Worüber wir am 21. Mai 2017 abstimmen: die Energiestrategie 2050 in der Vorschau

Die Volksentscheidung zur Energiestrategie 2020 steht an. Hier erläutere ich, worum es geht, was das Parlament entschied und was man vom Abstimmungskampf bereits sieht, um zu beantworten, was für eine Entscheidungstyp wir erwarten.

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Am 21. Mai 2017 stimmt die Schweiz über die Energiestrategie 2050 ab. Dabei handelt es sich um das Programm von Regierung und Parlament, das im Gefolge des Unfalls in Fukushima 2011 entwickelt worden ist. Verabschiedet wurde es am 30. September 2016. Die SVP hat dagegen das Referendum ergriffen und die erforderliche Unterschriftenzahl rechtzeitig beigebracht.

Worum es geht
Mit der Energiestrategie 2050 stellt sich der Bund auf erwartete Veränderungen – ausgelöst durch Wirtschaft, Technik und Politik – der Energiemärkte ein. Mir ihr soll die Schweiz die neue Ausgangslage vorteilhaft nutzen und ihren hohen Versorgungsstandard erhalten. Gleichzeitig trägt die Strategie dazu bei, die energiebedingte Umweltbelastung der Schweiz zu reduzieren. Konkret geht es darum, den Energieverbrauch zu senken und erneuerbare Energien mit geeigneten Massnahmen auszubauen. Zudem hält die Energiestrategie 2050 fest, dass die Schweiz aus der Kernenergie aussteigt, indem bestehende Kernkraftwerke nicht durch neue ersetzt werden dürfen. In Aussicht gestellt wird ferner ein zweites Massnahmenpaket, das aber noch nicht vorliegt und über dieses am 21. Mai 2017 auch nicht abgestimmt wird. Bei einem Nein zur ersten Etappe würde es genauso wie die bereits vorbereiteten Verordnungsänderungen obsolet.

Parlamentsentscheidung und Referendum

Der National- und der Ständerat stimmten der Energiestrategie 2050 zu. Die grosse Kammer votierte bei 6 Enthaltungen mit 120 zu 72 dafür, in der kleinen Kammer lautete das Verhältnis 35 zu 6 bei 3 Enthaltungen. Die Ja-Stimmen kamen im Wesentlichen aus den Reihen der SP, der Grünen, der CVP, der GLP und der BDP. Uneinheitlich war die Stimmabgabe namentlich bei der FDP. Mehrheitlich war man dafür, minderheitlich dagegen. Dagegen wandten sich die Vertreter der SVP. Während der Unterschriftensammlung wandte sich die SVP vor allem aus Kosten- und Naturschutzgründen gegen den Bundesbeschluss. Die finanziellen Folgen für die Haushalte seien zu hoch, ebenso würden die absehbaren, zahlreichen Windräder das Landschaftsbild beeinträchtigen. Zudem könne die Versorgungssicherheit nur mit Kernenergie gesichert werden.
Extrapolationen aus den Schlussabstimmungen im Parlament sprechen für eine Zustimmungsmehrheit. Stellt man auf den Ständerat ab, kommt man auf 59:41, beim etwas kritischeren, meist aber zuverlässigeren Nationalrat reicht es für 54:46. Betont sei, dass beide Ableitungen von einer normalen Wirkung des Abstimmungskampfes ausgehen, sprich von einer aufbauenden Kraft seitens der Mehrheit.

Anfänge des Abstimmungskampfes
Die Fassung von Parolen ist bereits in Gang. Bisher ergeben sich keine Abweichungen von der Parlamentsposition. Mit Spannung erwartet man vor allem die Positionierung der FDP. Diese steht an der Delegiertenversammlung vom 4. März 2017 an. Der Fraktionsmitglieder finden sich in beiden Komitees. Die Konferenz der Kantonalparteien empfiehlt mit 14:13 Zustimmung.
Von den grossen Wirtschaftsverbänden hat sich der Schweizerische Gewerbeverband für die Vorlage ausgesprochen, während sich economiesuisse noch nicht entschieden hat. Immerhin unterstützte der Dachverband der Wirtschaft die Unterschriftensammlung nicht. Dafür ist der Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke, dagegen sind der Baumeisterverband, kritisch geäussert hat sich zudem Swissmem. Zustimmung beschlossen haben der Bauernverband und der Städteverband.
Vom Abstimmungskampf merkt man noch wenig. Plakate fehlen noch ganz, Inserate auch. In den sozialen Medien gibt es die ersten Positionsbezüge, kaum aktiv sind die Massenmedien. Grösseres Aufsehen erregte bisher nur der Entscheid, das vorübergehend abgestellte Kernkraftwerk Leibstadt wieder ans Netz zu bringen. Proteste gab es seitens der Grünen, beschränkt auch aus dem nahen Ausland. Namentlich die rasche Ausserbetriebnahme am Tag nach der Inbetriebnahme sorgte für Verwirrung, verbunden mit Kritik am federführenden ENSI.

