Worüber wir am 25. September 2016 abstimmen (1): die Volksinitiative “Grüne Wirtschaft” in der politikwissenchaftlichen Analyse

67 Prozent dafür, 6 Prozent dagegen. Das verkündeten am Wochenende die Initianten der “Grünen Wirtschaft” aufgrund einer Online-Umfrage. Aus meiner Sicht ist es dennoch nicht mehr als eine potenziell mehrheitsfähige Initiative – ein Volksbegehren, bei dem die Zustimmungsmehrheit nicht gesichert ist.

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Die generelle These des Dispositionsansatzes lautet: Abstimmungsergebnisse stehen nicht ein für allem Male fest. Vielmehr entwickelt sie sich in einem politischen Klima, aufgrund der Positionen der meinungsbildenden Kräfte, dem Abstimmungskampf und den Alltagserfahrungen der Bürgerinnen. Im Normalfall kommt es im Abstimmungskampf zu einer Anpassung der Mehrheit der Stimmenden an die der Behörden.
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Die Vorlage
Die Volksinitiative “Für eine nachhaltige und ressourcenfreie Wirtschaft (Grüne Wirtschaft)” verlangt, dass Bund, Kantone und Gemeinden eine nachhaltige und ressourceneffiziente Wirtschaft anstreben, indem sie für geschlossene Stoffkreisläufe sorgen. Hierfür legt der Bund mittel- und langfristige Ziele fest. Er verfasst zu Beginn jeder Legislatur einen Bericht über den Stand der Zielerreichung. Falls die Ziele nicht erreicht werden, ergreifen Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zusätzliche Massnahmen oder verstärken die bestehenden. Der Bund kann namentlich Forschung, Innovation und Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen sowie Synergien zwischen wirtschaftlichen Aktivitäten fördern, Vorschriften für Produktionsprozesse, Produkte und Abfälle sowie für das öffentliche Beschaffungswesen erlassen. Er kann Steuer- oder Budgetmassnahmen ergreifen, insbesondere kann er positive steuerliche Anreize schaffen und eine zweckgebundene oder haushaltsneutrale Lenkungssteuer auf den Verbrauch natürlicher Ressourcen erheben. In den Übergangsbestimmungen steht, dass der “ökologische Fussabdruck” bis ins Jahr 20150 so reduziert werden muss, dass er auf die Weltbevölkerung hochgerechnet eine Erde nicht überschreitet.
Präsidiert wird das Initiativkomitee von Nationalrätin Adèle Thorens und Nationalrat Bastien Girod.

Das politische Klima

Das Bundesamt für Umwelt publiziert anfangs 2015 eine umfangreiche Abklärung auf Befragungsbasis zur grünen Wirtschaft. Diese kommt zum Schluss, dass das Bewusstsein für die Umwelt- und Klimapolitik hoch ist und das Wissen recht ausgeprägt sei. Massnahmen würden am ehesten vom Staat, von der Wirtschaft und den Individuen gefordert.
Gemäss Sorgenbarometer 2015 steht Umweltschutz in der Prioritäten-Liste der handlungsbedürftigen Probleme an 10. Stelle. 15 Prozent sehen hier eine Priorität. Analoges gilt für die Dringlichkeit von Massnahmen.
die Initianten publizierten im Juni 2016 eine Online-Umfrage. Demnach waren 67 Prozent für das Anliegen, bloss 6 Prozent dagegen. 27 Prozent hatten keine Meinung. Gefestigte Stimmabsichten hatten aber nur 31 Prozent der Teilnehmenden. Keine Angaben wurden zur gegenwärtigen Beteiligungsabsicht gemacht.
Wir schliessen daraus, dass die Prädispositionen zur Initiative mehrheitlich vorteilhaft sind, die konkrete Meinungsbildung zur Vorlage aber wenig fortgeschritten ist, und Veränderungsmöglichkeiten in den Stimmabsichten in erheblichem Masse von den Kampagnen im Abstimmungskampf beeinflusst werden können.
Typologisch sprechen wir von einer potenziellen Mehrheitsinitiative mit offenem Ausgang.

