischen den Staaten von Armen zu Reichen. Deren Bevölkerungen seien bedroht, was ohne Umverteilung von Ressourcen nicht bekämpft werden könne.

Genau solches sollte unter PolitikwissenschafterInnen nicht vergessen gehen, wenn sich die Wahlforschung mit ihren Kernfragen beschäftigt, nämlich «Wer wen warum mit welcher Wirkung wählt» resp. wie sich politische Systeme neu aufstellen müssen, wenn Ursachen von Wahlergebnissen nicht missverstanden und die Folgen nicht falsch gedeutet werden sollen.
Genau da habe ich eine Vermutung: Die Wahlforschung braucht nicht mehr methodische Raffinesse; sie braucht wieder mehr Analyse von Zusammenhängen, die in Zeiten der Veränderung wirksam sind.

Claude Longchamp

Warum twittert eine Minderheit der NationalrätInnen nicht?

Rund 60 Prozent der 2015 gewählten Volksvertreter auf Bundesebene sind auf Twitter. Wer twittert, dem gehört die mediale Aufmerksamkeit, sagt man. Doch warum verweigert sich eine Minderheit dieser Chance?

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Ladina Triarca und Barbara Wilhelmi bei der Präsentation der Forschungsarbeit. Nicht auf dem Bild: Jessica Zuber.

Eine Gruppe Studentinnen meines Forschungsseminars zur “Digitalen Revolution der politischen Kommunikation” beschäftigte sich im vergangenen Semester ausführlich mit den Twitter-VerweigerInnen unter den VolksvertreterInnen. Zwei Analyseschritte führten die MasterstudentInnen zu ihren Erkenntnissen: Erstens verglichen sie das Profil der NutzerInnen und Nicht-Nutzerinnen; zweitens befragten sie eine typologische Stichprobe der Nicht-NutzerInnen nach ihren Motiven.

Geschlecht, Alter und Siedlungsart beschreiben die Wahrscheinlichkeit, dass gewählte VolksvertreterInnen auf Twitter sind. Bei Frauen, bei Jungen und bei urbanen PolitikerInnen sind die Chancen erhöht. Vertreter des Landes, der Rentner und Männer haben dagegen eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit.
Wer Twitter nicht nutzt, nennt fehlende Zeit als Hauptgrund, empfindet 140 Zeichen als einengend, um sich differenziert ausdrücken zu können oder zieht persönliche Kontakte zu den Wählenden der medial vermittelten Interaktion vor. Mangelnde Präsenz der Zielgruppen in sozialen Medien, Angst vor Kontrollverlust über einmal gesendete Inhalte und mangelndes Fachwissen über die neue Technik sind ergänzende Motive der Verweigerinnen.
Nicht bestätigt werden konnten dagegen häufig erwähnte Gründe wie fehlende Ressourcen, seien diese finanzieller oder personeller Natur. Es gibt nämlich ParlamentarierInnen, die selbst dann nicht auf Twitter wären, wenn das jemand für sie bezahlt erledigen würde. Das Medium ist ihnen ganz einfach fremd. Ganz anders als in Bevölkerungsbefragungen spielenauch Bedenken zum Datenschutz bei PolitikerInnen keine Rolle.
Die halbstrukturierten Interviews liessen weitere Gründe aufschimmern: Präferenzen für Facebook mit viel höherer Reichweite als Twitter und Angst, in einen Strudel zu geraten und immer aktiv sein zu müssen, zählen namentlich dazu.

Zu erwarten ist, dass das Limit der Partizipation von gewählten VolksvertreterInnen in der Schweiz bald einmal erreicht sein wird. Der Mainstream unter ihnen ist heute aktiv, einige NachzüglicherInnen dürften noch hinzukommen. National wird man wohl mit drei Vierteln der Volksvertreter auf Twitter am Limit angelangt sein.
In den Kantonen selber ist mit sehr unterdurchschnittlichen Beteiligungsraten zu rechnen. Genf und Zürich sind typischerweise führend, denn sie sind am stärksten urban geprägt. In ruralen Kantonen mit starken, persönlichen Beziehungen zwischen Gewählten und WählerInnen ist davon auszugehen, dass sich soziale Medien in der politischen Kommunikation nie durchsetzen werden.
Mir war vor der Arbeit die viel zitierte Altersabhängigkeit der Nutzung klar bewusst. Neu war für mich, dass die Chance der Nutzung von Twitter bei einer gewählten Frau einiges höher ist als bei einem gewählten Mann. Jay Badran ist demnach der Prototyp der twitternden Parlamentarierin. Liza Mazzone, die junge Genfer Grüne, ist die ganz grosse Ausnahme.

Claude Longchamp

Ladina Triaca, Barbara Wilhelmi, Jessica Zuber: Twitter als digitale Wandelhalle – wer bleibt aussen vor? Eine Analyse der nicht twitternden Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Schweiz. Semesterarbeit im Rahmen des Seminars “Digitale Revolution in der politischen Kommunikation” von Claude Longchamp, IPW Uni Bern 2017.

Persönlichkeitsmerkmale von NationalratskandidatInnen: für die Entscheidung von Frauen wichtiger als für Männer

Das Aufsehen war gross, als Ende 2016 “Das Magazin” über Tools von Cambridge Analytica im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf berichtete. Ebenso heftig war die Reaktion, denn sie bezweifelte sowohl den Einsatz als auch die Evidenz des viel zitierten OCEAN-Modells zugunsten von Donald J. Trump. Zeit, für einen Neuanfang in der gleichen Frage. Vier engagierte Studentinnen wagten ihn am letzten Freitag.

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Celine Gasser, Noemi Muhr, Anja Weis und Zora Föhn bei der Präsentation ihrer Forschungsarbeit zur Wirkung von Persönlichkeitsmerkmalen auf das Wahlergebnis.

Bescheidener und transparenter verfuhr eine Arbeitsgruppe in meinem Forschungsseminar “Digitale Revolution der politischen Kommunikation” am Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern im Herbstsemester 2016. Nichtsdestotrotz lassen sich die Ergebnisse sehen. Entwickelt wurde nämlich erstmals ein Codebuch, mit dem man beispielsweise SocialMedia-Beiträge auf den 5 Dimensionen des OCEAN-Modells klassieren kann. Konkret sind dies “Offenheit”, “Gewissenhaftigkeit”, “Extrovertiertheit”, “Verletzlichkeit” und “Kooperationsbereitschaft”. Angewandt wurde es in der Folge auf 40 Kandidierende bei den Nationalratswahlen 2015 im Kanton Zürich, die getwittert haben.
Die so ermittelten Ergebnisse wurden in der Folge mit den Ergebnissen aus einer Wählerbefragung von 2012 verglichen, welche auf den gleichen 5 Persönlichkeitsmerkmalen basierte und im Vorfeld der Wahlen medial mehrfach besprochen wurde:

• Die SVP kennt eine recht hohe Übereinstimmung. Allerdings scheinen die KandidatInnen auf Twitter weniger kooperativ veranlagt zu sein als die Wähler, dafür deutlich kompetitiver.
• Bei der SP ist das Bild der KandidatInnen vor allem viel gelassener, als es aus der Wählerbefragung hervorgeht.
• FDP-KandidatInnen erscheinen insgesamt kooperativer als die eigene Wählerschaft.
• Schliesslich die CVP: Bei dieser Partei erscheinen die Kandidatinnen gewissenhafter als die Wählenden.

Von einer starken Übereinstimmung zwischen Persönlichkeitsmerkmalen der KandidatInnen resp. der Wählenden kann keine Rede sein, folgern die Studienautorinnen. Bei Frauen sei der Zusammenhang gegeben und er erhöht die Wahlchancen tendenziell. Bei Männern gibt es den Zusammenhang jedoch nicht. Hauptgrund hierfür ist ihrer Ansicht nach das Selektionsverfahren, denn BewerberInnen für ein politisches Amt seien deutlich extrovertierter als die Wählenden.

