Abstimmungsumfragen: der verkannte Wert von Argumententests

Es hat sich eingebürgert, zur Ermittlung von Stärkenverhältnissen Pro und Kontra bei Vorbefragungen zu Volksabstimmungen, mit der Sonntagsfrage zu arbeiten. Doch ist das nicht die einzige Möglichkeit, abzuschätzen, was bis am Abstimmungstag geschehen kann. Eine immer wichtiger werdende Alternative hierzu sind Argumententests.

Es gehört zu den ebenso bewährten Vorgehensweisen, in Vorumfragen zu Volksabstimmungen Botschaften beider Seiten hinsichtlich ihrer Akzeptanz und Wirkung zu testen. Nun kann man mit der Gesamtheit geprüfter Argumente auch bestimmen, ob eine Personen einer der beiden Seiten inhaltlich näher steht. Systematische Tests, die wir in den letzten acht Jahren unternommen haben, legen nahe, aus allen Bewertungen von Botschaften einen Index zu bilden. Dieser gibt an, wie gross die Anteile sind, die mental mit dem Ja- oder dem Nein-Lager übereinstimmen.

Ausgesprochen nützlich sind Vergleiche von Stimmabsichten und indexierten Argumenten beispielsweise nach Parteiwählerschaften. Theoretisch ist denkbar, dass die Verhältnisse weitgehend übereinstimmen, aber auch dass sie unterschiedlich ausfallen. Tritt Ersteres ein, liegt ein deutlicher Hinweis vor, dass die Meinungsbildung fortgeschritten ist. Man kann auch von einer argumentativ unterlegten Stimmabsicht sprechen. Oder anders gesagt: Stimmabsichten folgen einer detaillierten Bilanz, die man sich aufgrund der Botschaften der Komitees gemacht hat. Dieser Fall entspricht weitgehend dem, was die Rational-Choice-Theorie erwartet.

Allerdings, die Stimmabsichten müssen diesem Ideal nicht zwingend entsprechen. Vor allem in einer frühen Phase der Meinungsbildung kann es sein, dass anderes entscheidend ist: zum Beispiel das Behördenvertrauen/-misstrauen, die Parteiidentifikation oder weltanschauliche Werthaltung. Die Abstimmungsforschung spricht von “Shortcuts”, Entscheidungshilfen, die einen raschen Entschluss zulassen. In unserer Sprache sind das alles so Prädispositionen. Sie bestehen schon vor dem Abstimmungskampf, und sie erlauben es, eine grundlegende Situierung zu einer gestellten Frage vorzunehmen. Auch kann es sich dabei um spezifische Prädispositionen handeln, etwa Erfahrungen, die man mit einem Thema, über das entschieden wird, im Alltag macht, ohne sich mit den Forderungen im Verfassungs- oder Gesetzesvorschlag befasst zu haben.

Stellt man auf unsere Vorbefragungen zur Meinungsbildung bei den anstehenden Volksentscheidungen vom 5. Juni ab, kann man drei typische Unterscheidungen vornehmen:
Fall 1: Stimmabsichten und Argumentenindex sind identisch (wie beim Bedingungslosen Grundeinkommen).
bge

Fall 2: Stimmabsichten und Argumentenindex unterscheiden sich flächendeckend (wie bei Service-Public-Initiative).
psp

Fall 3: Der Argumentenindex polarisiert in beide Richtungen, ganz anders als die Stimmabsichten (wie das beim Asylgesetz auftritt).
aslyg

Unsere Folgerungen lauten: Beim ersten Fall handelt es sich um die bereits erwähnte, gesättigte Form der Meinungsbildung. Der zweite Fall verweist darauf, dass sich die Stimmabsichten im Abstimmungskampf generell in eine Richtung verändern dürften, nämlich hin zum Indexwert Argumententest. Im dritten Fall ist mit einer noch aussehenden Polarisierung der Parteilager zu rechnen.

Konkret heisst dies: Bei der Service-Public-Initiative ist gehen wir davon aus, dass sich die vorteilhaften Werte für die Stimmabsichten tendenziell verschlechtern, wenn man sich mit den Argumenten Pro und Kontra auseinandersetzt. Der positive Sympathiewert in der Ausgangslage täuscht über das finale Stimmverhalten hinweg. Wahrscheinlich ist, dass mit dem Abstimmungskampf das Nein zunimmt und sich das Ja verringert.

Beim Asylgesetz erwarten wir keine flächendeckend einheitliche Tendenz, vielmehr eine Polarisierung. Bei der SVP ist von einer verstärkten Ablehnung auszugehen, Mitte/links erscheint eine verstärkte Zustimmung möglich. Am schwierigsten einzuschätzen sind hier namentlich die Parteiungebundenen. Sie stehen zwischen den Polen, allerdings mit einem Indexwert, der unter den jetzigen Stimmabsichten ist. Botschaften, die von überparteilichen Vertreterinnen und Vertretern im Abstimmungskampf ausgesendet werden, dürften gerade in dieser Gruppe den Ausschlag geben.

