Die politische Mitte schwächelt. Was das für die Zukunft bedeutet.

Zwischenbilanz nach 9 kantonalen Parlamentswahlen: FDP und SVP weiterhin im Plus, kleine Vorteile für SP, GLP und GP, Verluste für CVP, BDP und EVP.

Gesamtschweizerische Bilanzen kantonaler Wahlen haben es in sich- Zuerst stellt sich die Frage nach den Zuordnungen kantonaler Parteien zu den nationalen. Da halten wir uns letztlich ans BfS. Sodann kommt diesmal ein Problem hinzu, denn die kantonalen Wahlen im Jura fanden gleichzeitig mit den nationalen Wahlen statt. Gehören sie nun in den Rückblick bis zum 18. Oktober 2015, oder sind sie ein Teil des Ausblicks seither? Wir haben uns hier für letzteres entschieden, da der Kanton Jura nur alle 5 Jahre wählt und nur so garantiert ist, dass die Tendenz im Jura bis zu den Wahlen 2019 berücksichtigt wird. (An der qualitativen Aussagen, die wir am Sonntag bereits gemacht haben, ändert sich auch nichts).


Die empirischen Fakten

9 ParlamentsWahlen kommen in Betracht: Jura, St. Gallen, Uri, Schwyz, Thurgau, Schaffhausen, Aargau, Baselstadt und seit diesem Wochenende auch Freiburg. Am meisten Sitze zugelegt hat dabei die FDP (+14, zusammen mit der LP in Baselstadt), gefolgt von der SVP (+12). Mit einigem Abstand finden sich SP und GLP (je +3) sowie GPS (+1) ebenfalls auf der Gewinnerseite. Zu den Verlierern gehören die CVP (-17), die BDP (-8) und die EVP (-2). Alle anderen Parteien, die nicht im nationalen Parlament vertreten sind, wurden hier weggelassen.
Die Top-Position der FDP korrespondiert mit unserer Bilanz der Parteien bei der Parolenfassung. Denn auch hier liegt die FDP (seit den Nationalratswahlen) an der Spitze.

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Die wichtigste faktennahe Folgerung lautet: Der Rechtsrutsch bei den Nationalratswahlen 2015 setzt sich fort. Anders als damals kennen aber auch die roten und grünen Parteien ein kleines Plus. Ungebrochen ist der Sinkflug dagegen bei den Mitte-Parteien, namentlich bei CVP und BDP. Ihre Chance hatten sie mit der angedachten Union auf Bundesebene. Seit diese ad acta gelegt worden ist, mangelt es im Zentrum (zusätzlich) an Schlagkraft.

Die politologische Einordnung
Man kann auch von einer weiteren Polarisierung der kantonalen Parteiensysteme sprechen. Definiert wird dies in der Regel als Bewegung der Parteienlandschaft weg von der Mitte hin zu den Polen. Profitieren können dabei verschiedene Parteien. Die Bewegung nach rechts ist dabei deutlicher stärker als nach links.
Genau genommen könnte man von einer Tripolarisierung des Parteiensystems sprechen:
. Die FDP bildet den rechtsliberalen Pol der Parteienlandschaft am besten ab. Mit ihrem Alleinstellungsmerkmal legt sie seit 2015 zu, aktuell am meisten von allen Parteien.
. Aehnliches gilt für die SVP, wenn auch im rechtskonservativen Feld, das sie durch ihre Neupositionierung seit den 90er Jahren weitgehend für sich alleine hat.
. SP und GP sind in der linken Parteienlandschaft untereinander fast gleich aufgestellt, und auch sie können durch die Gegenreaktion zum Rechtsrutsch punktuell profitieren.
Die einzige Partei, die ausserhalb der starken Pole in den genannten Quadranten ein kleines Plus hat, ist die GLP. Bei ihr könnte man argumentieren, dass sie das Feld zwischen FDP und SP im liberal-progressiven Feld abdeckt, ohne einen weiteren, eigenen Pol zu markieren.