Die Ergebnisse stehen im deutlichen Widerspruch zu den Erwartungen, die man neuerdings an politpsychologische Ansätze der politischen Werbung hat. Selbstredend kann man die Studienergebnisse auch relativieren. Die studentische Forschungsarbeit war innovativ, basierte aber auf nur 40 KandidatInnen-Vergleichen. Es kann sein, dass die Ergebnisse zu den Profilen von der Auswahl abhängen. Es ist jedoch ebenso denkbar, dass die Operationalisierung der Parteiwählerschaften verbesserungsfähig ist.
Plausibel erscheint mir, dass die Selektion, die sich mit Blick auf eine Kandidatur ergibt, besondere Persönlichkeitsmerkmale parteiübergreifend begünstigt. Zudem ergeben Vergleiche von KandidatInnen und Wählenden nicht zum ersten Mal, dass die Re-Ideologisierung ausgewählter Themen als Mittel der Wahlentscheidungen gerade bei Männern ein deutlich stärkerer Befund ist.
Gelobt habe ich die Arbeit aus einem anderen Grund: Meines Wissens haben die vier Studentinnen erstmals ein Codebuch mit 25 aussagekräftigen Indikatoren entwickelt, wie man die häufig recht spärlichen Aussagen der PolitikerInnen in Tweets persönlichkeitsrelevant klassieren kann. Genau das werde ich weiterverwenden!

Claude Longchamp

Anja Weis, Zora Föhn, Noemi Muhr und Céline Gasser: Persönlichkeit und Social Media im Wahlkampf. Semesterarbeit im Rahmen des Seminars “Digitale Revolution der politischen Kommunikation” von Claude Longchamp, IPW Uni Bern 2017.

Roboter auf Twitter in Schweizer Abstimmungskämpfen: Mythen und Fakten

5259 Twitter-Accounts waren in den letzten 10 Tagen vor der Volksinitiative für einen sofortigen Atomausstieg aktiv. Eine neue Untersuchung legt nahe, dass davon 96 Accounts Bots oder Cyborgs waren.

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Von rechts nach links: Tatjana Doba, Martina Gsteiger, Melanie Ivankovic bei der Präsentation der Forschungsarbeit letzten Freitag

Als Bots gelten aktive, aber maschinengesteuerte Twitter-Adressen. Cyborgs wiederum funktionieren als Kombination von Mensch und Maschine. Seit 2014 sind solche Roboter oder roboterisierte Adressen ein Thema der SocialMedia-Kritik. In der Ukraine, in Grossbritannien und in den USA wird ihnen vorgeworfen, beispielsweise die Twittersphäre nachhaltig zu manipulieren. Die Literatur geht von 10 Prozent Bots aus und ein Drittel könne als Cyborg klassiert werden.
Die erste Untersuchung zur Schweizer Twittersphäre anhand der Atomausstiegsinitiative kommt zu deutlich zurückhaltenderen Schlüssen. Gängige Prüftools wie @BotorNot identifizierten in der Tat knapp 600 verdächtige Adressen, was einem Anteil von 11 Prozent entsprechen würde. Eine aufwändige, individuelle Nachkontrolle dieser Accounts reduzierte die Zahl jedoch auf unter 100. Das wären dann noch 2 Prozent Bots und Cyborgs.
Ein typischer, ausgesprochen aktiver Bot ist «@polittweets», der sich auch offen als solcher zu erkennen gibt. Er retweetet meist einmal im Tag einen populären Tweet. Eine Zuordnung zu einem politischen Lager gelingt hier nicht. Andere wie @Toxic_linkTruca arbeiten verdeckter. In aller Regel retweeten aber auch sie, doch bevorzugen sie einzelne Aspekte, die sie in sonst wenig politische Netzwerke einspeisen. Bots, die Texte erfinden, sind in der Schweiz noch kaum verbreitet. Cyborgs wiederum dürften mit maschinellen Recherchen der Twittersphäre arbeiten; die Distribution dürfte jedoch menschlich ausgelöst werden.
Betroffen von Twitter-Maschinen waren im untersuchten Beispiel sowohl Befürworter wie auch Gegner der Atomausstiegsinitiative. Selbst Accounts, die sich auf unabhängige Informationsverbreitung spezialisiert hatten, sind für Bots und Cyborgs interessant.
Accounts wie «@sauber_sicher», aber auch @Atomausstieg_Ja kannten am meisten Roboter unter ihren Followern. Das gilt tendenziell auch für @SVPch und @AAI_Nein oder @Greenpeace und @WWF. Es kann durchaus bezweifelt werden, dass diese Absender die Bots selber eingesetzt haben. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass die Roboter lernen, gesuchte Informationen an bestimmten Orten des Internets zu identifizieren.
Das hat auch mit einer Eigenheit der politischen Kommunikation bei Abstimmungen zu tun. Anders als bei Wahlen ändern die Themen im Drei-Monats-Rhythmus. Zahlreiche der parteiischen Accounts erreichen somit nur geringe Follower-Zahlen, was sie für Verstärker attraktiv macht. Bei Wahlen geht es um anderes. Hier sollen Parteien, die dauern aktiv sind, nachhaltig in bestimmte Zielgruppen ausstrahlen. Das macht den strategischen Einsatz von Robotern interessanter.
Die teils Aufsehen erregenden Befunde in Massenmedien und Fachliteratur zu Roboter-getriebenen Adressen müssen für die Schweiz relativiert werden. Richtig ist, dass sich in der Twittersphäre Bots am politischen Diskurs beteiligen. In erster Linie verstärken sie vorhandene Informationen oder Meinungsäusserungen. Es ist jedoch denkbar, dass sich die Entwicklung erst am Anfang befindet. Entsprechend bin ich bestrebt, die gelegten Grundlagen am Beispiel der Abstimmung über die Energiestrategie 2050 zu konkretisieren.

Claude Longchamp

Tatjana Doba, Martina Gsteiger, Melanie Ivankovic: Social Bots in der Debatte zum Atomausstieg. Semesterarbeit im Rahmen des Seminars «Digitale Revolution der politischen Kommunikation» von Claude Longchamp, IPW Uni Bern 2017.

Why Trump? Ein Hinweis auf meine Vorlesung zur Wahlforschung

Zum 9. Mal biete ich im Frühlingssemester meine Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich an. Was können Teilnehmende im Bachelor-Studium der Politikwissenschaft und angrenzender Disziplinen erwarten?

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Passend zur jüngsten Wahl in den USA das Buch von David King: Why Trump – ein perfektes fake-Buch für 8 Dollar erwerbbar, aber ohne jeglichen Inhalt

Wie bisher geht es um Wahlen und politisch-mediales System, um Theorie der Wahl- und Wählerforschung und um neue Arbeitsfelder der Forschung wie politische Partizipation und politische Kommunikation. Anschaulich soll die Veranstaltung sein, indem sie die Schweizer National-, Ständerats- und Bundesratswahlen 2015 miteinbezieht, aber auch reflektiert, was die wachsende Zahl PolitikwissenschafterInnen als Wahlexperten in Medien, bei Parteien und KandidatInnen bedeutet.
Eröffnet wird die Vorlesung mit einer exemplarischen Analyse der amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016. Gezeigt werden soll, wie das Wahlsystem wählt, wer Donald Trump wählte und wie man sich das alles wenigstens im Nachgang erklären kann. Zudem werden Fragen und Antworten zum Funktionieren von Wahlen in der US-Demokratie gestellt resp. gegeben.
Selbstredend kommt der Populismus als Erscheinungsform bei zeitgenössischen Wahlen speziell zur Sprache, wie er von namhaften Politikwissenschaftern definitiert und erklärt wird, was die empirischen Ergebnisse in ausgewählten Ländern aussagen, und ob Populismus für die Demokratie generell eine Gefahr ist. Geplant sind zwei Exkurse zu den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich, die beide während des Semesters stattfinden.
Zudem kann eine Lehrveranstaltung zur Wahlforschung nicht mehr vom Kontext abstrahieren. Denn die Transformationen des Medien- und Politsystem beeinflussen ihrerseits Wahlen, Wahlkämpfe und Parteitypen.
Erstmals werde ich mich auch mit den Bundesratswahlen in der Schweiz beschäftigen. In der Forschung werden sie vernachlässigt, doch ist man auch hier dabei, die grossen Löcher schrittweise zu schliessen. Mir geht es um die Frage, welche Integrationsleistungen Wahlen in die Regierung in der Konkordanzdemokratie der Schweiz heute erbringen.
Das Programm wird Interessierten bald via einschlägige Kanäle des Instituts für Politikwissenschaft vorgestellt werden. Ich hoffe auf rege Beteiligung, wie das in den letzten Jahren ja immer der Fall war, und freue mich, hier die wohl am wenigsten technische, dafür politischste Variante der Wahlforschungsvorlesung ankündigen zu können.
Claude Longchamp