Bei der Service-public-Vorlage rechnen wir deshalb mit einem Rückgang der Zustimmung, wenn auch das Mass der Veränderung offen bleibt. Bei der Asylgesetzrevision sind Veränderungen in beide Richtungen möglich.

Claude Longchamp

Elektorale Integrität: Probleme mit der Briefwahl für Auslandschweizer_innen als faule Ausrede

Studentischer Gastbeitrag von Lirija Sejdi, Mastertrack Datenjournalismus, Institut für Politikwissenschaft Uni Zürich

In 14 Kantonen dürfen Auslandschweizer_innen nicht an den Ständeratswahlen teilnehmen. Begründet wird dies häufig mit der zu kurzen Zeitspanne für die Briefwahl zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang. Allerdings waren die Auslandschweizer_innen im Kanton Luzern trotz E-Voting auch 2015 von der Ständeratswahl ausgeschlossen.

Da Ständeratswahlen in die Kompetenz der Kantone fallen, haben hier nicht alle Auslandschweizer_innen die gleichen Stimmrechte – geschweige denn die gleichen wie alle anderen Schweizer_innen. In mehr als der Hälfte aller Schweizer Kantone (AG, AI, AR, GL, LU, NW, OW, SG, SH, TG, UR, VD, VS, ZG) können Auslandschweizer_innen bei den Ständeratswahlen nicht mitreden. Als problematisch in Bezug auf die Ständeratswahlen wird vor allem der zweite Wahlgang angesehen, der möglichst schnell auf den ersten erfolgen sollte. So schnell, dass es für die Zustellung der Wahlcouverts ins Ausland eng wird. Deswegen ersparen sich einige Kantone diesen Stress und lassen Auslandschweizer_innen gar nicht erst daran teilnehmen.
Diese Begründung würde mit der, in Zusammenhang mit Auslandschweizer_innen bereits häufig diskutierten, Einführung von E-Voting wegfallen. Schliesslich müsste es dadurch kein Couvert innerhalb einer bestimmten Frist ins Ausland und wieder zurück schaffen. Gegen
E-Voting gibt es das eine oder andere Gegenargument. Der Bundesrat kann aber Kantonen erlauben, die elektronische Stimmabgabe für Auslandschweizer_innen einzuführen. Die Premiere bei eidgenössischen Wahlen gab es im Jahre 2011 in vier Kantonen. Bei den letztjährigen nationalen Wahlen waren es deren drei: Basel-Stadt, Genf und Luzern.

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In zwei dieser drei Kantone, Basel-Stadt und Genf – wenn auch in Basel-Stadt zum allerersten Mal –, können Auslandschweizer_innen ebenfalls an den Ständeratswahlen teilnehmen. Nicht aber im Kanton Luzern, obwohl dieser seit 2010 für Auslandschweizer_innen „versuchsweise“ die elektronische Stimmabgabe nach Genfer Vorbild eingeführt hat, dies bis letzten Herbst nur für eidgenössische Abstimmungen. Zeitproblem behoben, doch wieso bleiben Auslandschweizer_innen von der Ständeratswahl ausgeschlossen?
Es wird kaum daran liegen, dass die regierenden Parteien Angst hätten, durch das, im Vergleich zum Gesamtkanton Luzern deutlich, linkere Wahlverhalten der Auslandschweizer_innen ihre bürgerlichen Ständeratssitze zu verlieren. Zwar schneidet die CVP bei den Auslandschweizer_innen um 10.3% schlechter ab als insgesamt im Kanton, auch die SVP erhielt 6.9% weniger Stimmen. Linke Parteien wie die SP und die Grünen machten dafür ein Plus von 3.7% beziehungsweise 6.5%. Es gilt jedoch zu beachten, dass nur knapp 4‘000 Auslandschweizer_innen im Stimmregister des Kantons Luzern registriert sind (Stand 2010). Dazu kommt eine viel tiefere Wahlbeteiligung von 32.1% im Vergleich zu gesamtkantonalen 50.9%. Somit hätten die Auslandschweizer_innen, selbst wenn sie sich einstimmig für dieselbe Person eingesetzt hätten, das Resultat nicht annähernd wenden können.
Viel wahrscheinlicher ist, dass man nicht zu schnell vorpreschen wollte. Schliesslich handelt es sich um eine „versuchsweise Einführung der elektronischen Stimmabgabe“. Nachdem diese zuerst nur für Abstimmungen zugelassen und die eidgenössischen Wahlen 2011 noch konventionell abgehalten wurden, hat nun der erste Versuch bei den Nationalratswahlen stattgefunden. Setzen wir diese Reihe fort, würde ich erwarten, dass wir in vier Jahren mit einer Beteiligung der Auslandschweizer_innen bei den Luzernen Ständeratswahlen rechnen können.
Ansonsten diskutieren wir im 2019 eine mögliche „faule Ausrede“ gerne etwas ausführlicher.