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Schwieriger haben es alle Parteien, die programmatisch weniger klar positioniert sind. Angesichts mehrfacher Tendenzen zu Polarisierung besetzen sie kein exklusives Feld. Am interessantesten ist dabei die CVP. Programmatisch steht sie dem rechtsliberalen Pol nahe. Dieser ist aber durch die FDP markanter besetzt. Thematische Profilierungen sind daher schwierig. Den Ausweg sucht die Partei neuerdings Richtung Wertedebatte. Diese ist sicher komplementär zur Weltanschauung der FDP. Allerdings, sie ist bis auf Weiteres keine vorrangige Konfliktdimension in der Schweizer Parteienlandschaft. Es kann sein, dass die CVP so die Abwanderung konservativer WählerInnen zur SVP stoppen kann – wohl aber zum Preis, liberales Terrain preiszugeben, dass FDP und GLP übernehmen können.
Am problematischsten ist die Position der BDP. Angesichts ihres jungen Alters und des offenen Parteiprogramms fällt die inhaltliche Verortung am schwierigsten. Das gilt letztlich auch für die weltanschauliche Positionierung. FDP und CVP stehen ihr da in der Sonne. Bis 2015 konnte sie das durch den Sitz im Bundesrat und die damit verbundene Möglichkeit, Mehrheiten zu beschaffen, wettmachen. Seit den letzten Bundesratswahlen ist das nicht mehr so – mit Konsequenzen auf dem Wählermarkt im BDP-Umfeld.

Der Ausblick
Stimmt die hier vorgenommene Analyse, haben FDP, SVP und SP die besten Chancen, sich national weiter zu profilieren. Sie sind die stärksten Parteien in ihrem politischen Umfeld. Kantonale Wahlen als Ganzes wären dann ein Indikator dafür, wie weit die Positionierung im Wählermarkt Legislatur hindurch gelingt.
Der Preis wäre eine abermals geschwächte Mitte. Man kann auch die Frage aufwerfen, welche Rolle sie inskünftig in der Bundespolitik spielt. Denn vom gemässigten Pluralismus entwickelt sich das Schweizer Parteiensystem offensichtlich zum polarisierten Pluralismus. Gemeint ist damit, dass die Zahl der Parteien hoch bleibt, mindestens 3 über 15 Prozent liegen, und weitere einiges darunter Platz haben. Impliziert wird mit dieser Kennzeichnung auch, dass die Gemeinsamkeiten in ökonomischen und kulturellen Fragen recht gering geworden sind, sodass es wohl zu wechselnden Allianzen kommt – mit der FDP in der Position als Mehrheitsbeschafferin. Im Bundesrat und im Ständerat ist das ein wichtiges, wenn auch nicht das einzige Entscheidungsmodell. Im Nationalrat funktioniert die Sammlung nach rechts sicher besser, als die über das Kreuz. Genau da kommt auch der CVP eine Bedeutung zu. Im Ständerat ist sie gleich gewichtig wie die FDP, im National- wie auch Bundesrat allerdings nicht, nur als Brückenbildnerin gegen die FDP.

Claude Longchamp

Eine alternative Darstellungsart des Gleichen liefert neuerdings @claudermont und @sandroluescher
parteientrends

Der Parolenspiegel spricht für ein Nein zur Ausstiegsinitiative. Aber …

Was kann man aus dem Parolenspiegel zur Ausstiegsinitiative herauslesen? Er liefert einen ersten brauchbaren Erfahrungswert zum Abstimmungsgang, den man aber gerade bei Atomfragen nur Vorsicht zur Kenntnis nehmen sollte.

Die Ausgangslage
Am Wochenende haben die letzten politischen Parteien ihre Position zur Ausstiegsinitiative der Grünen festgelegt. Demnach wird sie von links her unterstützt, von rechts her abgelehnt. Die Grenze liegt zwischen EVP und CVP, erstere ist dafür, letztere dagegen. Bestätigt wird damit, dass die Entscheidung zum schnellen Ausstieg aus der Atomenergie in der Mitte fällt. Aufhorchen liess dabei das Stimmenverhältnis an der CVP-Delegiertenversammlung, denn für die Nein-Empfehlung votierten nur zwei Drittel, ein Drittel hätte Zustimmung bevorzugt.