Sitzung Datum Thema

26. Februar Wahlforschung am Beispiel der US-Wahlen 2016
04. März Wahlen und politisches resp. mediales System
11. März Wahlrecht, Konflikte und Parteiensystem
18. März Wählende aus theoretischer und empirischer Sicht, Wahl Niederlande
Karfreitag
Osterferien
08. April Beteiligung als politischen Partizipation
15. April Wahlkampf als politischen Kommunikation
22. April Populismus als Problem demokratischer Wahlen
29. April Schweizer Nationalratswahlen 2015
06. Mai Schweizer Ständeratswahlen 2015, Wahl Frankreich
13. Mai Schweizer Bundesratswahlen 2015
20. Mai Wahlprognosen
27. Mai PolitikwissenschafterInnen und Wahlen
03. Juni Prüfung

Polarisierung oder Zentrierung: Was dominiert den Abstimmungskampf vor dem 12. Februar 2017?

Statt drei Normalfälle in der Meinungsbildung zu Behördenvorlagen, spricht die aktuelle SRG-Befragung von Spezialfällen bei der Einbürgerung resp. der Unternehmenssteuerreform. Warum?

Die aktuelle SRG-Repräsentativbefragung zu den Volksabstimmungen vom 12. Februar 2017 zeigt in zwei der drei Fälle einen unüblichen Verlauf der Stimmabsichten für eine Behördenvorlage. Sowohl bei der erleichterten Einbürgerung als auch bei der Reform der Unternehmenssteuer sank im letzten Monat die Zustimmungsbereitschaft. Im ersten Fall ging sie um 8 Prozentpunkte zurück und steht jetzt bei 66 Prozent. Im zweiten reduzierte sie sich um 5 Zähler auf 45 Prozent.
Normal wäre, dass sich die Unentschiedenen bei einer Behördenvorlage auf beide Seite verteilen, das Ja also zunehmen würde. Das zeigt sich aktuell nur beim Strassenfonds NAF.

Nun kennen wie die Mechanik recht gut, wie abweichende Fälle zustanden kommen. Mit dem Abstimmungskampf steigen die Beteiligungsabsichten an, und zwar nicht überall gleich, sondern asymmetrisch. Namentlich opponierende Gruppen werden auf den Plan gerufen, sich über das bekannte Niveau hinaus zu beteiligen.
Nun zeigt unsere Befragungsreihe, dass das in drei Segmenten der Fall ist: bei parteipolitisch ungebunden Stimmenden (+19 Prozentpunkte), bei SP-Wählerinnen und Wähler (+16 Prozentpunkte) und bei misstrauischen Bürger und Bürgerinnen (+14 Prozentpunkte).

Bürger und BürgerInnen mit negativem Institutionenvertrauen sind das klassische Potenzial für populistisch aufgezogene Kampagnen. Diese wollen die Beteiligung erhöhen, denn das ist der beste Garant, dass sich WutbürgerInnen in Volksabstimmungen äussern. Die Vorlageninhalte sind dabei sekundär; primär geht es darum, Opposition zur Behördenarbeit zu manifestieren.
Bei der Einbürgerungsvorlage zeigt sich dies eindeutig: Das föderalistische Nein-Argument, das die parlamentarische Debatte bestimmt, interessiert gar nicht. Vielmehr geht es mit der Pauschalisierung von Muslimen als schlecht integriert darum, den Graben zwischen einem offenen und geschlossenen Bild der Schweiz auch in diesem Zusammenhang aufzureissen.
Nun zeigt unsere Analyse, dass sich das aufgeheizte Klima auch auf die Entscheidung zur Unternehmenssteuer auswirkt. Zum wirksamsten Argument avancierte der Hinweis, bereits bei der zweiten Reform bei den Auswirkungen zu Steuerausfällen über den Tisch gezogen worden zu sein. Die Aktivierung in der laufenden Debatte hat die gegnerische Argumentation befeuert, man riskiere erneut Steuerausfälle, welche die mittleren Einkommen zu spüren bekommen werden. Der SP, aufgestachelt durch die gefakte Fotomontage in der Abstimmungszeitung der Steuerreform-Befürworter, hat das in die Hände gespielt.
Zweifelsfrei hat die Verquickung beider Kampagnen zur Emotionalisierung des Entscheidungsklimas geführt. Das nützt in keinem Fall den Behörden, denn es mobilisiert gegen sie, sowohl bei der Beteiligung wie auch bei den Stimmabsichten. Nicht auszuschliessen ist, dass das bei der Unternehmenssteuerreform entscheidend sein wird, während bei der Einbürgerungsvorlage ein möglich erscheinendes Nein der Kantone im Vordergrund steht.

Bilanzieren wir am 12. Februar die ersten Niederlagen der Behörden in der laufenden Legislatur? Entschieden ist noch nichts! Denn unsere jüngste Umfrage hat den 22. Januar 2017 als mittleren Befragungstag. Die letzten drei Wochen deckt sie damit nicht ab und diese drei Wochen sind die Zeit des Übergangs von der Haupt- zur Schlusskampagne.
So wie die Aufregung der Opposition nützt, hilft die Beruhigung des Klimas, verbunden mit der Rückkehr zu Sachargumenten, den Behörden. Das ist die Voraussetzung, dass sich nicht vorwiegend die Anhänger der Polparteien äussern, sondern in vergleichbarem Masse auch die Wählenden aus dem politischen Zentrum.

Claude Longchamp

“Heimat ist dort, wo es Dir gut geht.”

Meine Abschiedsrede bei der Eröffnung der neuen Büros von gfs.bern.

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Kurz vor meiner Abschiedsrede, im Türrahmen Urs Bieri und Lukas Golder, die neuen Co-Leiter von gfs.bern (Foto anclicken um sie zu vergrössern)

Meine Damen und Herren,
Viele von Ihnen wissen wohl nicht, dass ich nur angelernter Politikwissenschafter bin. Denn studiert habe ich Geschichte.
In der Geschichte der Geschichte sind die Griechen von grosser Bedeutung – allen voran Herodot, oft der Vater der Geschichte genannt. Sein überliefertes Hauptwerk handelt vom Krieg, den die Griechen auf wunderbare Weise gegen die Perser gewannen. Um zu verstehen, warum das so geschah, unternahm er Reisen. Dabei entpuppte er sich als begnadeter Erzähler. Nicht alles, was er berichtete, stimmte allerdings. Denn sein Reisebuch zeigt in der Quintessenz, dass Athens Gegner dekadent waren, Athen selber jedoch moralisch einwandfrei lebte. Im Neudeutschen betrieb er geschicktes storytelling, vielleicht war er sogar der Vater der fakenews.
Die wissenschaftlich orientierten Historiker von heute sehen eher den Spartaner Thukydides als Vater der Geschichtsschreibung. Er analysierte den Peloponnesischen Krieg, den Sparta gegen Athen gewann. Thukydides erzählte hierfür keine stories. Er wollte das wahre Bild seiner Zeit weitergeben, damit es für immer Gültigkeit haben sollte. Mehr noch, er war auch eine Art erster Sozialwissenschafter, denn er wollte erklären, was die Menschen antreibt, was ihre Motive waren, um Ausserordentliches zu leisten.
Karl Jaspers, der Basler Philosoph, beschrieb die Zeit rund um 500 vor Christus, in dem die beiden griechischen Historiker lebten, als Achsenzeit. Wie selten zuvor habe die Menschheit damals Fortschritte in Technik und Moral erzielt: in China unter Konfusius, in Indien unter Buddha, in Persien unter Zarathustra, im vorderen Orient und den Verkündern des alten Testamentes und in Griechenland unter den philosophisch Gelehrten.