Elektorale Integrität – Problemfall Briefwahl

Studentischer Gastbeitrag von Pascale Münch, Mastertrack Datenjournalismus, Institut für Politikwissenschaft Uni Zürich

Obwohl Schweizer Wahlen integer sind, besteht hierzulande durch die briefliche Stimmabgabe die Möglichkeit eines Verstosses gegen das zentrale demokratische Prinzip des „one man – one vote“. Die Briefwahl ermöglicht dem Stimmberechtigten eine mehrfache Stimmabgabe ohne erkannt zu werden.

Gelingende, faire und korrekt ablaufende Wahlen sind heute noch in vielen Regionen der Welt eher die Ausnahme als die Regel. Die Gründe dafür sind vielseitig. Sind Wahlen nicht integer, so liefern sie auch keine legitimierten Ergebnisse. Mängelbehaftete Wahlen kommen aber nicht nur in sogenannten „grey middle zone“ Ländern – weder absolute Autokratien noch etablierte, konsolidierte Demokratien – vor, sondern können durchaus auch in eben diesen auftreten. Eine der möglichen Verfehlungen stellen die Risiken der brieflichen Stimmabgabe dar.
Seit der Einführung der brieflichen Stimmabgabe in der Schweiz 1994 gehen nur noch wenige persönlich an die Urne. Mehr als 85 Prozent der heutigen Wahl- und Stimmbevölkerung nutzt seither den Weg der brieflichen Stimmabgabe. Bestehen Mängel bei der brieflichen Stimmabgabe dürfen diese bei einer solch regen Nutzungszahl nicht unberücksichtigt bleiben.

Nutzung der brieflichen Stimmabgabe seit der Einführung 1994 in Prozent

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Quelle: Bundeskanzlei und OSCE, eigene Darstellung

In modernen Demokratien sind die Termini „gleich“, „geheim“ und „allgemein“ für die Grundsätze des aktiven Wahlrechts allgegenwärtig.
Klar ist, dass durch die briefliche Stimmabgabe allen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern den gleichen Zugang zu Wahlen gewährleistet wird. Mehr noch, durch die briefliche Stimmabgabe wird der Abstimmungsmodus massiv erleichtert und Menschen, die aus diversen Gründen nicht in der Lage wären an Wahlen teilzunehmen, wird eine Teilnahme ermöglicht.
Nun wird von den internationalen Standards zur Durchführung von Wahlen nicht nur die gleichen Zugangschancen verlangt, sondern auch, dass sowohl die geheime Wahl garantiert, als auch, dass allen Stimmberechtigten das gleiche Stimmengewicht zugestanden wird. Und genau hier liegt eines der Hauptprobleme der brieflichen Stimmabgabe. Durch die geheime Wahl wird dem Individuum ermöglicht, dass es seinen Willen ohne allfällige Zwänge und Druck unverfälscht widergeben kann. Das wiederum führt aber zu möglichen Missbräuchen seitens der Stimmbürger. Durch die geheime Stimmabgabe wird nicht mehr ersichtlich, ob diesem Credo der unverfälschten Willensabgabe wirklich Rechnung getragen wird oder ob mehrere Wahlzettel durch ein und dieselbe Person ausgefüllt und eingeworfen wurden.
Beim Ausfüllen von mehreren Wahlzetteln durch dieselbe Person wird das zentrale demokratische Prinzip des „one man – one vote“ beschnitten, indem jedem Stimmberechtigten genau eine Stimme zusteht.

Planmässige Wahlbetrüge können nur aufgedeckt werden, wenn panaschiert oder kumuliert wurde. In diesen Fällen können identische oder ähnliche Handschriften erkannt werden. Bei unverändert eingereichten Listen oder Listen mit gestrichenen Kandidaten wird ein Betrugsnachweis fast unmöglich. Hinzu kommt das Wahl- und Abstimmungsgeheimnis. Durch die Trennung von Stimmrechtsausweis und Stimmzettel kann bei einem Betrug nicht mehr nochvollzogen werden, woher die Mehrfachausfüllungen stammen. Der Betrüger kommt davon.

Dass es in der Schweiz offensichtlich zu Verstössen bezüglich des Credos „one man – one vote“ kam, zeigten die beiden vorsätzlichen Wahlmanipulationen von Linus Dobler (CVP, 2001) und Sigfried Noser (SVP Glarus, 2010).

Durch die Möglichkeit der mehrfachen Stimmabgabe wird gegen das demokratische Prinzip des „one man – one vote“, dass jedem Stimmberechtigten das gleiche Stimmengewicht zugestanden wird, verstossen und das wiederum führt zu nicht vollständig korrekten und fairen Wahlen. Demzufolge hat die Schweiz in diesem Kontext ein Problem mit der Elektoraten Integrität.