Klassierung des Entscheidungstyps
Bis jetzt liegt keine repräsentative Befragung zu den Stimmabsichten im Vorfeld der Volksabstimmung über die Energiestrategie 2050 vor. Eine Online-Panel-Befragung unter Leitung des Instituts für Wirtschaft und Ökologie der Universität St. Gallen, in den ersten drei Tagen nach der Volksabstimmung über die Atomausstiegsinitiative durchgeführt, spricht von 55 Prozent der Stimmberechtigten für und 11 Prozent gegen die neue Energiestrategie. Mit 76 Prozent Ja sind die Wählenden der GLP am ehesten dafür, Bei der FDP beträgt der Anteil 68 Prozent, bei der SVP jedoch nur minderheitliche 40 Prozent. Da relativ viele Unschlüssig sind, gibt es an keiner Parteibasis eine gesicherte Mehrheit dagegen.
In unserem Klassifikationsschema handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine positiv prädisponierte Behördenvorlage. Hauptgrund ist, dass das Thema nicht neu ist und sich vorläufige Stimmabsichten mit dem Abstimmungskampf zur Atomausstiegsinitiative der Grünen ausgebildet haben dürften. Fragen des Atomausstiegs zeigten immer wieder, dass die Meinungen nicht gänzlich stabil sind, jedoch Vorahnungen zu Stimmabsichten frühzeitig ausgebildet sind. Wenig wahrscheinlich ist es deshalb, dass es sich bei der Energiestrategie um eine nicht prädisponierte Entscheidung handelt. Wäre das so, wäre die Mehrdimensionalität der Vorlage, die sich nicht ohne weitere Informationen erschliesst, der Grund.
Bei einer positiv vorbestimmten Entscheidung entwickeln sich die Stimmabsichten im Normalfall weg von Unentschiedenen hin zu beiden Lagern. Eine Zunahme der Befürworter sowie der Gegner ist das wahrscheinlichste, was für eine Zustimmungsmehrheit in der Volksentscheidung spricht. Namentlich dann, wenn die Entscheidung nicht vorbestimmt sein sollte, kann es auch zu einem Spezialfall der Meinungsbildung kommen, bei dem die Opposition wächst und gleichzeitig die Zustimmung sinkt.

Claude Longchamp

Wahlen im Zeitalter des populistischen Machtanspruchs

Heute begann meine Bachelor-Vorlesung zur Wahlforschung an der Uni Zürich. Hier einige Gedanken, die ich meiner Einleitung von heute zugrunde gelegt habe resp. die ich im Verlaufe des Semesters vertieft begründen möchte.

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Vorneweg die Fakten: Donald J. Trump ist nach US-amerikanischem Wahlrecht zum Präsidenten für die Jahre 2017-2020 gewählt worden. Die Stimmen der Elektoren sprachen eindeutig für ihn, auch wenn eine direkte Volkswahl wohl anders ausgesehen hätte. Trump kann sich auf eine Mehrheit in beiden Parlamentskammern stützen, und er kann seinen Einfluss auf die höchsten Gerichte mit der Zeit erhöhen. Sein bisher grösstes Problem sind die Medien, namentlich die liberale Presse, die klar gegen ihn eingestellt ist. Problematisch ist auch sein Rückhalt in der tief gespaltenen Gesellschaft, die sich gegen ihn aktiviert.