Wenn auch nur im Kleinen, so hoffe ich, dass das gfs, das ich 1993 in Bern begründet habe, auch eine Achsenzeit war. Mindestens für die hiesige Politik, der wir nicht nur dienen, die wir vielmehr auch entwickeln wollten. Die zahlreichen Reaktionen, die wir im Vierteljahrhundert erleben durften, zeugen davon, dass wir zweifelsfrei etwas ausgelöst haben. Ob zum Guten oder Schlechten, ist an Ihnen, verehrte Kundschaft, zu entscheiden.
Mein kleiner Rückblick sei deshalb nur der schwer verständlichen Abkürzung “gfs” gewidmet, die eigentlich für “Gesellschaft für Sozialforschung” steht. Betrieben haben wir angewandte Gesellschaft- und Politikforschung, meist auf Umfragebasis. Unser Umfeld hat das mysteriöse Kürzel oft missverstanden. Einmal waren wir sogar die “Gefahr für SVP”. Die hübscheste Werbung erfuhren wir aber nach 9/11. Zur Beruhigung der zahlreichen Botschaften in Bern lanciert die städtische Polizei die Aktion “Gemeinsam für Sicherheit”. Ein Jahr lang fuhren sämtliche Polizeiautos mit der Aufschrift “gfs” durch die Stadt. Das offensichtliche Plagiat liessen wir selbstverständlich gewähren. Schwierig war die erste Verwechslung, denn die GfS in der EU ist die “Gesellschaft für Strahlenforschung”. Entstanden ist sie aus der Atomforschung; später musterte sie sich zur wichtigsten Forschungsförderungsanstalt der Europäischen Union. Als ich in den 90er Jahren im ziemlichen Unwissen darüber gegen die Organisation klagen wollte und der Schweizer Botschaft in Brüssel schrieb, bedeutete mir diese unmissverständlich, das Ansinnen nicht zu unterstützen. Uebel war schliesslich alle Verwechslungen mit der GSF, der “Gesellschaft für Schlachtvieh und Futtermittel”. Das hat definitiv nichts mit Politik und Politikerinnen zu tun.

Bald gehe ich nun auf Achse! Bis dann begleite ich noch zwei Abstimmungssonntage. Der 12. Februar steht schon vor der Tür. Seit heute wissen wir definitiv, dass auch am 21. Mai gesamtschweizerisch abgestimmt wird – dank des zustande gekommenen Referendums der SVP zur Energiewende 2050. Das wird dann mein Abgang sein, denn genau einen Monat später, am 21. Juni 2017, breche ich zu meiner Weltreise auf. Die ersten 10 Wochen geht es als Stadtwanderer quer durch europäische Städte. Das ursprüngliche Programm sah eine Art Trilogie durch die “drei Rom” vor: Rom selber, Konstantinopel oder Istanbul und Moskau. Ich bin allerdings nicht mehr sicher, ob ich wirklich in die Türkei will. Alternative Städte auf dem Weg der europäischen Entwicklung werden sich sicher noch finden.
Moskau ist gesetzt. Am 1. September, stösst meine Partnerin, Barbora Neversil, zu mir. Dann geht es zusammen mit dem Zug quer durch Asien nach Peking, mit dem Schiff nach Australien und Tasmanien. Zu Weihnachten wollen wir da ankommen. Unser aktuellstes Projekt ist es, zu Silvester auf dem Südpol zu sein. Wenn es gelingt, sind Sie alle, meine Damen und Herren, zur grossen Neujahrsparty 2018 herzlich eingeladen!
Ich weiss, dass es Wetten gibt, ob ich loslassen kann oder nicht. Mein Vater ist überzeugt, ich sei nach 2 Wochen Reise wieder in Bern. Die Schweizer Politik habe mich zu stark gepackt. Meine Mutter wiederum findet, es wäre nicht schlecht, wenn ich nach 14 Tagen wieder zurück wäre. Die grosse Welt sei einfach zu gefährlich. Andere sind sicher, dass ich für länger Zeit die geplagten Parteipräsidenten in der Schweiz in Ruhe lasse. Die Sonntagszeitung spekulierte jüngst, spätestens zu den Wahlen 2019 sei ich wieder da.

Meine Damen und Herren, in wenigen Tagen bin ich 60. Die eine Hälfte meines bisherigen Lebens war ich ein eher spielerischer Junge, die andere ein hart arbeitender Politikwissenschafter. Was nun kommt, ist die Zeit des Historikers. Vielleicht lasse auch ich die strenge Arbeitswelt des Wissenschafters Thukydides hinter mir, und fröne ich ab nun dem freien Schaffen des Reisenden Herodot. Geschichte war immer meine Leidenschaft, und Geschichtenerzählen kann ich genauso gut, wie ich Analysen schreibe. Und so versichere ich jetzt schon, dass ich von unterwegs fleissig bloggen und twittern werden.
Wo ich schliesslich hängen bleiben werde, entscheide ich ganz nach griechischer Manier: Heimat ist dort, wo es Dir gut geht!

Claude Longchamp

CVP 2025 – Stärken und Schwächen.

Schriftliche Fassung meiner Rede als Replik auf die Präsentation des Reformprojektes von Gerhard Pfister, CVP-Parteipräsident an der Neujahrstagung der CVP Eschenbach, 7. Januar 2017.

Das Wichtigste ganz kurz
Es sind 25 Jahre her, seit ich das erste Mal an einer CVP-Versammlung auftrat. Während der Vorbereitung auf mein heutiges Referat habe ich mich gefragt, welche Parteipersönlichkeit ich dabei kennen gelernt habe. Hier meine fünf Erkenntnisse:
Erstens, die CVP-Familie ist kooperativ. Letztlich ist das Ihre grösste Stärke.
Zweitens, die CVPler sind weder eindeutig extravertiert, noch introvertiert. Sie sind eine gut Mischung aus allem.
Drittens, in der CVP gibt gleichzeitig offene und verschlossene Menschen. Eine CVP-Menschenschlag gibt es nicht.
Viertens, die CVP ist machtverwöhnt. Sie braucht mehr Gewissenhaftigkeit bei ihrer Arbeit.
Fünftens, vor allem die CVP-Exponenten sind heute reizbar; mehr Gelassenheit täte Ihnen gut.