Elektorale Integrität: Erfolgsaussichten einer Gratis-Abstimmung

Studentischer Gastbeitrag von Roberto Ramphos, Mastertrack Datenjournalismus, Institut für Politikwissenschaft Uni Zürich

Die SVP hat jüngst den Entscheid bekanntgegeben, dass sie keine Mittel in die Abstimmung des von ihr erzwungenen Referendums zum Asylgesetz bereitstellen wird. Diese Strategie stellt ein Novum in der neueren schweizerischen Abstimmungsgeschichte dar. Vor allem bei Ausländerfragen, dem Spezialgebiet der SVP, engagierten sie sich jeweils substantiell an den Kampagnen. Wieso dieser Entscheid gefällt wurde bleibt Spekulation. Darüber aber, was dies für das Referendum bedeutet, können durchaus Annahmen getroffen werden.

Dass Geld alleine keine Abstimmungen gewinnt, ist spätestens nach der millionenschweren EWR-Abstimmung kein Geheimnis mehr. Die damals teuerste Kampagne der schweizerischen Abstimmungsgeschichte für den Beitritt zum Wirtschaftsraum erwies sich als nutzlos. Die „Problematik“ von gekauften Abstimmungen in der Schweiz ist, anders als bei Wahlen in den USA, nicht erwiesen. Auch in der Politikwissenschaft ist dies wenig umstritten. Trotzdem überrascht es, dass die sonst in Asylfragen nicht geizende SVP es genau bei dem Referendum zum Asylgesetz versucht, gänzlich ohne finanziellen Mitteln auszukommen. Natürlich beherrscht die Volkspartei wie keine zweite die Klaviatur der medialen Aufmerksamkeit. Dies zeigte sich schon nur darin, dass ihr Verzicht auf bezahlte Kampagne auf grosses Echo der Presse stiess. Ob dies jedoch reicht darf bezweifelt werden. Das finanzielle Engagement kann nämlich vor allem bei knappen Abstimmungen ausschlaggebend sein.

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Quelle: Media Focus Schweiz. Beste erhältliche Daten zu diesem Thema aber teilweise mit erheblichen Ungenauigkeiten, so wird z.B. das SVP-Extrablatt nicht berücksichtigt.

Blickt man in die Vergangenheit zurück, können durchaus Tendenzen erkennt werden. In den letzten 10 Jahren können 10 Abstimmungen dem übergeordneten Thema «Ausländerfragen» zugeordnet werden. Gemessen am geschätzten Budget für Medieninserate und Plakataktionen , gewann immer diejenige Position die Abstimmung, welche das grössere Budget aufwies. Die einzige Ausnahme stellt die Volksinitiative «gegen die Masseneinwanderung» dar. Dieser Abstimmungskampf stiess aber mit dem grössten Gesamtbudget der letzten fünf Jahren in praktisch unbekannte Dimensionen der politischen Werbung in der Schweiz vor. So betrug das Budget der Gegner der Initiative sieben Millionen Schweizerfranken, das der Befürworter aber immer noch drei Millionen.
Ist es also genau in dem Bereich der Ausländerthematik trotzdem möglich Stimmen zu „kaufen“? Es kann angenommen werden, dass vor allem bei knappen Abstimmungen die Kampagne durchaus einen Effekt haben kann. Relevanter sind aber viele andere Faktoren bei den Abstimmungen. Die oft gehörte Klage, dass die Gegenseite sie mit ihrer finanziellen Übermacht geschlagen habe ist zumindest in der Schweiz unwahrscheinlich. Die Ausländerthematik ist aber ein sehr Umstrittener und aktueller Bereich der schweizerischen Politik. Daher kann es durchaus ins Gewicht fallen, wenn das finanzielle Engagement komplett wegfällt.
Kann die SVP also den Coup der Masseneinwanderungsinitiative mit dem Asylgesetzreferendum zum Nulltarif wiederholen? Höchstwahrscheinlich nicht. Alle anderen relevanten Regierungsparteien engagieren sich in Kampagnen dagegen und machen es damit der SVP extrem schwer diesen Nachteil ohne Ausgaben zu kompensieren. Wohl werden über andere Organisationen Gelder für die Ja Kampagne fliessen (namentlich der AUNS sowie Privatpersonen) trotzdem wiegt die Abwesenheit der SVP zu schwer. Verstärkend kommt hinzu, dass der mediale Fokus eher auf die zeitgleich stattfindende Abstimmung zur «Milchkuhinitiative» liegt und es damit noch schwieriger wird, von Gratis-Aufmerksamkeit durch Medienbeiträge zu profitieren.
Die Zeichen stehen also schlecht für die Gegner des Asylgesetzes. Die Abwesenheit finanzieller Unterstützung vonseiten der SVP könnte dabei den Entscheidenden Ausschlag geben. Das Geld ist meistens keine hinreichende- sehr wohl aber eine Notwendige Bedingung um Abstimmungen zu gewinnen.

Elektorale Integrität: Wie Jung- und Kleinparteien vom heutigen Wahlrecht benachteiligt werden

Studentischer Gastbeitrag von Salim Brüggemann, Mastertrack Datenjournalismus, Institut für Politikwissenschaft Uni Zuerich

In der Öffentlichkeit ist wenig bekannt über die Unfairness eidgenössischer Nationalratswahlen. Zwar kennt die Schweiz keine Wahlhürden wie etwa Deutschland, wo bei den letzten Bundestagswahlen 2013 rekordverdächtige 15,7 % der Stimmen unberücksichtigt blieben, weil sie an der 5 %-Hürde scheiterten. Dennoch werden die kleinsten Parteien auch in der kleinen Schweiz durch das Wahlrecht systematisch benachteiligt. Wie kommt das?