Die parlamentarische Beratung
Bundesrat und Parlament lehnen die Volksinitiative ab. Der Bundesrat stellte ihr ursprünglich einen Gegenvorschlag gegenüber, denn er befürwortete das Ziel, nicht aber die Massnahmen. National- und Ständerat verzichteten aber darauf, das Umweltschutzgesetz entsprechend anzupassen.
Im Nationalrat scheiterte die Vorlage mit 128 zu 62 Stimmen. Abgelehnt wurde sie von der SVP, der FDP, der CVP und der BDP. Mehrheitlich dafür votierten die Volksvertreter von SP, GPS, GLP und EVP.
Im Ständerat wurde das Geschäft mit 31:13 Stimmen abgelehnt. Bisher haben die Parteien wie folgt Stellung bezogen:
-Befürwortende Parteien GPS, EVP (SP, GLP)
-Ablehnende Parteien (SVP, FDP, BDP, CVP)
Bemerkung: Angaben in Klammern beziehen sich auf die Mehrheitsentscheidungen im Parlament und sind keine direkten Parteiparolen.
Quelle: www.politnetz.ch, Parteienwebseiten, Stand: Ende Juni 2016
Vorherrschend ist damit die Polarisierung zwischen rot-grünen Parteien auf der Ja- und den bürgerlichen Parteien auf der Nein-Seite. Zentral ist damit der Links/Rechts-Konflikt.

Typologie der Meinungsbildung

Potenziell mehrheitsfähige Anliegen müssen ebenso nicht zwangsläufig angenommen werden, denn ein Meinungswandel im Abstimmungskampf entspricht der Regel. Sie kennen einen Startvorteil, der sich in einem höheren Ja- denn Nein-Anteil unter den Vorentschiedenen ausdrückt.
Von einem ausserordentlichen Problemdruck kann aber nicht die Rede sein, weshalb wir davon ausgehen, dass sich die anfänglichen Zustimmungswerte nicht halten können.
Noch weitgehend ausstehend ist die Phase der Problematisierung der Volksinitiative für eine Grüne Wirtschaft durch die Gegner einer Volksinitiative. Zu erwarten ist, dass mit dieser die Ablehnung vorwiegend zu Lasten der Unschlüssigen ansteigt. Denkbar ist auch, dass es zu einem Meinungswandel vom Ja ins Nein kommt. Schliesslich kann der Nein-Anteil auch durch eine Beteiligungszunahme steigen.
Hauptgrund hierfür ist wie bei den meisten Initiativen, dass eine Schwachstellen-Kommunikation möglich ist. Zentraler Angriffspunkt der Gegnerschaft dürfte dabei die Bürokratie sein, die durch die Initiative ausgelöst würde.
Aus befürwortender Sicht können grundlegende Prinzipien wie die Nachhaltigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen kommuniziert werden, die durchaus mehrheitsfähige Anliegen repräsentieren.

Bisheriger Abstimmungskampf
Von einem eigentlichen Abstimmungskampf kann bisher nicht gesprochen werden. Vielmehr befindet sich die öffentliche Auseinandersetzung in einer Art Vorabstimmungskampf. Dabei werden zentrale Botschaften getestet resp. ist man bestrebt, ein Umfeld zu schaffen, das der eigenen Position zu Hilfe kommt.
Zu den typischen Angriffen auf die Initiative gehört ihre Rahmung als Zwang, speziell grüner Zwang. Die Förderung von Nachhaltigkeit wird gerade aus liberaler Sicht nicht als Staatsaufgabe gesehen. In diese Erzählung passt, dass die Volksinitiative auch als “Grüne Umerziehung” apostrophiert wird. Zentrale Botschaften kreisen um die Bevormundung des Bürgers, die Kosten der Realisierung, der planwirtschaftliche Ansatz und das alltägliche Diktat.
Mit Blick auf die Abstimmung hat sich das Initiativkomitee erweitert. Unterstützung findet es bei Swisscleantech, dem Global Footprint Network und Pusch, einem Netz für Natur. Im Unterstützungskomitee figurieren auch die SP, die GLP sowie diverse Jungorganisationen der Parteien. Sichtbar aktiv geworden ist man hier bisher kaum.