Ein wenig CVP-Geschichte
Hier in der Nähe, in Ruswil, wurde 1840 im „Rössli“ die katholisch-konservative Bewegung begründet. Die Gründung des liberalen Bundesstaates ist dieser Strömung vorerst nicht gut bekommen. Man brauchte fünf Anläufe, und sich 1912 auf Bundesebene zu konstituieren. Schneller als das bildete man 1882 in Bern eine Fraktion, und man wurde 1891 gar regierungsfähig. Erster Bundesrat aus Ihren Reihen wurde Josef Zemp, ein Mann von altem Schrot und Korn. 15facher Familienvater! Anwalt der Eisenbahngegner! Grossrat, Ständerat, Nationalrat und schliesslich Bundesrat! In der Landesregierung erhielt der Entlebucher das Infrastrukturdepartement. Damit wurde er zuständig für die Eisenbahnen, die er eben noch bekämpft hatte. Er machte das mit Bravour, denn er gründete 1902 die SBB als staatliche Gesellschaft, die vielleicht beste schweizerische Institution. Das Historische Lexikon der Schweiz hebt hervor, dank dem Luzerner Zemp sei die Obstruktionspolitik der katholisch Konservativen überwunden worden. Der Freisinn und der politische Katholizismus wurden mit ihm und den Bundeseisenbahnen versöhnt – eine der zentralen Voraussetzungen für die Entwicklung der Schweiz.
1919 bekam die Schweizerische Konservative Volkspartei, wie die CVP damals hiess, einen zweiten Vertreter im Bundesrat; 1954 gab es vorübergehend einen dritten. Auf diesen Sitz verzichteten sie 1959 freiwillig, damit auch die Sozialdemokraten regierungsfähig werden konnten. Unfreiwillig musste auch die FDP einen Sitz abgeben, und sie verlor gemeinsam mit der BGB die Vorherrschaft über den Bundesrat. Die Zauberformel ist das Werk Ihres Generalsekretärs Martin Rosenberg. Sie brachte die institutionelle Politik in feste Bahnen, und sie erlaubte es, dass sich die Schweiz seit den 60er Jahren wirtschaftlich und gesellschaftlich spektakulär entwickelte.
1971 öffnete sich die neu benannte CVP konfessionell, mutierte sie von der Milieu- zur Volkspartei. Sie geben sich seither traditionsverbunden und gleichzeitig offen für Neues. Sie die dynamische Mitte, und sie verstehen sich als die Problemlösungspartei der Schweiz. Das sind ihre Leistungen, die allerdings nicht immer honoriert werden. Sie sind stark geblieben, wo es wenig Menschen hat, aber schwach, wo sich die Schweiz menschenmässig verdichtet.
2003 bekam die Erfolgsstory einen Knick. Ruth Metzler, die erste CVP-Frau im Bundesrat, wurde aus der Landesregierung abgewählt. Das Rennen machte Christoph Blocher von der SVP. Doch auch er wurde nach einer Legislaturperiode abgewählt, dank tatkräftiger CVP-Hilfe.
Zum doppelten Wechsel im Bundesrat kam es einerseits, weil sie seit 1979 an Wähler und Wählerinnen verloren hatten, anderseits, weil die Rechte mit je zwei SVP und FDP übervertreten war. Nutzniesserin war die BDP. Leider misslang der Versuch mit ihr eine Union zu bilden, sodass die Mitte in der polarisierten Schweizer Politlandschaft nachhaltig geschwächt ist.

Politik in der konsenslosen Konkordanzdemokratie

Seit 2015 stellen sie 13 von 46 Ständeräten. Das ist ihre Stärke. Sie haben noch 27 von 200 Vertreter und Vertreterinnen im Nationalrat. Das wiederum ist ihre Schwäche. In der kleinen Kammer können sie mit der FDP oder mit der SP Mehrheiten bilden. Im Nationalrat brauchen sie FDP und SVP oder FDP und SP, und sie sind in beiden Fällen in keiner besonders komfortablen Position. Denn das ist das Neue seit den letzten Parlamentswahlen. Sie haben ihre zentrale Rolle als Mehrheitsbeschafferin verloren. Das liegt jetzt an der FDP. Sie kann in der kleinen Kammer mit der SVP vorpreschen. Sie kann es auch mit der Linken versuchen. Letzteres funktioniert sogar im Ständerat.
Heute sind wir eine konsenslose Konkordanzdemokratie. Die Institutionen zwingen zur Kooperation, die Politiker begnügen sich jedoch mit Allianzen von Sachgeschäft zu Sachgeschäft. Deshalb leben wir in einem Hybrid – einem politisches System, geprägt durch Föderalismus und direkter Demokratie, die uns zu Zusammenarbeit anhält, aber auch ein System mit eitlem Kampf zwischen Parteien, die sich auf einem volatiler gewordenen Wählermarkt behaupten müssen. Die Medien lieben den neuen Wettbewerb, der seine gute Seite hat, wo Themen aufgebracht werden, die von Konsens zugedeckt wurde. Er kennt jedoch auch Grenzen, denn die immerwährende Themenbewirtschaftung zur Eigenprofilierung erschwert die Bewältigung von Problemen. Angesagt sind behaltslose Auslegeordnungen und konstruktive Lösungen.

CVP 2025 – die Stärken aus meiner Sicht
2016 haben sie sich eine neue Parteileitung gegeben. Auf diesem Weg, der jetzt folgt, teile ich einiges von dem, was sie eingeleitet haben, ich will aber auch einigem widersprechen.
Unter Gerhard Pfister hat die CVP ihre Medienpräsenz verbessert. Keine Sonntagszeitung kommt um ihren kommunikativ starken Präsidenten herum. Sieht er eine Kamera, ein Mikrophon oder einen Journalisten mit Notizblock, weiss der Intellektuelle auf vieles Fragen eine präzise Antwort. Das ist gut so, auch wenn der Novize noch nicht bekannt genug ist, um wirkliche Ausstrahlung zu erlangen.
Die CVP ist 2016 auch geschlossener geworden. Statistische Analysen des Verhaltens im Nationalrat zeigen, dass sie neuerdings einheitlicher stimmen als bisher. Das machen alle anderen Parteien schon lange so. Sie haben es jetzt aber auch begriffen. Vielleicht sind sie dabei, ihre grösste Schwäche zu korrigieren, der zu Machtverlust geführt hat.
Schliesslich sind sie als CVP strategischer geworden. Das ist eine Schwäche der meisten Parteien in der Schweiz, doch ausserhalb des Zentrums ist man sich dem früher als im Zentrum bewusst geworden. Nun analysieren auch sie eigene Stärken und Schwächen, setzen sich eigene Parteiziele und fragen danach, was nötig ist um von A, der Ausgangslage, nach Z, dem Ziel zu gelangen.
Das alles sind schnelle Verbesserungen, die sich mit der neuen Parteileitung eingestellt haben. Das Beliebige an ihrem Profil ist am Schwinden, die Allerweltspartei bekommt Konturen, und die CVP wird ambitionierter. Das ist gut so!
Zu den grossen Vorteilen Ihres neuen Präsidenten gehört, ausgesprochen gewissenhaft zu sein. Das ist seine Stärke. Vielleicht mangelt es ihm dafür an Gelassenheit. Nicht jede Kritik, die in Medien geäussert wird, will ihn und seine Präsidentschaft gleich in Frage stellen. Eine Weile lang geben ihm viele Kredit. Gut möglich aber, dass man so auf vorhandene Schwächen an Person und Partei verweisen will.
Denn mit dem anstehenden Reformprozess geht es nicht nur um den Präsidenten. Es geht auch um die Partei als Ganzes.