Wie Claudio Kuster zurecht bemerkt, gibt es DIE Schweizer Nationalratswahlen gar nicht. Stattdessen finden streng genommen 26 verschiedene Nationalratswahlen statt – in jedem Kanton eine. Die Organisierung des Wahlrechts ist ein alter Zopf und auch im Falle der grossen Parlamentskammer weitgehend kantonalem Recht unterstellt. Diese Aufteilung in 26 Wahlkreise sorgt dafür, dass ein gewisser Teil der Stimmen schlicht verloren geht bzw. über Listenverbindungen nur indirekt Eingang ins Wahlresultat findet.
Nebst dem Wahlverfahren, dessen genaue Ausgestaltung eben den Kantonen obliegt, spielt insbesondere die Wahlkreisgrösse eine erhebliche Rolle für die (Un-)Gleichheit in der Sitzverteilung. Je weniger Stimmbürger ein Kanton zählt, desto mehr Stimmen finden keine Berücksichtigung, weil sie das Mindestquorum für einen Sitz nicht zu erfüllen vermögen.
Die Parteien sind sich dessen bewusst und treten daher in kleinen Kantonen vielfach gar nicht erst zur Wahl an – wodurch sich die Wahlverzerrung um eine kaum quantifizierbare Dunkelziffer vergrössert und viele Stimmberechtigte davon abhalten dürfte, nur schon ihren Wahlzettel einzuwerfen.
Dass letzten Herbst im Kanton Nidwalden überhaupt eine echte – und keine stille – Nationalratswahl stattfand, ist alleinig der halbernst gemeinten Initiative von WOZ-Journalist Andreas Fagetti zu verdanken. Ansonsten wäre schlicht der einzige weitere Kandidat und SVP-Vertreter Peter Keller konkurrenzlos im Amt bestätigt worden. Die 2’776 bzw. 17,1 % an (Protest-)Stimmen, die Fagetti erhielt, sind ein exemplarisches Beispiel für die Problematik. Denn sie waren im Endeffekt einfach verloren.
In diesem Falle eher unproblematisch, mag man einwenden, da Fagetti ja sowieso keiner Partei angehört und als Unabhängiger antrat. Doch bei vielen anderen KandidatInnen ist das Gegenteil der Fall. Sie vertreten in erster Linie ein bestimmtes politisches Programm, das ihre WählerInnen auch dann gerne berücksichtigt sähen, wenn es für die konkrete Kandidatur nicht ausreichen sollte.
Der fehlende Doppelproporz wird also umso stossender, je grösser die schweizweit aufsummierte Zahl an verlorenen oder über Listenverbindungen nur indirekt berücksichtigten Stimmen für eine Partei ausfällt. Kuster hat sich nach den Wahlen vom letzten Herbst die einzelnen Zahlen genau angeschaut und ausgerechnet, wie die Sitzverteilung ausfiele, würde der Nationalrat nach dem doppeltproportionalen Zuteilungsverfahren gewählt – umgangssprachlich auch unter dem Namen “Doppelter Pukelsheim” bekannt. Das Resultat dieser Analyse findet sich in untenstehender Grafik.

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Die Parteien sind aufgeteilt in je eine Gruppe für die Jungparteien (blau) und eine für die anderen Parteien (orange). Innerhalb der Gruppen wiederum sind sie von links nach rechts ungefähr entsprechend ihrer politischen Positionierung auf der Links-Rechts-Achse angeordnet (entsprechend gängigen Einordnungen). Die berechneten Sitzverschiebungen basieren zwar nicht auf den endgültigen, sondern den zwischenzeitlich überholten „vorläufigen“ Wahlergebnissen. Dennoch vermitteln sie einen guten Eindruck von den Auswirkungen des Doppelproporzes.
Was sofort auffällt, ist dass alle aufgeführten Jungparteien neu mindestens einen Sitz erhielten, die JUSO und die jungen Grünen gar deren zwei. Weitere Kleinparteien wie die Piraten, die heute genauso an den kantonalen Mindestquoren scheitern, wären neu ebenfalls in der grossen Parla-mentskammer vertreten.
Demgegenüber stehen Sitzverluste bei allen grossen Bundesratsparteien – bei der SP gar um 10 Stück. Dies deutet darauf hin, dass sie in vielen Kantonen geschickte Listenverbindungen eingegangen ist, was die Verzerrung des Wählerwillens durchaus bis zu einem gewissen Grade abzumildern vermag.
Dessen ungeachtet ist das Problem evident und stellt ein klares Defizit bezüglich der elektoralen Integrität der Schweiz dar. Also höchste Zeit für die Einführung des Doppelproporzes auf nationaler Ebene!