Die richtige Analyse der US-Wahl 2016 ist noch nicht geschrieben. Vielfach vermutete Annahmen waren der erfolgreiche populistische Appel in seinem unüblichen Wahlkampf, die Symbiose von Marktmedien und tabubrechenden Politikern, der überraschende Durchbruch des Aussenseiters bei den primaries der Republikaner, der Frust der Industriearbeiter über den Niedergang ihrer Branchen und die Angriffsflächen, die beide BewerberInnen boten.
Weitgehend unbestritten blieben die Ergebnisse der Exit-Polls am Wahltag. Sie legen nahe, dass sich die Wählerschaften der beiden KandidatInnen hinsichtlich der stets wirksamen Parteiidentifikationen (Republikaner vs. Demokraten), der sich widersprechenden Weltanschauung (Konservatismus vs. Liberalismus) und der zentralen Streitthemen (vor allem dem Mauerbau zu Mexico) nach geschlagenem Wahlkampf klar unterschieden. Hinzu kamen gegensätzliche Bewertungen der Regierung Obama, diametral andere Diagnosen zur gewünschten politischen Richtung zwischen Internationalismus und Nationalismus resp. zwischen Freihandel und Protektionismus. Die Haushalte lasen dies aufgrund ihrer realen oder erwarteten Finanzlage je nach Schicht verschieden.
2016 die von Obama 2008 geformte Wählerkoalition aus demokratischen KernwählerInnen, aber auch ethnischen Minderheiten teils zerfallen. Je höher die Arbeitsplatzverluste in einer Gegend waren, desto stärker orientierte man sich selbst in traditionell demokratischen Wahlkreisen neu. Viel zitiert wurde dabei der rust-belt mit der serbelnden Automobilindustrie, wo sich namentlich die weissen Arbeiter den Republikanern zuwandten. Da ging es aus Wählersicht nicht um Nutzenmaximierung, wohl aber um Schadensbegrenzung. Genau das haben die akademisch gebildeten Oberschichten in den liberalen Städten übersehen, weil sie vom Auftritt des republikanischen Präsidentschaftskandidaten zunehmen angewidert waren und sich mehr denn je neu orientiert haben.

Bis jetzt sind mir zwei mehrschichtige Analysen der Wahl aufgefallen. Die erste stammt von Allan Lichtman, dem Historiker, der seit 1984 alle Präsidentschaftswahlen richtig prognostiziert hat. Aus seinen 13 Schlüsseln zum Weg ins Weisse Haus kann man die Erfolgsstory bei den letzten US-amerikanischen Wahlen so ableiten: Da sind einmal die beiden Kandidatinnen, Trump der tollpatschige Charismatiker, der die Aufmerksamkeit auf sich zog, und Clinton, die kompetente Frau, die zu lange in Washington war und abgegriffen wirkte. Da geht es um die Amtsdauer der Herrschaft der Demokraten, die mit 8 Jahren Obama-Regierung an ihre eigene Grenze stiess. Da fehlte vor allem der grosse Wurf in der zweiten Legislatur, der die regierende Partei neu erfunden hätten. Da waren die verlorenen mid-terms zwei Jahre zuvor, bei denen die Zeichen auf Wechsel gestellt worden waren. Lichtman analysierte das Ergebnis auch aussenpolitisch, wobei der für die USA so wichtige Erfolg fehlte, ja die Obama-Regierung im nahen Osten eine eigentliche Niederlage erlitt. Jeder dieser Gründe hätte für sich genommen nicht gereicht, meint der Historiker; die Gesamtheit der genannten Ursachen seien aber ausreichend genug, um den Sieg von Trump zu begründen. Der einzige, der Trump hätte verhindern können, sei Trump selber, meinte Lichtman kurz vor der Wahl. Nach der Wahl sagte er, es sei gut möglich, dass er in ein Amtsenthebungsverfahren laufe. Man solle sich schon mal ausführlich mit Pence beschäftigen, dem möglicherweise nächsten US-Präsidenten.
Die für mich inspirierendste Einbettung von alledem stammt von keinem Sozialwissenschafter, sondern von einem Physiker. Zu seinem 75. Geburtstag warnte Stephen Hawking anfangs 2017, am gefährlichsten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte angekommen zu sein. Das mag etwas übertrieben wirken; seine Argumente sind aber bedenkenswert klar: Hawking deutet den Sieg der Populisten als Aufschrei der Wut derjenigen, die sich von ihren Politikern im Stich gelassen fühlten. Denn Jobverlust und Dequalifizierung seien keine Erfindungen ungeliebter Regierungskritiker, sondern Realitäten, die sich in vernichteten Produktionsbetrieben resp. bedrohten Arbeitsplätzen der Mittelschichten manifestierten. Der Fortschritt lasse sich nicht vermeiden, so Hawking, doch bringe er anders als früher nicht Wohlstand für alle, sondern vermehre er Ungerechtigkeiten. Namentlich das Internet und soziale Medien würden das unzensuriert zeigen. Das führe zwangsläufig zu Migration, getrieben durch Hoffnung auf Verbesserung, in einem Land hin zu zunehmend überforderten Städten, zwischen den Staaten von Armen zu Reichen. Deren Bevölkerungen seien bedroht, was ohne Umverteilung von Ressourcen nicht bekämpft werden könne.