Erste Bilanz
Wie bei allen Volksinitiativen, hängt der Ausgang der Volksabstimmung massgeblich von der Meinungsbildung vom Abstimmungskampf ab. Zu Beginn ergibt sich ein Fenster zugunsten der Initianten. Danach geht die Themenführung an die Gegnerschaft über. Diese kann mit einer Schwachstellen-Kommunikation punkten.
Im Schnitt sinkt die Zustimmungsrat um 12 Prozentpunkte. Bei geringem Problemdruck und geringer Problematisierung eines Anliegens im Voraus können Nein-Kampagnen durchaus mehr erreichen.
Den Ausgang dieser Volksentscheidung taxieren wir grundsätzlich als offen. Mit einem negativen Meinungstrend ist in den Stimmabsichten aber zu rechnen. Das Mass hängt von den Umständen im Abstimmungskampf ab.

Claude Longchamp

Brexit-Entscheidung: mehr Lebensqualität im Globalisierungskonflikt

    Durch die Globalisierung wird namentlich die englische Gesellschaft durch zwei Geschwindigkeiten in der kosmopolitischen resp. provinziellen Gegenden geprägt. Politisch ist namentliche dieser Teil des Königsreich polarisiert worden, basieren auf einer gesellschaftlichen Spaltung. Vor dem Hintergrund einer skeptischer gewordenen Oeffentlichkeit bestimmten denn auch Fragen der Lebensqualität das Votum zum Austritt aus der EU.

    51,9 zu 48,1 für “leave”. Das stand in den frühen Morgenstunden des 24. Juni 2016 fest. In Windeseile machte die Runde, Grossbritannien habe entschieden habe, die Europäische Union zu verlassen. Seither sind einige Analysen erschienen, welche Ursachen und Folgen klärten. Was ich dazu greifen konnte, habe ich gelesen und mir selber einen Reim gemacht.

    Analyserahmen
    Die Entscheidung der Briten steht für einen typischen Globalisierungskonflikt. Am treffendsten analysiert haben das meines Erachtens die beiden Politikwissenschafter Will Jennings und Gery Stoker von der University of Southampton. Sie sprechen ganz bewusst nur von England, das ein Leben in zwei Geschwindigkeiten kenne – das der “cosmopolitan areas” resp. der “provincial areas”. Erste finden sich in wachsenden Städten, zeigten eine globale Ausrichtung, seien europäisch und zuwanderungs-freundlich. Ihre Grundhaltung sei sozialliberal. Das Gegenstück finde sich in Küstenstädten mit leichter Industrie, die Mentalität sei binnenorientiert, die Menschen tickten sozialkonservativ und wehrten sich gegen die EU und die Immigration.

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    Verschiedene Erstanalysen mittels Aggregatsdaten bestärken die Theorie der beiden Politanalysten. Sie zeigen zuerst verschiedene kulturelle Reaktionen auf die Austrittsfrage, einerseits in Schottland und Nordirland, anderseits in England und Wales. Die vermutete Polarisierung findet sich überall, aber nicht überall gleich stark. Am ausgeprägtesten sei sie eben in England. Und genau das sei für den Ausgang der Abstimmung entscheidend gewesen.

    Befunde
    Oekonomisch gesprochen war das Ja zum Austritt in Zählkreisen mit geringem Einkommen am höchsten. Gesellschaftlich fand es sich dort vermehrt, wo mehr Menschen mit tiefem Bildungsstatus leben resp. vermehrt Menschen ohne Arbeit sind. Aus sozio-kultureller Perspektive relevant ist, dass der Austritt verstärk Zuspruch fand, wenn es mehr Menschen hatte, die am Ort geboren wurden oder ohne Pass und damit Ausreisemöglichkeiten lebten.
    Das heisst noch nicht, dass es die tiefsten Einkommensschichten, die am schlechtesten ausgebildet resp. autochtonen Menschen waren, am meisten gegen die EU stimmten. Es heisst nur, dass dort, wo sie gemehrt vorkommen, es auch mehr Nein-Stimmen gab.