Worüber wir am 5. Juni 2016 abstimmen (5): die Milchkuh-Initiative

Verkehrsfragen ist eigen, dass sie nahe am Alltag sind: Staus und Steuern sind da zwei bekannte Reizthemen. Am 5. Juni steht die Volksinitiative für eine faire Verkehrsfinanzierung zur Entscheidung an. Unterstützung findet sie von rechts. Rotgrün ist dagegen. Entscheiden wird das politische Zentrum.

Das Anliegen
Die Kontroverse begann schon mit der Titelwahl. Anknüpfend an eine populäre Vorstellung unter Autofahrern, von allen Verkehrsteilnehmern finanziell am meisten geschröpft zu werden, nannten die Initianten ihr Anliegen zu Beginn “Milchkuh”-Initiative. Die Bundeskanzlei wollte den Titel nicht zulassen, weshalb man das Begehren für den Abstimmungskampf in Initiative “für eine faire Verkehrsfinanzierung” umtaufen musste.
Materiell wird gefordert, den Reinertrag der Mineralölsteuer sowie der Nationalstrassenabgabe ausschliesslich für den Strassenverkehr zu verwenden. Gegenwärtig fliessen 1,5 Milliarden Franken oder die Hälfte der spezifischen Einnahmen in die allgemeine Bundeskasse. Zudem soll ein fakultatives Referendum für Entscheidungen zur Strassenfinanzierung eingeführt werden.
Das 27köpfige Initiativkomitee setzt sich aus Politikern des rechtsbürgerlichen Lagers zusammen. Hinzu kommen Vertreter der Automobilverbände resp. des Gewerbeverbandes.
Der Nationalrat lehnte die Vorlage mit 66:123 Stimmen ab, der Ständerat mit 10:26 Stimmen. Die Unterstützung stammte weitgehend aus Kreisen der SVP und der FDP, während die Politikerinnen der Mitte/Links-Parteien überwiegend dagegen votierten.
Zudem hat sich der Ständerat kurz vor dem beginnenden Abstimmungskampf zwischen die Fronten gesetzt und einen indirekten Gegenvorschlag eingebracht, der dem Strassenverkehr etwa halb so viele Mehreinnahmen bringt, die Einführung aber nach hinten verschiebt. Die Folgen für die Bundeskasse erscheinen so verkraftbar.
Der Bundesrat, vertreten durch Finanzminister Ueli Maurer, lehnt die Vorlage mit der Begründung ab, eine generelle Zweckbindung für Steuern und Abgaben würde andere Anspruchsgruppen auf den Plan bringen und die verfügbaren öffentlichen Einnahmen verringern.
Die Parteiparolen werden eben erst gefasst. Erwartet wird ein Ja der SVP, während SP, CVP, GPS und GLP dagegen sein dürften. Bereits entschieden haben sich die EVP und die BDP; beide Parteien sind auf der Nein-Seite. Am schwierigsten einzuschätzen ist die FDP. Sie ist im Initiativkomitee prominent vertreten, doch äusseren sich ebenso gewichtige Teile ihrer Politiker auch auf der gegnerischen Seite. Für die Initiative ausgesprochen haben sich die Jungfreisinnigen.

Typologie der Meinungsbildung
Das Umfeld für Volksabstimmungen zu Verkehrsvorlagen hat sich verändert. Ökologische Bedenken namentlich gegenüber dem Individualverkehr haben sich verringert. Zudem besteht manchenorts der Eindruck, nach zahlreichen grossen Paketen zugunsten des öffentlichen Verkehrs seien nun die Verkehrsteilnehmer auf der Strasse an der Reihe. Der Verkehrsmonitor von Auto Schweiz zeigte 2015, dass Forderungen, wonach jeder Verkehrsteilnehmer seine Verkehrskosten selber tragen soll resp. Quersubventionierungen unterbunden werden sollen, grundsätzlich mehrheitsfähig (geworden) sind.
Wir klassieren die Initiative für eine faire Verkehrsfinanzierung deshalb als potenziell mehrheitsfähig. In der Ausgangslage ist eine zustimmende Mehrheit unter den Stimmwilligen möglich. Im Abstimmungskampf kann es dennoch zu einem Meinungswandel hin zum Nein kommen, namentlich wenn die Folgen der Vorlage für die Finanzpolitik zum Hauptthema werden.

Bisheriger Abstimmungskampf
Im bisherigen Abstimmungskampf ist die Entscheidung über die Milchkuh-Initiative eine der Leadvorlagen. Materiell geht es um viel; die Akteure sind relevant, und der Ausgang ist unsicher.
Die Initianten starteten frühzeitig in den Abstimmungskampf. Sie betonen, dass es nötig sei, auf den Strassen sicher und flüssig vorwärts zu kommen. Die Staus in den Agglomerationen müssten mit mehr Strassen entschärft werden. Das nötige Geld dazu sei vorhanden, wenn es nicht zweckentfremdet eingesetzt werde. Zudem müssten die Strassenbenützer bessere Mitsprache zu Fragen der künftigen Verkehrsfinanzierung haben.
Die Gegnerschaft, koordiniert durch den VCS, argumentiert vor allem mit den neuen Lasten für die Allgemeinheit, so für den öffentlichen Verkehr, das Bildungswesen oder die Landwirtschaft. Sie befürchtet, ein Strassenausbau bringe mehr motorisierten Verkehr und damit mehr Verschmutzung der Luft resp. Asphaltierung der Landschaften mit sich.