Genau solches sollte unter PolitikwissenschafterInnen nicht vergessen gehen, wenn sich die Wahlforschung mit ihren Kernfragen beschäftigt, nämlich «Wer wen warum mit welcher Wirkung wählt» resp. wie sich politische Systeme neu aufstellen müssen, wenn Ursachen von Wahlergebnissen nicht missverstanden und die Folgen nicht falsch gedeutet werden sollen.
Genau da habe ich eine Vermutung: Die Wahlforschung braucht nicht mehr methodische Raffinesse; sie braucht wieder mehr Analyse von Zusammenhängen, die in Zeiten der Veränderung wirksam sind.

Claude Longchamp

Warum twittert eine Minderheit der NationalrätInnen nicht?

Rund 60 Prozent der 2015 gewählten Volksvertreter auf Bundesebene sind auf Twitter. Wer twittert, dem gehört die mediale Aufmerksamkeit, sagt man. Doch warum verweigert sich eine Minderheit dieser Chance?

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Ladina Triarca und Barbara Wilhelmi bei der Präsentation der Forschungsarbeit. Nicht auf dem Bild: Jessica Zuber.

Eine Gruppe Studentinnen meines Forschungsseminars zur “Digitalen Revolution der politischen Kommunikation” beschäftigte sich im vergangenen Semester ausführlich mit den Twitter-VerweigerInnen unter den VolksvertreterInnen. Zwei Analyseschritte führten die MasterstudentInnen zu ihren Erkenntnissen: Erstens verglichen sie das Profil der NutzerInnen und Nicht-Nutzerinnen; zweitens befragten sie eine typologische Stichprobe der Nicht-NutzerInnen nach ihren Motiven.

Geschlecht, Alter und Siedlungsart beschreiben die Wahrscheinlichkeit, dass gewählte VolksvertreterInnen auf Twitter sind. Bei Frauen, bei Jungen und bei urbanen PolitikerInnen sind die Chancen erhöht. Vertreter des Landes, der Rentner und Männer haben dagegen eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit.
Wer Twitter nicht nutzt, nennt fehlende Zeit als Hauptgrund, empfindet 140 Zeichen als einengend, um sich differenziert ausdrücken zu können oder zieht persönliche Kontakte zu den Wählenden der medial vermittelten Interaktion vor. Mangelnde Präsenz der Zielgruppen in sozialen Medien, Angst vor Kontrollverlust über einmal gesendete Inhalte und mangelndes Fachwissen über die neue Technik sind ergänzende Motive der Verweigerinnen.
Nicht bestätigt werden konnten dagegen häufig erwähnte Gründe wie fehlende Ressourcen, seien diese finanzieller oder personeller Natur. Es gibt nämlich ParlamentarierInnen, die selbst dann nicht auf Twitter wären, wenn das jemand für sie bezahlt erledigen würde. Das Medium ist ihnen ganz einfach fremd. Ganz anders als in Bevölkerungsbefragungen spielenauch Bedenken zum Datenschutz bei PolitikerInnen keine Rolle.
Die halbstrukturierten Interviews liessen weitere Gründe aufschimmern: Präferenzen für Facebook mit viel höherer Reichweite als Twitter und Angst, in einen Strudel zu geraten und immer aktiv sein zu müssen, zählen namentlich dazu.

Zu erwarten ist, dass das Limit der Partizipation von gewählten VolksvertreterInnen in der Schweiz bald einmal erreicht sein wird. Der Mainstream unter ihnen ist heute aktiv, einige NachzüglicherInnen dürften noch hinzukommen. National wird man wohl mit drei Vierteln der Volksvertreter auf Twitter am Limit angelangt sein.
In den Kantonen selber ist mit sehr unterdurchschnittlichen Beteiligungsraten zu rechnen. Genf und Zürich sind typischerweise führend, denn sie sind am stärksten urban geprägt. In ruralen Kantonen mit starken, persönlichen Beziehungen zwischen Gewählten und WählerInnen ist davon auszugehen, dass sich soziale Medien in der politischen Kommunikation nie durchsetzen werden.
Mir war vor der Arbeit die viel zitierte Altersabhängigkeit der Nutzung klar bewusst. Neu war für mich, dass die Chance der Nutzung von Twitter bei einer gewählten Frau einiges höher ist als bei einem gewählten Mann. Jay Badran ist demnach der Prototyp der twitternden Parlamentarierin. Liza Mazzone, die junge Genfer Grüne, ist die ganz grosse Ausnahme.

