Abstimmungsdemokratie – eine kleine Auslegeordnung nach der Entscheidung über die Durchsetzungsinitiative

“Wie ist die Stimmung?”, fragt der deutsche Soziologe Heinz Bude in seinem neuesten Buch. Darin argumentiert er, das kollektive Ich westlicher Gesellschaften sei volatil geworden, frage danach, ob die Umgebung optimistisch oder pessimistisch denke – und lasse sich davon anstecken: Stimmungen seien das Gefühl der Welt, das sich ereignisorientiert ändern könne. Das gilt gerade auch für Stimmungen, die rund um Abstimmungen in der Schweiz entstehen.

welchescwheiz

In Deutschland sei die Stimmung mit “Köln” gekippt, von der Willkommenskultur hin zur Protestwahl ganz im Sinne der AfD. Das ist Budes These. Ganz anders die Schweiz: Die Volksentscheidung zur Durchsetzungsinitiative brachte das Land nach den Wahlen ein eine neue Stimmung. Zuerst dominierte die Skepsis gegenüber dem Urnengang. Einmal mehr werde es die SVP richten, war der Grundtenor. Doch dann drehte der Wind, angefangen mit dem dringenden Aufruf, fortgesetzt mit dem Abstimmungsergebnisse und beendete mit der Freude vieler Zeitgenossen, das Blatt noch rechtzeitig gewendet zu haben.
In genau diesem Umfeld fand die jüngste Befragung zu den Parteistärken statt. 1103 repräsentativ ausgewählte TeilnehmerInnen am nationalen Urnengang gaben Auskunft.
Ergebnis Nummer 1: Hätten an diesem Tag auch nationale Wahlen stattgefunden, hätten sich 99 Prozent von ihnen auch hierzu geäussert. Die Wahlbeteiligung wäre auch bei rund 63 Prozent gewesen.
Ergebnis Nummer 2: Die Parteistärken wären anders gewesen als gewohnt. Die FDP hätte die SP und wohl auch die SVP überrundet. Letztere hätte einen geringeren WählerInnen-Anteil gehabt als im Oktober 2015, die FDP wäre klar stärker gewesen.

Mehr oder weniger treffende Einordnungen
Zugegeben, das Umfrageresultat ist überraschend – und es ist interpretationsbedürftig.
Falsch ist beispielsweise die intuitive Annahme, die SVP habe Wähler oder Wählrinnen an die FDP verloren. Wechselwählen ist nur dann der zentrale Erklärungsansatz für sich ändernde Parteistärken, wenn die Beteiligung kollektiv und individuell stabil ist. Wenn dies nicht der Fall ist, muss man mit einem komplexeren Modell arbeiten, das Beteiligungs- und Wechseleffekte gleichzeitig berücksichtigt. Da die effektive Stimmbeteiligung und die hypothetischen Wahlteilnahme am 28. Februar 2015 gegen 15 Prozentpunkte höher war als am 18. Oktober, liegt der Schluss nahe, besondere Mobilisierungseffekte haben zum Ergebnis sowohl bei der Volksabstimmung als auch bei der Befragung zu den Parteistärken geführt.
Der entsprechende Test mit den Umfragedaten legte nahe: Am besten mobilisierten am Stichtag FDP und BDP. Es folgten CVP und SP, alle vor der SVP. Für einmal spielte nicht der Effekt, dass die Pole via Beteiligung den Ton in Volksentscheidungen angeben, sondern das bürgerliche Mitte/rechts-Lager. Das schlägt sich auch im Umfrageresultat nieder. Und um es klar zu sagen: Die SVP hätte kaum Wählende verloren, weder an die Nicht-WählerInnen, noch an andere Parteien. Aber sie hätte kaum mehr Wahlberechtigte zum Stimmen bewegen können als bei den jüngsten Wahlen – ganz im Gegensatz zu ihren Widersachern auf der Nein-Seite der Volksinitiative.
Wer das Ergebnis der Befragung so analysiert, sagt auch, dass das Ergebnis den Umständen geschuldet ist. Auch hier gibt es fehlerhafte Interpretationen: Das “politische Beben” (Sonntagsblick) wird nicht erst kommen, es war – am 28. Februar 2016. Ob es sich wiederholen lässt, ist und bleibt fraglich. Denn rekordverdächtige Mobilisierungen wie am letzten Abstimmungssonntag entstehen nicht aus dem nichts heraus und sind sicher nicht konstant. Sie brauchen zu aller erst ein Streitthema, und sie leben von einer Stimmung. Diese entstand aus eine Gemisch aus Aengsten und Hoffnungen, parteilich ausgerichteten sozialen Medien mit Einfluss auf Massenmedien und einem Werbeüberhang auf der Nein-Seite. Jeder Bestandteil einzeln hätte nicht genügt, um die Schweiz in Stimmung zu versetzen. Die Kombination von allem aber bewirkte das, was Bude das “Gefühl für die Welt” genannt hat – und uns vor Monatsfrist so bestimmt.
Jede kommende Wahl, die nicht zwei Drittel der Wahlberechtigten mobilisiert, sondern die Hälfte oder gar nur einen Drittel wird ein anderes Ergebnis der Parteistärken vermitteln als heute angegeben. Der prognostische Wert des Umfrage ist gering, anders als der analytische. Denn die normale Beteiligung bei kantonalen Wahlen bildet den Sockel an Wahlwilligen. Die Beteiligung, wie wir sie bei nationalen Wahlen kennen gelernt hat, enthält die erste Zusatzschicht hierzu. Und das Umfrageergebnis von heute zeigt, wie die zweite Zusatzschicht aussehen könnte.

Stimmungsanfällige Identitätsfragen
Was uns mehr als jeder Prozentpunkt mehr oder weniger bei einer Partei zu beschäftigen hat, ist die Entwicklung von der Abstimmungs- zur Stimmungsdemokratie. Das Elektorat das entscheidet, ist keine Konstante mehr an der man sich mittelfristig auszurichten hat, will man in Volksabstimmungen nicht versetzt werden. Vielmehr mutiert es zu einer Variable mit immer geringerer Sicherheit als Anker für die kommende Politik.
Stimmungsentscheidungen sind auf der mehr rationalen Ebene der Verteilungsfragen weniger üblich. Sie treten vor allem dann auf, wenn es um Identitätsfragen geht. “Welche Schweiz siegt heute?” fragte die Schweiz am Sonntag am Morgen des 28. Februar 2016 zurecht. Denn in solchen Fragen oszillieren wir zwischen der nationalkonservative mit der “Traditionsschweiz” und der (links)liberalen Variante mit der “Chancenschweiz” gerade als Folge emotional aufgeladener Impulse in der Oeffentlichkeit.
Und: Wer einmal schwankt, schwankt auch ein zwetes Mal. Mit Folgen für das Land und Parteien. Das eben ist Stimmungsdemokratie.
Claude Longchamp