Referenzabstimmungen

Am ehesten kann man den Gegenvorschlag zur Avanti-Initiative als Vergleichsabstimmung heranziehen. 2004 lehnten 62,3 Prozent der Stimmenden und sämtliche Kantone die damalige Vorlage ab. Relevante Konfliktlinien waren der Autobesitz, die Parteiaffinitäten und die Präferenz für Umweltschutz vor Wirtschaftswachstum. Mehrheitlich dafür waren intensive Autobenützer und die Anhängerschaften von SVP und FDP. Vermehrt, aber nicht mehrheitlich dafür waren auch höhere Einkommensklassen, ältere Menschen und Männer.
Motivmässig dominierten die Staubekämpfung, eine 2. Gotthardröhre und Mehreinnahmen für den Agglomerationsverkehr auf der Ja-Seite, während neue Belastungen durch ein steigendes Verkehrsaufkommen auf der Nein-Seite entscheidend waren.
Die SRG-Befragungen vor der Entscheidung legten nahe, dass das Vorhaben zu keinem Zeitpunkt mehrheitsfähig war, mit dem Abstimmungskampf an Zustimmung auch verlor.
Gewarnt sei vor direkten Übertragungen. Denn das Umfeld für Verkehrsvorlagen hat sich seit 2004 wie beschrieben verändert. Typisch hierfür war die Entscheidung über die 2. Gotthard-Röhre am 28. Februar 2016. Was vor zehn Jahren noch fast undenkbar war, schaffte 2016 die Mehrheit. Denn 57 Prozent votierten für den Ausbau des Strassenverkehrs durch die Alpen, insbesondere um die Sanierung des bisherigen Strassentunnels vorbringen zu können. Allerdings, bei der Milchkuh-Initiative handelt es sich nicht um eine Behördenvorlage, sondern ein Oppositionsprojekt hierzu. Der Bundesrat, der für die 2. Gotthard-Röhre warb, ist nun auf der Nein-Seite.

Erste Bilanz
Alleine aufgrund der Prädispositionen zur Zweckbindung von Verkehrsabgaben ist ein Volksmehr zur Milchkuh-Initiative denkbar. Letztlich ist jedoch, wie bei allen Volksinitiativen, die Schwachstelle des Vorhabens entscheidend. Die Kommunikation hierzu wirkt sich erst im Abstimmungskampf aus. Sie setzt zweifelsfrei bei den Folgen für die allgemeine Bundeskasse und einzelne Ausgaben- resp. Bezügergruppen an. Für die Mehrheit entscheidend ist die Haltung der CVP. Ein wenig offen ist auch die Position der FDP-Wählerinnen.
Bis genauere Informationen zu den ersten Stimmabsichten insgesamt und dieser Gruppen vorliegen, taxieren wir den Ausgang dieser Volksentscheidung als offen.

Claude Longchamp

Worüber wir am 5. Juni 2016 abstimmen (4): die Asylgesetzrevision

Asylgesetzrevisionen wie die, die am 5. Juni 2016 zur Abstimmung kommt, haben es in sich. Sie betreffen einen der Bereiche, bei denen man bevölkerungsseitig am am verbreitetsten Lösungen erwartet. Deshalb sind Reformen im Asylwesen nicht nur Gesetzesänderungen; es geht in hohem Masse auch um Bewältigung von Alltagserfahrungen.

Das Anliegen

Das geltende Schweizer Asylrecht ist seit dem 1. Oktober 1999 in Kraft. Seither ist es mehrfach teilrevidiert worden. Die letzte Volksabstimmung hierzu fand 2013 statt.
Die jüngste Gesetzesrevision will die Verfahren bei der Erteilung von Asyl oder Wegweisung von Bewerbern markant beschleunigen. Lange sah es nach einem breiten parteiübergreifenden Kompromiss aus. Doch während den Schlussabstimmungen am Ende der letzten Session vor den Parlamentswahlen erklärte die SVP-Fraktion, sie ergreife wegen den vorgesehenen Gratisanwälten und der Möglichkeit zu Enteignungen für den Bau von Bundeszentren das Referendum. Dies setzte reihenweise kritische Stimmen von der politischen Konkurrenz ab, man habe die Beschleunigung gefordert, jetzt wo sie pfannenfertig sei, lehnen man sie ab. Das sei reine Problembewirtschaftung und trag nichts zur Problemlösung bei. Davon unbeirrt sammelte die Partei im Alleingang in der nötigen Zeit 58’000 Unterschriften, sodass es am 5. Juni 2016 zum Volksentscheid kommt.
Aufgrund der Positionierungen im Parlament kann man die Parolen der Parteien weitgehend abschätzen. Allgemein rechnet man damit, dass die SVP isoliert bleibt. BDP und EVP sagen ja. FDP, CVP und GLP dürften ebenso für die Revision sein. Die SP, als Partei der Justizministerin Simonetta Sommaruga, dürft sich dazu gesellen. Etwas unsicher ist der Entscheid vor allem bei der GPS. Die Jungen Grünen haben ihre Opposition beschlossen, der Fraktionspräsident wirbt dafür.