Claude Longchamp

Ladina Triaca, Barbara Wilhelmi, Jessica Zuber: Twitter als digitale Wandelhalle – wer bleibt aussen vor? Eine Analyse der nicht twitternden Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Schweiz. Semesterarbeit im Rahmen des Seminars “Digitale Revolution in der politischen Kommunikation” von Claude Longchamp, IPW Uni Bern 2017.

Persönlichkeitsmerkmale von NationalratskandidatInnen: für die Entscheidung von Frauen wichtiger als für Männer

Das Aufsehen war gross, als Ende 2016 “Das Magazin” über Tools von Cambridge Analytica im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf berichtete. Ebenso heftig war die Reaktion, denn sie bezweifelte sowohl den Einsatz als auch die Evidenz des viel zitierten OCEAN-Modells zugunsten von Donald J. Trump. Zeit, für einen Neuanfang in der gleichen Frage. Vier engagierte Studentinnen wagten ihn am letzten Freitag.

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Celine Gasser, Noemi Muhr, Anja Weis und Zora Föhn bei der Präsentation ihrer Forschungsarbeit zur Wirkung von Persönlichkeitsmerkmalen auf das Wahlergebnis.

Bescheidener und transparenter verfuhr eine Arbeitsgruppe in meinem Forschungsseminar “Digitale Revolution der politischen Kommunikation” am Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern im Herbstsemester 2016. Nichtsdestotrotz lassen sich die Ergebnisse sehen. Entwickelt wurde nämlich erstmals ein Codebuch, mit dem man beispielsweise SocialMedia-Beiträge auf den 5 Dimensionen des OCEAN-Modells klassieren kann. Konkret sind dies “Offenheit”, “Gewissenhaftigkeit”, “Extrovertiertheit”, “Verletzlichkeit” und “Kooperationsbereitschaft”. Angewandt wurde es in der Folge auf 40 Kandidierende bei den Nationalratswahlen 2015 im Kanton Zürich, die getwittert haben.
Die so ermittelten Ergebnisse wurden in der Folge mit den Ergebnissen aus einer Wählerbefragung von 2012 verglichen, welche auf den gleichen 5 Persönlichkeitsmerkmalen basierte und im Vorfeld der Wahlen medial mehrfach besprochen wurde:

• Die SVP kennt eine recht hohe Übereinstimmung. Allerdings scheinen die KandidatInnen auf Twitter weniger kooperativ veranlagt zu sein als die Wähler, dafür deutlich kompetitiver.
• Bei der SP ist das Bild der KandidatInnen vor allem viel gelassener, als es aus der Wählerbefragung hervorgeht.
• FDP-KandidatInnen erscheinen insgesamt kooperativer als die eigene Wählerschaft.
• Schliesslich die CVP: Bei dieser Partei erscheinen die Kandidatinnen gewissenhafter als die Wählenden.

Von einer starken Übereinstimmung zwischen Persönlichkeitsmerkmalen der KandidatInnen resp. der Wählenden kann keine Rede sein, folgern die Studienautorinnen. Bei Frauen sei der Zusammenhang gegeben und er erhöht die Wahlchancen tendenziell. Bei Männern gibt es den Zusammenhang jedoch nicht. Hauptgrund hierfür ist ihrer Ansicht nach das Selektionsverfahren, denn BewerberInnen für ein politisches Amt seien deutlich extrovertierter als die Wählenden.

Die Ergebnisse stehen im deutlichen Widerspruch zu den Erwartungen, die man neuerdings an politpsychologische Ansätze der politischen Werbung hat. Selbstredend kann man die Studienergebnisse auch relativieren. Die studentische Forschungsarbeit war innovativ, basierte aber auf nur 40 KandidatInnen-Vergleichen. Es kann sein, dass die Ergebnisse zu den Profilen von der Auswahl abhängen. Es ist jedoch ebenso denkbar, dass die Operationalisierung der Parteiwählerschaften verbesserungsfähig ist.
Plausibel erscheint mir, dass die Selektion, die sich mit Blick auf eine Kandidatur ergibt, besondere Persönlichkeitsmerkmale parteiübergreifend begünstigt. Zudem ergeben Vergleiche von KandidatInnen und Wählenden nicht zum ersten Mal, dass die Re-Ideologisierung ausgewählter Themen als Mittel der Wahlentscheidungen gerade bei Männern ein deutlich stärkerer Befund ist.
Gelobt habe ich die Arbeit aus einem anderen Grund: Meines Wissens haben die vier Studentinnen erstmals ein Codebuch mit 25 aussagekräftigen Indikatoren entwickelt, wie man die häufig recht spärlichen Aussagen der PolitikerInnen in Tweets persönlichkeitsrelevant klassieren kann. Genau das werde ich weiterverwenden!