Optionen zur Verbesserung der Volkspartei

Die Politikwissenschaft kennt verschiedene Varianten zum vorherrschenden Typ der Volkspartei; zwei kann ich der CVP empfehlen.
Volksparteien können erstens versuchen, professioneller zu werden, indem sie sich besser organisieren. Wählende werden besser integriert, partizipieren mehr und können auch besser mobilisiert werden. Das eröffnet ihnen namentlich auf nationaler Ebene Chancen. Denn da wirken sie als Kind des Föderalismus bisweilen rückständig. Zu den wichtigsten Verbesserungspotenzialen zählt die zentralisierte Kommunikation, nicht zuletzt via Internet und sozialen Medien. In meiner Einschätzung können sie so einen Beitrag zur Wende leisten; reichen wird er indessen nicht.
Aussichtsreich ist es zweitens, das mit der Ausrichtung als der Programmpartei zu kombinieren. Eine eigentliche Themenpartei wie die Grünen mit der Umweltpolitik, wie die SP mit der sozialen Frage, die FDP in Wirtschaftsthemen und die SVP mit ihrem Kampf gegen die EU werden sie nie werden. Sie können aber ihr bisheriges Themenprofil erheblich schärfen. Wahrgenommen werden sie als Familienpartei – und danach ist schnell fertig! In meiner Wahlanalyse 2015 schrieb ich, Ansätze zur thematischen Profilierung der Partei ergeben sich in der Gesundheitspolitik, der sozialen Sicherung, der Energiepolitik und der Migrationsproblematik. Keinen speziellen Nutzen auf dem Wählermarkt kann sich die CVP indessen von der Europa-Politik erhoffen. Sie stark ist das die Konkurrenz.
Entsprechend kann ich mir eine CVP vorstellen, die bürgerlich und sozial zugleich ist. Das ist nicht die Stärke der FDP. Ich kann mir genauso gut eine CVP eine Zukunft ausmalen, die Probleme mit der Migration angeht, ohne anti-europäisch zu sein, wie das die SVP tut. Auch die ökologische Energiepolitik muss die CVP nicht der GLP oder BDP überlassen; sie kann mit Offensiven da selber punkten. Letztes Jahr bilanzierte ich das so: „Die CVP entwickelt sich zu einer Partei mit programmatischen Aussagen, ohne dass es schon klare Favoriten unter den Themen gibt, die in der breit gefächerten Wählerschaft wirklich relevant sind.“
Mit Blick auf die Wahlen 2019 sollte die CVP zu einer erkennbaren Programmpartei werden, die man nicht nur aus Tradition wählt, sondern aus Ueberzeugung in der Sache. Denn Sie sind Schweizer Meister, wenn es darum geht, Wählende für sich zu gewinnen, deren Eltern schon die gleiche Partei gewählt haben. Sie rangieren dafür ganz am Ende der Rangliste, wenn es um neue Wähler und Wählerinnen geht. Und um die gewinnen, braucht mehr thematisches Profil. Das ist die Zukunftsformel. Ich empfehle Ihnen, stark an ihrem Profil zu arbeiten, nicht der Profilierung willen, sondern in der Verbindung von Ecken und Kanten zu Inhalten

CVP 2025 – die Schwächen aus meiner Sicht

Das erste Risiko mit CVP 2025 ist die Kennzeichnung der Partei als „sozial-konservativ“. Mit sozial im bürgerlichen Sinne kann man sicher mehr anfangen. Hingegen ist umstritten, ob ihre Wählerschaft wirklich konservativ ist. Das lag 2015 nach der Wahl mit dem Rechtsrutsch in Luft. Ohne Zweifel ist auch ihr neuer Präsident sozial-konservativ. Ich zweifle aber, dass ihre jetzige Wählerschaft mit diesem Etikett hinreichend erfasst wird. Es kann sein, dass sie in den Stammlanden damit punkten. Ich bin aber sicher, dass ihre Erosion in den städtischen Gebieten damit beschleunigt wird. Das könnte ein Nullsummenspiel werden, gar eines mit einem Minus davor. In dieser Hinsicht wurden sie schon früh gewarnt, beispielsweise durch den verstorbenen Professor Walter Wittmann, der sie auf dem Weg zu einer Partei der Peripherien sah. Sie müssen ihre Strategie auf zwei Beine stellen: in dem Stammlanden nicht mehr verlieren, und in den grossen Agglomerationen des Landes wachsen. In Zürich, in Bern, in der Waadt und im Aargau lebt fast die Hälfte der Menschen der Schweiz. Da haben sie vier Nationalratsmandate und einen Wähleranteil von 2 bis 3 Prozent.
Neueste Untersuchungen zeigen, dass ihre Wählenden wirtschaftlich wettbewerbsorientiert sind, dass sie sich mehrheitlich eine offene Schweiz wünschen. Zudem verstehen sie sich als moderat modern. Sicher, sie sind weniger marktwirtschaftlich eingestellt als die Wählerschaft der FDP, vergleichbar mit jener der SVP, neigen aber deutlich mehr in dieser Richtung als die Basis von SP und Grünen. Ihre Wählerschaft ist weniger offen nach aussen als jene der linken Parteien, jedoch vergleichbar mit jener der FDP, und mehr als die der SVP. Gleiches gilt auch, wenn es um moderne Haltungen geht. Mit der FDP stehen sie da zwischen den Polen. Deshalb mache ich es deutlich: Ihre Wählerschaft ist nicht sozial-konservativ, wie die neue Parteileitung gelegentlich meint. Sie ist sozial und gemässigt liberal eingestellt.
Sie tun gut daran, ihr thematisches Profil daran auszurichten. Den Fehler, die konservative Klientel bedienen zu wollen, haben sie schon bei Ihrer Initiative gegen die Heiratsstrafe gemacht. Wäre das ein Begehren zur Abschaffung der ungerechten Situation für verheiratete Paare gewesen, sie hätten die Abstimmung glatt gewonnen. Verloren haben Sie sie, weil sie auf dem Nebenschauplatz auch die Definition der Ehe regeln wollten. Das kam zuerst bei den Medien schlecht ab. Denn die Journalistinnen und Journalisten wissen längst, dass wie man Schwachstellenkommunikation betreibt: Kritisiere nicht das Ganze, aber die schwächste Stelle! Die Nein-Kampagne brauchte das nur noch zu verstärken. Dann schmolz der erkleckliche Vorsprung an Zustimmung in der Bevölkerung, bis die Sache scheiterte. Dem Parlament konnten Sie klar machen, was das Gute an der Initiative war, und es ist darauf eingegangen. Sie hätten einen brillanten Erfolg feiern können, wären sie dem konservativen Anliegen nicht aufgesessen. Das meine ich mit „zu konservativ“: für bürgerlichen Kernschichten kämpfen, nicht für Aussenseiteranliegen.
Generell, ich zweifle, dass die Neubegründung der Schweiz als christliche Gesellschaft gelingt.
Wie andere auch, bin ich fasziniert, wenn man die Frage nach der schweizerische Identität stellt. Seit mehr als 10 Jahren betreibt unser Institut Forschungen auf diesem Gebiet. Unser wichtigster Schluss: Schweizer Identität ist mehrschichtig – wir sind stolz auf unsere Produkte, unsere politischen Werte, auf unsere Firmen, die Exportwirtschaft, unsere politisches System und unsere politische Kultur. Keines dieser Bestandteile dominiert wirklich; die Einheit entsteht aus der Vielfalt der Ansatzpunkte, die es verschiedensten Individuen und Gruppen erlauben, sich mit dem Land, seinen Leuten und Leistungen zu identifizieren. Wenn dabei etwas dominiert, ist es die Angst der Gefährdung, von aussen mit international negativen Entwicklungen, aber auch von innen, mit dem Egoismus und der Polarisierung.
Wenn sie die Schweizer Werte auf einen Aspekt reduzieren wollen, werden sie meines Erachtens scheitern. Natürlich ist das Christentum, die Basis unserer Gesellschaft. Doch gibt es in seiner Geschichte nicht nur Sternstunden, auch solche der tiefen Dunkelheit. Sie das hiesige Christentum ist gespalten, und diese Spaltung hat mit der Reformation die grösste Krise in der Staatswerdung ausgelöst. Wir brauchten 200 Jahre, um zum Frieden zurückzukehren, der auf der Basis der Parität der Konfessionen basiert. Dafür war die Aufklärung nötig. Seither gilt: Religionen sind nicht Wahrheiten, an die sich alle halten müssen. Was für alle gilt, bestimmen wir seither politisch, in die Auseinandersetzung.
Führen Sie also eine Debatte über Schweizer Werte. Bleiben sie dabei pluralistisch in ihrer Sicht auf die Schweiz, denn niemand kann unser Volk alleine bestimmen und vertreten. Gesellschaftliche Probleme, die sich aus zugewanderten, religiösen Menschen ergeben, sollen angegangen werden. Dies jedoch aus der Position des wechselseitigen Respekts, nicht der Herr-im-Haus Standpunktes.