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    Umfragen geben hier eine präzisere Antwort. Sie legen durchwegs eine Priorität auf der politischen Spaltung nahe. Für Verbleib stimmten die mehrheitlich die Wähler der Schottlandpartei, der Grünen, der Liberalen und der Sozialdemokraten. Ganz anders eingestellt waren die die Wählenden der UKIP, zu 96% für den Austritt, ergänzt durch jene der regierenden Konservativen, zu 58 Prozent für das Verlassen der EU.
    Dahinter ging es in der Tat um nationale Selbstverständnisse. Wer sich selber als Brite sieht, war zu über 60 Prozent für den Verbleib. Dagegen votierten Menschen, die sich ausdrücklich als Engländer bezeichnen, zu fast 80 Prozent für den Austritt.
    Schliesslich waren die Lebensperspektiven massgeblich. Befürworter des remains gaben in Umfragen an, Grossbritannien gehe es heute besser als vor 30 Jahren. Genau dem widersprachen die Anhänger des Austritts ausdrücklich. Aehnlich wirkten sich Zukunftsperspektiven aus. Insbesondere wer für leave stimmte, glaubt vermehrt, das Leben der Kinder in Grossbritannien werde schlechter ausfallen werde als das ihrer Eltern.

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    Einiges davon war schon vor der Abstimmung bekannt, anderes wurde durch die Kampagnen zugespitzt. Medien wie der Daily Express, der Daily Mail und allen voran der Sun machten sich für den Austritt stark. Ihre Leser waren schon ein Jahr vor der Abstimmung zu 40 bis 50 Prozent auf der Austrittseite, Tendenz steigend. Die Leserschaft des Guardian, des Independent und der Financial Times bildeten das Gegenstück. Die Stimmbeteiligung kann auch als Folge der medialen Polarisierung gesehen werden. Insbesondere mobilisiert waren am Schluss auch Menschen ohne oder geringem politischen Interesse. Und sie votierten zu 58 Prozent für den Austritt.
    Inhaltsanalysen der Kampagnen legen bekannte Argumentationsketten nahe. Den Protagonisten des Austritts ging es in erster Linie um die Zuwanderung; beschäftigt hatte sie auch die Souveränität, die Kontrolle der eigenen Gesetze und der Grenzen. Ihre Widersacher sprachen vor allem von der Wirtschaft, rechtlichen Verpflichtungen, Europa und der Zukunft. Das widerspiegelt sich auch in Motivanalysen. Die Einwanderung war mit Abstand das wichtigste Motiv für den Austritt, die wirtschaftliche Sicherheit sprach am klarsten für den Verbleib. Argumentativ entschieden sich am meisten Stimmende aufgrund der erwarteten Lebensqualität im Vereinigten Königreich. Das sprach knapp für den Austritt. Jobs, wirtschaftliche Sicherheit und Oekonomie als Ganzes wogen demgegenüber verstärkt für remain.

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    Bilanziert man das alles, waren es die unteren Bildungs- und Einkommensschichten, die sich auf die Seite der Austrittsbefürworter stellten, derweil die oberen für den Verbleib waren. Altersmässig waren die jüngeren mehrheitlich auf dem Pro-europäischen Kurs, die älteren auf der Kontra-Linie.
    Wenig bekannt ist über die politische und gesellschaftliche Zusammensetzung der Stimmenden. Letztlich machte nur die Zusammensetzung nach Alter die Medienrunde – und das aufgrund bloss einer unveröffentlichten Umfrage vor der Abstimmung, die nachträglich selektiv ohne grosse methodische Transparenz zugänglich gemacht wurde.