Claude Longchamp

Anja Weis, Zora Föhn, Noemi Muhr und Céline Gasser: Persönlichkeit und Social Media im Wahlkampf. Semesterarbeit im Rahmen des Seminars “Digitale Revolution der politischen Kommunikation” von Claude Longchamp, IPW Uni Bern 2017.

Roboter auf Twitter in Schweizer Abstimmungskämpfen: Mythen und Fakten

5259 Twitter-Accounts waren in den letzten 10 Tagen vor der Volksinitiative für einen sofortigen Atomausstieg aktiv. Eine neue Untersuchung legt nahe, dass davon 96 Accounts Bots oder Cyborgs waren.

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Von rechts nach links: Tatjana Doba, Martina Gsteiger, Melanie Ivankovic bei der Präsentation der Forschungsarbeit letzten Freitag

Als Bots gelten aktive, aber maschinengesteuerte Twitter-Adressen. Cyborgs wiederum funktionieren als Kombination von Mensch und Maschine. Seit 2014 sind solche Roboter oder roboterisierte Adressen ein Thema der SocialMedia-Kritik. In der Ukraine, in Grossbritannien und in den USA wird ihnen vorgeworfen, beispielsweise die Twittersphäre nachhaltig zu manipulieren. Die Literatur geht von 10 Prozent Bots aus und ein Drittel könne als Cyborg klassiert werden.
Die erste Untersuchung zur Schweizer Twittersphäre anhand der Atomausstiegsinitiative kommt zu deutlich zurückhaltenderen Schlüssen. Gängige Prüftools wie @BotorNot identifizierten in der Tat knapp 600 verdächtige Adressen, was einem Anteil von 11 Prozent entsprechen würde. Eine aufwändige, individuelle Nachkontrolle dieser Accounts reduzierte die Zahl jedoch auf unter 100. Das wären dann noch 2 Prozent Bots und Cyborgs.
Ein typischer, ausgesprochen aktiver Bot ist «@polittweets», der sich auch offen als solcher zu erkennen gibt. Er retweetet meist einmal im Tag einen populären Tweet. Eine Zuordnung zu einem politischen Lager gelingt hier nicht. Andere wie @Toxic_linkTruca arbeiten verdeckter. In aller Regel retweeten aber auch sie, doch bevorzugen sie einzelne Aspekte, die sie in sonst wenig politische Netzwerke einspeisen. Bots, die Texte erfinden, sind in der Schweiz noch kaum verbreitet. Cyborgs wiederum dürften mit maschinellen Recherchen der Twittersphäre arbeiten; die Distribution dürfte jedoch menschlich ausgelöst werden.
Betroffen von Twitter-Maschinen waren im untersuchten Beispiel sowohl Befürworter wie auch Gegner der Atomausstiegsinitiative. Selbst Accounts, die sich auf unabhängige Informationsverbreitung spezialisiert hatten, sind für Bots und Cyborgs interessant.
Accounts wie «@sauber_sicher», aber auch @Atomausstieg_Ja kannten am meisten Roboter unter ihren Followern. Das gilt tendenziell auch für @SVPch und @AAI_Nein oder @Greenpeace und @WWF. Es kann durchaus bezweifelt werden, dass diese Absender die Bots selber eingesetzt haben. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass die Roboter lernen, gesuchte Informationen an bestimmten Orten des Internets zu identifizieren.
Das hat auch mit einer Eigenheit der politischen Kommunikation bei Abstimmungen zu tun. Anders als bei Wahlen ändern die Themen im Drei-Monats-Rhythmus. Zahlreiche der parteiischen Accounts erreichen somit nur geringe Follower-Zahlen, was sie für Verstärker attraktiv macht. Bei Wahlen geht es um anderes. Hier sollen Parteien, die dauern aktiv sind, nachhaltig in bestimmte Zielgruppen ausstrahlen. Das macht den strategischen Einsatz von Robotern interessanter.
Die teils Aufsehen erregenden Befunde in Massenmedien und Fachliteratur zu Roboter-getriebenen Adressen müssen für die Schweiz relativiert werden. Richtig ist, dass sich in der Twittersphäre Bots am politischen Diskurs beteiligen. In erster Linie verstärken sie vorhandene Informationen oder Meinungsäusserungen. Es ist jedoch denkbar, dass sich die Entwicklung erst am Anfang befindet. Entsprechend bin ich bestrebt, die gelegten Grundlagen am Beispiel der Abstimmung über die Energiestrategie 2050 zu konkretisieren.