Mein Rat: kooperative Kraft sein, die gewissenhaft und gelassen politisiert
Ihre grösste Stärke ist es, die Mitte der Politik in Regierungen und im Ständerat zu prägen. Das leisten die Persönlichkeiten Ihrer Partei, die ein überparteiliches Profil entwickelt haben. Ihre grösste Schwäche ist jedoch das konturenlose Programm. Das sollen Sie ändern, damit die reichlich vorhandenen Mitte-Wählenden klar wird, warum sie CVP wählen sollen, und der Leistungsausweis, der aufzeigt, wofür das nützlich ist. Das sollen Sie vor dem Hintergrund machen, eine Partei für bürgerliche Kernschichten zu werden, die sozial und offen sind, aber weder klar links noch rechts stehen.
Und dann noch dies: Bleiben Sie bei Ihrer grössten Stärke, die kooperative Kraft in der Schweiz zu sein! Respektieren Sie, dass die Persönlichkeitsmerkmale Ihrer Wählerschaft einen Mix darstellen. Seien Sie und Ihre Vertreter etwas weniger gereizt, wenn man ihnen diesen Spiegel vorhält. Und vor allem, seien Sie wieder gewissenhafter, wenn Sie Politik betreiben!
Claude Longchamp

Über Normal- und Spezialfälle der Meinungsbildung bei Behördenvorlagen

Die Ausgangslagen

74 Ja zu 21 Nein bei der erleichterten Einbürgerung, 60 zu 32 beim Strassenfonds und 50 zu 35 bei der Unternehmenssteuerreform. So lauten die nackten Zahlen für bestimmt und eher dafür resp. bestimmt und eher dagegen, wie sie die SRG-Umfrage des Forschungsinstituts in der ersten Befragungswelle zu den Volksabstimmungen vom 12. Februar 2017 ermittelt hat.

Punktgenaue Prognosen sind das alles mit gutem Grund nicht: Die Unentschiedenen verschwinden bis zum Abstimmungstag. Denkbar ist sogar, dass BefürworterInnen, die eher dafür sind, schliesslich dagegen stimmen, und umgekehrt. Schliesslich kann auch eine asymmetrische Mobilisierung das Ergebnis entscheidend beeinflussen.

Deshalb sind diese Zahlen genauso wichtig: Nur 35 Prozent haben bei der Unternehmenssteuerreform eine eindeutige Stimmabsicht. Beim Strassen-Fonds sind es 48 Prozent und bei der erleichterten Einbürgerung liegt der Wert bei 60 Prozent. Die Resultate basieren auf den Antworten jener 42 Prozent, die sich bestimmt an der Abstimmung beteiligen wollen.

Was bis zum 12. Februar 2017 geschieht, weiss niemand. Man kann es zwar nicht eindeutig, aber als Szenario abschätzen.

Der Normalfall der Meinungsbildung bei Behördenvorlagen

Alle drei Abstimmungsgegenstände vom 12. Februar entsprechen zum jetzigen Zeitpunkt dem Normalfall von Meinungsbildung bei einer Behördenvorlage: Unentschiedene verteilen sich in einem variablen Verhältnis auf beide Seiten. Das bedeutet, sowohl der Ja- wie auch der Nein-Anteil nehmen zu.

normalfall

Bezogen auf die aktuellen Messwerte liegen am 12. Februar 2017 drei Annahmen in der Luft. Bundesrat und Parlament setzen sich in diesem Szenario flächendeckend durch, wie sie das notabene auch bei allen 13 Volksabstimmungen seit den letzten Parlamentswahlen getan haben. Die genauen Ergebnisse für den 12. Februar kennt man zwar noch nicht, letztlich zählt aber, wer sich durchsetzt. Dafür spricht auch, dass FDP und BDP welche 2016 eine lückenlose Gefolgschaft der Stimmenden für ihre Parolen fanden, alle drei Vorlage zur Annahme empfehlen.

Der Spezialfall – und wie man ihn erkennt

Doch gibt es auch Spezialfälle der Meinungsbildung. Das heisst bei Behördenvorlagen, dass die Zustimmungsbereitschaft nach den ersten Umfragen abnimmt. Dies muss nicht einmal die Folge eines individuellen Meinungswandels sein, etwa, dass aus anfänglichen BefürworterInnen schliesslich GegnerInnen werden. Es kann auch eine Folge veränderter Beteiligungsstrukturen sein.

spezialfall

Dies ist durchaus wahrscheinlich, wenn die Mobilisierung durch den Abstimmungskampf ungleich ausfällt. Zum Beispiel dann, wenn die Zusatzbeteiligung misstrauischer Menschen schneller zunimmt als vertrauender. Dann sinken grundsätzlich die Annahmechancen von Behördenvorlagen.

Im Moment sind beide relevanten Gruppen, vertrauende und misstrauische BürgerInnen, mit je 43 Prozent gleich stark beteiligungsbereit. Sollte es aber zu einer ausserordentlichen Zusatzmobilisierung von über 5 Prozentpunkten kommen, ist nicht gesichert, dass sich das auf beide Gruppen gleich stark auswirkt. Relevant wird die Entwicklung dann, wenn die Beteiligung der vertrauenden BürgerInnen konstant bliebe oder nur wenig zu zunähme. Und wenn sich die misstrauischen BürgerInnen um 10 oder 15 Prozentpunkte verstärken würden.

Erkennen kann man das am besten an Skandalen, welche die Behörden oder ihre Information negativ betreffen. Denn das demotiviert Menschen mit Vertrauen in den Bundesrat, sich an Abstimmungen zu äussern, es motiviert aber auch solche mit Misstrauen in die Bundesregierung. Aber auch eine Kampagne, die sich aus einer Proteststimmung heraus aufbaut kann das bewirken. Etwa durch die SVP, die erst in der Schlussphase, dann aber massiv gegen die erleichterte Einbürgerung mobilisiert und dabei über die eigene Wählerschaft hinaus all jene anspricht, die erneut gegen die Ausländerpolitik ein Zeichen setzen wollen.

Denkbare Folgen von Spezialfällen für den Abstimmungsausgang

Wir schätzen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Spezialfalls beim Strassen-Fonds am geringsten ist. Die Stimmabsichten sind viel zu stark auf der Dimension Nutzen/Schaden angelegt. Der Normalfall der Meinungsbildung ist hier am wahrscheinlichsten.

Selbstredend ist der Spezialfall bei der Einbürgerungsvorlage am wahrscheinlichsten, wenn die SVP dagegen ansetzt. Zu erwarten ist, dass dann die Zustimmungsbereitschaft sinkt. Ob es für einen Mehrheitswechsel ausreicht, hängt von den Reaktionen der CVP- und FDP-WählerInnen ab. Da noch viel geschehen müsste, um einen solchen zu bewirken, gehen wir derzeit nicht von einem Mehrheitswechsel aus.

Schliesslich die Unternehmenssteuerreform. Hier können sich sowohl eine neuartige Meinungsbildung als auch eine unübliche Mobilisierung sofort auf die Mehrheitsverhältnisse auswirken. Ersteres wäre dann der Fall, wenn der Rekurs auf die gerügte Informationspraxis der Behörden bei der Unternehmenssteuerreform zum grossen Thema würde, oder aber wenn die rechtspopulistische Mobilisierung via Einbürgerungsvorlage massiv werden sollte.