    Politische Kultur im Wandel

    Politkulturelle Analysen stufen Grossbritannien seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts als Königreich mit einer ausgeprägten politischen Bürgerkultur ein, die durch die Geschichte geprägt sei. Stichworte sind der Euroskeptizismus und der Regionalismus. Neu macht sich auch ein postmodernes Misstrauen breit, verbunden mit Skandalisierungen der Politik und populistische Protestparteien. Namentlich ab 2014 sei die insgesamt stabile Pro-Mehrheit für den EU-Verbleib volatil geworden, mit Schwankungen aufgrund von Ereignissen. Debatten um Leaderfiguren als Zeugen des Zeitgeistes seien gerade in der Europa-Frage jenseits von Sachargumenten typisch geworden.
    Systematische Auswertungen von EU-Beitrittsabstimmungen legen zudem auch ausserhalb der Vereinigten Königreiches nahe, dass drei Sachen typisch seien: die Dauer der Regierung, der Gebrauch von Reizbegriffen in Kampagnen und eine höhe Beteiligung lassen die anti-europäischen Kräfte anwachsen. Camerons Kabinette bildeten zusammen die zweitlängste Regierungszeit nach dem zweiten Weltkrieg, die im Abstimmungskampf vor allem von der Boulevardpresse hochstilisierte Zuwanderungsfrage sind demnach typische Rahmenbedingung für erfolgreiche anti-europäische Volksabstimmungen. Diese wurde durch die Beteiligungshöhe noch befördert.
    Trotzdem, bis am Schluss blieb die Frage offen, zu was sich die Briten beim Brexit entscheiden würden. Nach dem Attentat auf Jo Cox glaubten viele, das Leave-Lager sei in die Defensive geraten. Unschlüssige würden sich jetzt für den Status Quo aussprechen.
    Am klarsten diese Meinung beförderten die beliebten Wettbüros, die eine Sicherheit von beinahe 80 Prozent suggerierten, es komme zu einem Nein zum Austritt – der typischen Hoffnung der meinungsbildenden Eliten in Grossbritannien.

    Claude Longchamp

Chancen und Risiken eines liberal ausgerichteten Gesundheitswesens – Bilanz nach 20 Jahren Gesundheitsmonitor

Am 1. Januar 1996 wurde das neue Krankenversicherungsgesetz in die Schweizer Rechtsordnung eingeführt. Im gleichen Jahr begannen wir von gfs.bern mit dem Gesundheitsmonitor. Dieses Beobachtungsinstrument versteht sich als zuverlässiger Rahmen, der Veränderungen in den Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger zum schweizerischen Gesundheitswesen beobachtet. Das 20-jährige Bestehen des Gesetzes wie auch des Monitors ist der Anlass, die Menge an erhobenen Daten systematisch zu sichten und einer übergeordneten Würdigung zu unterziehen.

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Zuerst das Faktische:

Erstens, es gelang in einem erheblichen Masse, die Akzeptanz des KVG zu steigern. In der Volksabstimmung waren 52 Prozent der Stimmenden dafür. Bezogen auf die Stimmberechtigten bewegten sich die Werte lang in diesem Bereich. Seit 10 Jahren nimmt die Zustimmung zwar nicht konstant, aber mit-telfristig gerichtet zu. Aktuell liegt der Anteil an Bürgerinnen und Bürgern, die eine eher oder sehr positive Bilanz ziehen, bei 81 Prozent. Gefestigt hat sich auch die Mehrheit, die mit dem Stand des heutigen Leistungskatalogs in der Grundversicherung zufrieden ist.
Zweitens, wertemässig ist das Gesundheitswesen der Schweiz mehrheitlich abgestützt. Das gilt insbesondere für die Qualitätsorientierung und Wahlfreiheiten, auf Dauer die beiden zentralsten und am breitesten geteilten Erwartungen der Stimmberechtigten. Besser verankert als auch schon ist namentlich das föderalistische Prinzip im Gesundheitswesen. 2003 befürworteten dies 40 Pro-zent der Stimmberechtigten, heute sind es 65 Prozent. Zugenommen hat auch der Wunsch nach einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung. Der Anteil ist in den letzten 13 Jahren um 16 Prozentpunkte auf 66 Prozent angestiegen.
Drittens, geblieben ist der Kostendruck, denn die Hoffnungen auf Kostenkontrolle dank KVG haben sich nicht erfüllt. 39 Prozent bekunden trotz Entlas-tungsmassnahmen für unterste Einkommensschichten regelmässige oder ge-legentliche Probleme mit dem Bezahlen von Rechnungen der Krankenkasse. 2016 ist das allerdings erstmals nicht die meistgeteilte Klage. Denn neu sind es 40 Prozent, die Probleme haben, Arzt- oder Medikamentenrechnungen Ende Monat zu begleichen. Die Ursache ist recht klar: Mehr und mehr geht man über, Kosten für die eigene Gesundheit selbst zu bezahlen, merkt aber die Folgen dieser Änderung direkt.
Viertens, zu den Negativpunkten zählt, dass sich der selbstreferierte Gesundheitszustand der Stimmberechtigten nicht verbessert hat. Im letzten Jahrhundert verwiesen zahlreiche Befragungen auf einen Anteil von 85 bis 95 Prozent, der sich gesundheitlich als sehr gut oder gut bezeichnete. Der Anteil ist zwischenzeitlich auf gut 60 Prozent gesunken, wobei der Trend praktisch ungebrochen ist. Plausibel angenommen werden kann, dass nicht physischen Leiden zugenommen haben; vielmehr sind es die psychischen, stressbedingten Krankheitssymptome, die zu einer nur eher guten Gesamtbilanz führen.
Fünftens, auch die Gesundheitskompetenzen der Schweizerinnen und Schweizer konnten im beobachteten Zeitraum nicht gesteigert werden. Wenn es um Fragen des Gesundheitswesens geht, geben sich die Befragten auf einer 10er-Skala im Schnitt eine 4.7. 2008 lag der bisherige Spitzenwert bei 6.2. Klar davor rangieren die Leistungserbringer wie die Ärzte, die Pharmabranche oder die Apotheken. Parallel dazu ist auch das Interesse an Gesundheitsfragen nicht gestiegen, sondern mit Schwankungen aufgrund der Aktualität von 83 Prozent 1997 auf 61 im letzten Jahr gesunken.