Claude Longchamp

Tatjana Doba, Martina Gsteiger, Melanie Ivankovic: Social Bots in der Debatte zum Atomausstieg. Semesterarbeit im Rahmen des Seminars «Digitale Revolution der politischen Kommunikation» von Claude Longchamp, IPW Uni Bern 2017.

Why Trump? Ein Hinweis auf meine Vorlesung zur Wahlforschung

Zum 9. Mal biete ich im Frühlingssemester meine Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich an. Was können Teilnehmende im Bachelor-Studium der Politikwissenschaft und angrenzender Disziplinen erwarten?

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Passend zur jüngsten Wahl in den USA das Buch von David King: Why Trump – ein perfektes fake-Buch für 8 Dollar erwerbbar, aber ohne jeglichen Inhalt

Wie bisher geht es um Wahlen und politisch-mediales System, um Theorie der Wahl- und Wählerforschung und um neue Arbeitsfelder der Forschung wie politische Partizipation und politische Kommunikation. Anschaulich soll die Veranstaltung sein, indem sie die Schweizer National-, Ständerats- und Bundesratswahlen 2015 miteinbezieht, aber auch reflektiert, was die wachsende Zahl PolitikwissenschafterInnen als Wahlexperten in Medien, bei Parteien und KandidatInnen bedeutet.
Eröffnet wird die Vorlesung mit einer exemplarischen Analyse der amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016. Gezeigt werden soll, wie das Wahlsystem wählt, wer Donald Trump wählte und wie man sich das alles wenigstens im Nachgang erklären kann. Zudem werden Fragen und Antworten zum Funktionieren von Wahlen in der US-Demokratie gestellt resp. gegeben.
Selbstredend kommt der Populismus als Erscheinungsform bei zeitgenössischen Wahlen speziell zur Sprache, wie er von namhaften Politikwissenschaftern definitiert und erklärt wird, was die empirischen Ergebnisse in ausgewählten Ländern aussagen, und ob Populismus für die Demokratie generell eine Gefahr ist. Geplant sind zwei Exkurse zu den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich, die beide während des Semesters stattfinden.
Zudem kann eine Lehrveranstaltung zur Wahlforschung nicht mehr vom Kontext abstrahieren. Denn die Transformationen des Medien- und Politsystem beeinflussen ihrerseits Wahlen, Wahlkämpfe und Parteitypen.
Erstmals werde ich mich auch mit den Bundesratswahlen in der Schweiz beschäftigen. In der Forschung werden sie vernachlässigt, doch ist man auch hier dabei, die grossen Löcher schrittweise zu schliessen. Mir geht es um die Frage, welche Integrationsleistungen Wahlen in die Regierung in der Konkordanzdemokratie der Schweiz heute erbringen.
Das Programm wird Interessierten bald via einschlägige Kanäle des Instituts für Politikwissenschaft vorgestellt werden. Ich hoffe auf rege Beteiligung, wie das in den letzten Jahren ja immer der Fall war, und freue mich, hier die wohl am wenigsten technische, dafür politischste Variante der Wahlforschungsvorlesung ankündigen zu können.
Claude Longchamp

Sitzung Datum Thema

26. Februar Wahlforschung am Beispiel der US-Wahlen 2016
04. März Wahlen und politisches resp. mediales System
11. März Wahlrecht, Konflikte und Parteiensystem
18. März Wählende aus theoretischer und empirischer Sicht, Wahl Niederlande
Karfreitag
Osterferien
08. April Beteiligung als politischen Partizipation
15. April Wahlkampf als politischen Kommunikation
22. April Populismus als Problem demokratischer Wahlen
29. April Schweizer Nationalratswahlen 2015
06. Mai Schweizer Ständeratswahlen 2015, Wahl Frankreich
13. Mai Schweizer Bundesratswahlen 2015
20. Mai Wahlprognosen
27. Mai PolitikwissenschafterInnen und Wahlen
03. Juni Prüfung

Polarisierung oder Zentrierung: Was dominiert den Abstimmungskampf vor dem 12. Februar 2017?