Auf dem Weg zur illiberalen Demokratie

erschienen am 1.1.2017 in Schweiz am Sonntag

Seit der Wahl Donald Trumps zum 45. US-Präsidenten ist Populismus in aller Munde. Politische Gegner, Leitartikler und Wissenschaftler kennzeichnen damit Opportunismus jenseits bekannter Weltanschauungen, aggressive Kommunikationsstile gegenüber Widersachern oder autoritäre Politikertypen, die Tabus brechen und kleine Leute ansprechen. Reicht das, um zu verstehen, was 2017 in Europa möglich werden kann.

lepen

Das Phänomen
Zur Kennzeichnung von Populismus rückt der niederländische Politologe Cas Mudde die scharfe Trennung von Elite und Basis ins Zentrum: hier das reine Volk, da korrupte Politiker. Nach Jan-Werner Müller, einem deutschen Ideengeschichtler, beanspruchen Populisten zudem die Alleinvertretung des Volkes, die sie mit dem absoluten Willen zur Macht verbinden. Für Karin Priester, deutsche Historikerin, ist Populismus eine schwache Ideologie, die nur in Verbindung mit rechten oder linken Programmen vorkommt.
Oekonomen sehen einen direkten Zusammenhang von Populismus und Globalisierung. Denn sie schafft mit der Ungleichheit zwischen Reich und Arm die wichtigste Voraussetzung für populistische Parteien. Forschungen zeigen, dass deren Wähleranteil rund 5 Jahre nach Finanzmarktkrisen einen Aufschwung kennt. Derweil können sie sich als Parlaments- oder Regierungsparteien etablieren. Danach verringern sich die Effekte oder verschwinden ganz.
Doch ist der Populismus kein Kind des 21. Jahrhunderts. Vielmehr ist er eine schon länger anhaltende Gegenbewegung zum liberalen Grundverständnis, das in den 90er Jahren konsmopolitischer wurde. Kampfbereiche sind die pluralistische Demokratie, der Multilateralismus, die kultureller Toleranz und progressive Gesellschaftsvorstellungen. Denn das kennzeichnet das verfemte Establishment aus, gegen das sich der Populismus wendet.

Wichtige Wahlen 2017
In Frankreich finden 2017 wegen dem Terrorismus Wahlen unter Notrecht statt. Gemäss jüngsten Eurobarometer beschäftigt einzig die Arbeitslosigkeit die Franzosen mehr als die islamistische Gewaltanwendung. Zur Präsidentschaftswahl tritt Marine LePen, Chefin des Front National, an. Umfragen geben ihr und ihrem konservativen Widersacher Francois Fillon für den ersten Wahlgang vergleichbare Chancen. Im zweiten würde, Stand heute, der Kandidat der traditionellen Rechten im Verhältnis von 2 zu 1 gewinnen.
Vielen Beobachtern gilt der Front National als rechtsextrem, kombiniert mit rechtspopulistischem Stil. Ideologische Kennzeichen sind EU-Skepsis und Nationalismus, gesellschaftlich ergeben sich aber Bezüge zu sozialen Forderungen. Im Europaparlament zählen die FN-Vertreter zur EU-kritischen „Europa der Nationen und Freiheit“. Zudem zeigt LePen offene Sympathien für Russlands Putin. An Trump schätzt Le Pen den Kampf gegen das globalisierte Elite. “Damit hat er das Unmögliche möglich gemacht”, sagte sie gegenüber CNN. Uebersetzt auf Frankreich dürfte das bei einem Wahlsieg ein Referendum zum Austritt aus der EU bedeuten.

Die niederländische Partei für die Freiheit ist im Europaparlament in der gleichen Fraktion wie der FN. Ihr Führer Geert Wilders ist wegen hetzerischen Politik jüngst gerichtlich verurteil worden. Davon unberührt wählte ihn eine 40000köpfige Online-Gemeinschaft erneut zum Politiker des Jahres. Auch in jüngsten Umfragen liegt Wilders‘ PVV mit knapp 30 Prozent neuerdings an der Spitze. Der Wahlsieg bei den Parlamentswahlen rückt in greifbare Nähe. Bezweifelt wird allerdings, dass dem Aussenseiter eine Regierungsbildung gelingt. Zu schwach ist seine Verankerung im Parlament.
Eurobarometer-Befragungen zeigen in den Niederlanden einen von Frankreich verschiedenen Hintergrund. Zentral sind Sorgen rund um die soziale Sicherheit, kombiniert mit Zuwanderungskritik. Wilders verbindet beides, indem er seine ursprünglich rechtsliberalen Parolen mit anti-muslimischer Forderungen konkretisierte. Dazu gehört die Schliessung sämtlicher islamischer Schulen bei einer Regierung unter ihm. Auch Wilders stellt seine Politik bewusst ins Licht von Donald Trump: “Amerika gewann 2016 seine nationale Souveränität, ja seine Identität, zurück. Sie propagiert ihre eigene Demokratie – eine wahre Revolution”, kommentierte er jüngst im Interview mit Russia Today.

In Deutschland fordert der Alternative für Deutschland die etablierte Politik heraus. Dabei kann sie sich auf erhebliche Zuwanderungssorgen der Deutschen stützen. Dank schroffer Opposition zur Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel schaffte sie jüngst den Einzug in 10 der 16 Landtage. Nationale Umfragen sehen einen denkbaren Wähleranteil bis 16 Prozent. Bundestagsmandate sind damit wahrscheinlich. Der Aufstieg zum Regierungspartner wird kaum folgen. Möglich ist eine Schwächung der CDU/CSU mit einer rot-rot-grünen Koalitionsregierung als Folge. Eine neue Regierung Merkel hätte zudem einen parlamentarischen Widersacher von rechts.
Gestartet ist die AfD 2013 als Partei gegen den EURO-Rettungsschirm im wirtschaftsliberalen Milieu. 2015 erneuerte sie Führung und Programm; seither gilt sie als nationalkonservativ. Partiell finden sich völkische resp. rechtsextreme Ideen. Im Europaparlament sitzt ihre Vertretung neuerdings neben LePen und Wilders. Zu Trump gibt es nur eine beschränkte Nähe. Seine Wahl bezeichnete Parteipräsidentin Frauke Petri zwar “als Sieg über politische korrekte Establishment, das kaum Interesse am Wohlergehen des Volkes zeige”; wiederholt nannte sie jedoch die SVP als AfD-Vorbild.

Was heisst das alles?
Politikwissenschafter sehen im Populismus zuerst ein Zeichen für das Versagen demokratischer Regierungen, erst dann eine Vorstufe zu einem diktatorischen Regime.
Selbst in der gemässigten Variante stehen rechtspopulistische Politiker und Parteien für einen Uebergang zu einem postliberalen Zeitalter. Zur Disposition stehen die liberale Demokratie, weltanschaulich von christdemokratisch über liberal zu sozialdemokratisch aufgestellten Volksparteien. Sie wenden sich gegen die kosmospolitische Kultur des liberalen Westens.
Italien, das in den 90er Jahren Trendsetter in der EU war, hat unter Berlusconi dennoch die Demokratie nicht abgeschafft. Das gilt auch für die Slowakei und Litauen, wo gegenwärtig rechtspopulistische Parteien in Koalitionsregierungen eingebettet sind. Es trifft auch auf weitere osteuropäische Länder zu, die nationalkonservative Regierungsparteien mit rechtspopulistischem Charakter kennen.
In Polen, Ungarn und Grossbritannien bilden Rechtskonservative mit offenen Ohren für Rechtspopulismus die Regierungen alleine. Ungarn ist dabei dem Einparteienstaat am nächsten. Daran kann man am klarsten ablesen, was kommen könnte: Denn auch ohne Wahlsiege bieten die Wahlen 2017 eine ideale Plattform für die rechtspopulistische Kritik am herrschenden System. Der Politikerverdruss der Massen verbindet sich dabei mit einer Abkühlung demokratischer Ueberzeugungen speziell in nachwachsenden Generationen. Alles funktioniert auf der Basis eines erstarkten Nationalismus, ist autokratisch und Europa-aversiv. Vor allem verringert sich das Bewusstsein für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Die liberale Demokratie mutiert so schrittweise zu einem illiberalen Typ.

Claude Longchamp