Tabelle: Übersicht über die Parolen der politischen Parteien zur Ausstiegsinitiative

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Erläuterungen: Mittel 2012/15: Durchschnittliche Übereinstimmung der Parteiparole mit Volksmehr 2012-15, Mittel 2016: idem für 2016, N (2016) Zahl der übereinstimmenden Parolen (maxi 12)
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Wahrscheinlichkeit der Uebereinstimmung mit Volksmehr als Prädiktor

Punktgenaue Prognosen lassen sich dem Parolenspiegel alleine nicht machen. Hauptgrund ist hier, dass der Grad der Parolenbefolgung über die genaue Höhe von Zustimmung und Ablehnung entscheidet. Und dieser ist nicht ohne weitere bekannt. Beide aktuellen Befragungen gehen zwar davon aus, dass die Übereinstimmung der Stimmabsichten mit den Parteiparolen mehrheitlich gegeben ist – ausser in der Mitte, namentlich bei der CVP. Unsere Erhebung zeigt zudem, dass Parteiungebundene eher zum Ja neigen. Erfahrungsgemäss passt sich die Position der Parteiwählerschaften an die einmal gefällte Parole an. Bei der CVP spricht das für eine Abnahme der Zustimmungsbereitschaft. Bei Parteiungebundenen bleibt alles offen.
Eine weitere Möglichkeit, den Parolenspiegel zu nutzen, besteht darin, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, mit der eine einzelne Parteiparole mit dem Volksmehr übereinstimmt. In der laufenden Legislatur führen hierbei FDP und BDP, während GPS und SP das Ende der Liste markieren. Letzteres war auch in der vergangenen Legislatur so, während BDP, CVP und GLP knapp vor FDP die Spitzenpositionen einnahmen. Ein einfaches Prognosemodell multipliziert deshalb die aktuellen Empfehlungen zur Ausstiegsinitiative mit dem Erfahrungswert für die Übereinstimmung mit dem Volksmehr und bildet aus den acht Zahlen den Mittelwert.
Stellt man auf die langfristige Gültigkeit der Parteiparolen als Prädiktoren ab, resultiert ein Nein bei der kommenden Abstimmung mit einer Wahrscheinlichkeit von 59 Prozent. Berücksichtigt man nur die Wahrscheinlichkeiten in der aktuellen Legislatur, erhöht sich der Wert gar auf 64 Prozent. Beides hat in erster Linie damit zu tun, dass linke Parolen weniger häufig mit dem Entscheid der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen übereinstimmen als jene der Mitte oder Mitte/Rechts.

Der Durchschnitt und die Streuung

Nun sollte man auch diese Zahlen nicht als sture Prognosen verwenden. Denn sie sind nicht mehr als ein gemittelter Erfahrungswert für den Abstimmungsausgang. Er besagt, dass aufgrund des aktuellen Parolenspiegels ein Nein wahrscheinlicher ist als ein Ja. Doch es bleibt eine Streuung. Denn bei allen Atomabstimmungen war die Frontstellung unter den Parteien im wesentlichen gleich. Doch es variierte das Ergebnis von der Moratoriumsinitiative 1990 zu Ausstiegsinitiativen 2003 von über der Hälfte bis zu einem Drittel im Ja.
Sollte der Endwert für das Ja oder Nein auch diesmal abweichen, wäre das ein Hinweis darauf, dass kein durchschnittlicher Fall vorliegt, sondern ein spezieller. Spezifische Umstände, Vorlageninhalte und Prozesse der Meinungsbildung können dafür verantwortlich gemacht werden. Bei der angenommenen Moratoriumsinitiative waren dies der Tschernobyl-Umfall, der moderate Inhalt der Vorlage und der Elite/Basis-Konflikt bei der CVP.
Aktuell kann man der Fukushima-Hintergrund in diesem Sinn nennen. Die moderate Fassung des Ausstiegs aus der Kernenergie liegt allerdings mit der Energiestrategie 2050 vor, nicht mit der Ausstiegsinitiative. Was die spezifische Meinungsbildung angeht, kann man auf die Ereignisse im Abstimmungskampf hinweisen. Dazu zählt beispielsweise seit dem letzten Wochenende die Ankündigung verschiedener Betreibergesellschaften, bei einem sofortigen Ausstieg Entschädigungen in Milliardenhöhe zu verlangen. Auf jeden Fall kann man jetzt schon davon ausgehen, dass der Abstimmungskampf ereignisreich ist und beide Lager stark bemüht sind, die Entscheidungsmomente in ihrer Sichtweise der Dinge zu deuten.

Fazit
Nur mit dem klassischen Konzept der Konfliktlinien und den Parteiparolen alleine ist gerade einem Abstimmungsergebnis nicht beizukommen. Prädispositionen sind zwar wichtig, denn sie kommen ausgeprägt vor. Aber sie sind nicht alles. Aktuelle Umstände, Medieninformationen, Abstimmungskampagnen wirken sich ebenso auf das Ergebnis aus. Ihnen gehört bis zum Abstimmungstag die ganze Aufmerksamkeit!

Claude Longchamp