Statt drei Normalfälle in der Meinungsbildung zu Behördenvorlagen, spricht die aktuelle SRG-Befragung von Spezialfällen bei der Einbürgerung resp. der Unternehmenssteuerreform. Warum?

Die aktuelle SRG-Repräsentativbefragung zu den Volksabstimmungen vom 12. Februar 2017 zeigt in zwei der drei Fälle einen unüblichen Verlauf der Stimmabsichten für eine Behördenvorlage. Sowohl bei der erleichterten Einbürgerung als auch bei der Reform der Unternehmenssteuer sank im letzten Monat die Zustimmungsbereitschaft. Im ersten Fall ging sie um 8 Prozentpunkte zurück und steht jetzt bei 66 Prozent. Im zweiten reduzierte sie sich um 5 Zähler auf 45 Prozent.
Normal wäre, dass sich die Unentschiedenen bei einer Behördenvorlage auf beide Seite verteilen, das Ja also zunehmen würde. Das zeigt sich aktuell nur beim Strassenfonds NAF.

Nun kennen wie die Mechanik recht gut, wie abweichende Fälle zustanden kommen. Mit dem Abstimmungskampf steigen die Beteiligungsabsichten an, und zwar nicht überall gleich, sondern asymmetrisch. Namentlich opponierende Gruppen werden auf den Plan gerufen, sich über das bekannte Niveau hinaus zu beteiligen.
Nun zeigt unsere Befragungsreihe, dass das in drei Segmenten der Fall ist: bei parteipolitisch ungebunden Stimmenden (+19 Prozentpunkte), bei SP-Wählerinnen und Wähler (+16 Prozentpunkte) und bei misstrauischen Bürger und Bürgerinnen (+14 Prozentpunkte).

Bürger und BürgerInnen mit negativem Institutionenvertrauen sind das klassische Potenzial für populistisch aufgezogene Kampagnen. Diese wollen die Beteiligung erhöhen, denn das ist der beste Garant, dass sich WutbürgerInnen in Volksabstimmungen äussern. Die Vorlageninhalte sind dabei sekundär; primär geht es darum, Opposition zur Behördenarbeit zu manifestieren.
Bei der Einbürgerungsvorlage zeigt sich dies eindeutig: Das föderalistische Nein-Argument, das die parlamentarische Debatte bestimmt, interessiert gar nicht. Vielmehr geht es mit der Pauschalisierung von Muslimen als schlecht integriert darum, den Graben zwischen einem offenen und geschlossenen Bild der Schweiz auch in diesem Zusammenhang aufzureissen.
Nun zeigt unsere Analyse, dass sich das aufgeheizte Klima auch auf die Entscheidung zur Unternehmenssteuer auswirkt. Zum wirksamsten Argument avancierte der Hinweis, bereits bei der zweiten Reform bei den Auswirkungen zu Steuerausfällen über den Tisch gezogen worden zu sein. Die Aktivierung in der laufenden Debatte hat die gegnerische Argumentation befeuert, man riskiere erneut Steuerausfälle, welche die mittleren Einkommen zu spüren bekommen werden. Der SP, aufgestachelt durch die gefakte Fotomontage in der Abstimmungszeitung der Steuerreform-Befürworter, hat das in die Hände gespielt.
Zweifelsfrei hat die Verquickung beider Kampagnen zur Emotionalisierung des Entscheidungsklimas geführt. Das nützt in keinem Fall den Behörden, denn es mobilisiert gegen sie, sowohl bei der Beteiligung wie auch bei den Stimmabsichten. Nicht auszuschliessen ist, dass das bei der Unternehmenssteuerreform entscheidend sein wird, während bei der Einbürgerungsvorlage ein möglich erscheinendes Nein der Kantone im Vordergrund steht.

Bilanzieren wir am 12. Februar die ersten Niederlagen der Behörden in der laufenden Legislatur? Entschieden ist noch nichts! Denn unsere jüngste Umfrage hat den 22. Januar 2017 als mittleren Befragungstag. Die letzten drei Wochen deckt sie damit nicht ab und diese drei Wochen sind die Zeit des Übergangs von der Haupt- zur Schlusskampagne.
So wie die Aufregung der Opposition nützt, hilft die Beruhigung des Klimas, verbunden mit der Rückkehr zu Sachargumenten, den Behörden. Das ist die Voraussetzung, dass sich nicht vorwiegend die Anhänger der Polparteien äussern, sondern in vergleichbarem Masse auch die Wählenden aus dem politischen Zentrum.

Claude Longchamp