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Dann eine Würdigung:

Zu den Eigenheiten der Einstellungen im Gesundheitswesen gehört, dass die aller meisten Meinungen überparteilich verteilt sind. Waren bei der Volksabstimmung zur Einführung des KVG nur Mehrheiten der SP-, CVP- und FDP-Wählerschaften dafür, finden sich heute nur selten signifikanten Differenzen nach politischen Orientierungen. Sprache, Schicht, Alter und Geschlecht als Kennzeichnungen der Meinungen im Gesundheitswesen sind aber geblieben. Mit der epochalen Veränderung des schweizerischen Gesundheitswesens nach der Einführung des KVG haben sich die meisten Bürgerinnen und Bürger gut arrangiert. Problematisch bleiben die finanziellen Belastungen – und davon nicht unabhängig der Wille, für sich selbst gesundheitspolitisch korrekt zu leben. Einerseits zeigt sich, dass man sich bisweilen überfordert fühlt, anderseits auch nicht belehrt werden will. Das korreliert mit den finanziellen Möglichkeiten, für sich selber Verantwortung zu tragen. Je geringer diese ausgeprägt sind, desto geringer ist diese Bereitschaft auch ausgeprägt. Und desto eher erwartet man, dass die Gemeinschaft und der Staat dafür verantwortlich sind und bleiben.

Claude Longchamp

Was die Twittosphäre vor Abstimmungen zeigt – und was nicht

Um es gleich zu Beginn zu sagen: Ich bin überzeugt, dass man mit Twitter nicht sinnvolle Abstimmungsvorhersagen machen kann. Die Population ist zu einseitig. Für die Bestimmung von Trends unter Twitter-NutzerInnen eignet sich die automatisierte Kampagnenbeobachtung via socialmedia jedoch bestens.

SSPM Vote Prediction heisst das kürzlich vorgestellte Tool, das mich hier interessiert. Entwickelt wurde es vom Master-Studenten Jacky Casas am HumanTechInstitute der Fachhochschule Freiburg. Ziel des Technikprojektes ist es, möglichst automatisiert aufzeigen, wie sich die Intensität und Tendenz der Beiträge zu Volksabstimmungen entwickelt.

Tendenzen unter Twitterakteuren
Zu den kürzlich vorgestellten Hauptergebnissen zählen:
75 Prozent der Tweets sind für die Asylgesetzrevision.
71 Prozent sind für das neue Fortpflanzungsmedizingesetz.
83 Prozent sind gegen die Volksinitiative für eine faire Verkehrsfinanzierung
78 Prozent sind gegen die ServicePublic-Initiative.
72 Prozent sind für die Volksinitiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen.

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Vor allem fällt die diametral unterschiedliche Einschätzung bei bedingungslosen Grundeinkommen auf. Keine der repräsentativen Umfragen, aber auch keine Online-Erhebung geht in dieser Frage von einer Zustimmungsmehrheit aus. Die aktuellen Ja-Werte reichen von 26 bis 45 Prozent. Das hat vor allem mit dem Medium zu tun. Auf Twitter sind nicht einfach Bürger und Bürgerinnen; vielmehr handelt es sich um medialisierte politische Akteure. Gemessen wird mit diesem Tool, was Menschen, aber auch Organisationen und wohl auch Bots kommunizieren, ganz unabhängig davon, ob sie ein Wahlrecht haben oder nicht resp. stimmen gehen werden oder nicht. Zudem wird unsere Wahrnehmung durch die Reichweiten der Accounts bestimmt. Denn es kann sein, dass eine Seite über wenig, aber potente Schlüsselstellen der Distribution oder Multiplikation verfügt, womit sie schnell mehr auffallen kann als andere.

Uebersicht statt Tunnelblick

Zu den Stärken des neuen Instruments zählt, objektiviert zu erfahren, was auf Twitter insgesamt läuft – beispielsweise in den Sprachregionen. Nur wenige kennen die Trends nach Landesteilen oder Sprachen. Genau dieser Tunnelblick verstellt den Blick aufs Ganze erheblich. So befassten sich 49 Prozent aller abstimmungsbezogener Tweets auf französisch mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. In der italienischsprachigen Schweiz waren es 44 Prozent, in der deutschsprachigen aber nur 19 Prozent. Da waren Asyl und Verkehrsfragen vor der Abstimmung viel wichtiger.
In der deutschsprachigen Schweiz lagen die BefürworterInnen des Grundeinkommens von Beginn weg vorne, und sie gaben die Führung an keinem Tag ab. Das war in der Suisse romande anders. Erst an 7. Mai hatte die Ja-Seite erstmals die Nase vor, verlor sie vorübergehend auch wieder, um erst am 2. Juni die Führung wieder an sich reissen zu können.
Für mich ganz erhellend ist, dass nur die allererste Tamedia-Umfrage einen Einfluss auf die Twittertrends hatte. Sie zeigte eine Nein-Mehrheit, und in der Folge nahmen Tweet mit kritischer Tendenz eine Weile lang zu. Danach wurden die Meinungstendenzen der Twitterakteure durch Umfragen nicht mehr beeinflusst, denn sie trafen aber auf ein bereits prädisponiertes Umfeld.

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Marketingstrategie der Komitees entscheidend
Selber beschäftige ich mich seit längerem mit der Twittosphäre als Fenster zu Meinungsbildung. Dabei habe ich gelernt, dass die Marketingstrategien von Abstimmungskomitees entscheidend sind, was man via Twitter erfährt. Denn sie können ganz auf das Medium verzichten, oder es zu einem Hauptkanal ihrer Aktivitäten machen. Letzteres hat mit den Zielgruppen zu tun, die man vor Augen hat. Massgeblich ist auch das verfügbare Budget. Denn socialmedia ist definitiv günstiger als klassische Werbekampagnen. Diese folgen zudem der Logik, dass steter Tropfen den Stein höhlt, während event-orientierte Kampagnen zurecht auf kurzlebige Kanäle wie Twitter setzen.
Beim Grundeinkommen dürfte auf der Ja-Seite mitgespielt haben, dass man in den klassischen Medienkanälen von Beginn weg mit der Finanzierungsfrage konfrontiert war. Eine Grundsatzdiskussion jenseits dieses mainstream erschien da via Twitter einfacher. Zudem war die kommende Generation Arbeitender offensichtlich eine zentrale Zielgruppe, und über Internet recht einfach erreichbar. Schliesslich setzt man wie kaum ein anderes Komitee auf gut sichtbare Aktionen, die sich via Twitter und ähnlichem gut vor- und nachbereiten lassen.
Nicht übersehen darf man dabei: Die so aufgebautem Wirklichkeiten müssen mit der Realität nicht übereinstimmen.

Claude Longchamp