Typologie der Meinungsbildung
Für eine mehrheitlich positive Prädisponierung der anfänglichen Stimmabsichten zur Asylgesetzrevision spricht das angestrebte restriktive Regime. Bisher sind alle Bestrebungen in diese Richtung unterstützt worden. Aktuelle Befragungen zeigen, dass bis zu vier Fünftel der Stimmberechtigten für die neuen Bundeszentren sind; knappe Mehrheiten stellen sich aber gegen eine kostenlose Rechtsberatung aus.
Entscheidend wird der Abstimmungskampf sein, für den es zwei Szenarien gibt: Entweder kommt es zum Normalfall bei einer Behördenvorlage, bei dem die Unschlüssigkeit zugunsten von Zustimmungs- und Ablehnungsbereitschaft schwindet, und die Vorlage angenommen werden dürfte. Nötig hierfür ist eine gute Ja-Kampagne mit Unterstützung in den Massenmedien. Oder aber es tritt der Ausnahmefall bei einer Behördenvorlage ein, bei dem nicht nur die Ablehnungsbereitschaft steigt, sondern auch die Zustimmungstendenz sinkt. Das ist dann der Fall, wenn es zu einem eigentlich Protestvotum kommt. Die Vorlage dürfte dann scheitern.

Bisheriger Abstimmungskampf

Im aktuellen Abstimmungskampf nimmt die Asylgesetzrevision eine Leadposition ein. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil die Asylthematik gemäss allen Umfragen im Problemhaushalt der Bürgerinnen eine Spitzenposition einnimmt. Das spricht für ausgebildete Meinungen unabhängig von Kampagnen, sodass das mediale Interesse an der Sache auf Widerhall stossen dürfte.
Der Abstimmungskampf begann am 21. März 2016 mit der Medienkonferenz von Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Er könnte mehr als 70 Tage dauern – eine lange Zeit, die Umschwünge in der Meinungsbildung zulässt. Die relevanten Ereignisse könnten auch aus dem europäischen Umfeld kommen. So nehmen die SVP-Opponenten das Kippen der Stimmung zur Willkommenskultur in Deutschland direkt auf. Auf die Schweizer Stimmungslage übersetzt sehen wir vor allem die Fragen des militärischen Grenzschutzes und der Obergrenzen für Asylsuchende als virulent an, verbunden mit der Unterbringung von Flüchtlingen in den Gemeinden, denn die macht Asylfragen am ehesten direkt erlebbar.
Die SVP überraschte die Öffentlichkeit mit der Aussage, kein Geld in den Abstimmungskampf stecken zu wollen. Vielmehr erwarte man eine kontroverse Debatte in den Medien und ein persönliches Engagement in den Kantonen. Spekuliert wird, es könnte sich um eine Retourkutsche gegen die (privaten) Medien handeln, die bei der Durchsetzungsinitiative die SVP exemplarisch bestragen wollten. Auf Engagement setzt auch die Gegnerschaft. So will Economiesuisse aktiv Stellung dafür beziehen, aber kein Geld spenden. Für die Vorlage kämpfen will Operationlibero, die seit der Durchsetzungsinitiative auf einen starken Mitgliederzuwachs setzen kann.
Die Befürworter werben seit Kampagnenstart mit günstigeren und schnelleren Verfahren. Das soll raschere Entscheidung über Integration in den Arbeitsmarkt oder Wegweisung aus der Schweiz erlauben. Nebst den Gründen für das Referendum (Gratisanwälte, Enteignungen) werden auf der Gegenseite Kritiken laut, dass es keine Verbesserung der Missbrauchsbekämpfung geben würde und die Ausschaffung abgewiesener Asylsuchender nicht vereinfacht werde.

Referenzabstimmung
Die Krux beim Vergleich mit früheren Abstimmungen in verwandter Sache besteht in der andersartigen Opposition. Bei der jüngsten Revision des Asylgesetzes waren 78,4 Prozent der Stimmenden dafür, nur 21,6 Prozent folgten den Opponenten. Klar Nein sagte vor allem die äussere Linke. Die Nachanalyse im Rahmen der VOX-Untersuchung bestätigte das bekannte, politische Profil der Entscheidung. So polarisierte die Vorlage entlang der Parteibindungen. Sie spaltete entlang von Werten zur Offenheit der Schweiz und Chancengleichheit für AusländerInnen auf der einen Seite, während namentlich Ruhe und Ordnung der übergreifende Wert auf der anderen Seite war. Gegensätze mit diesem Muster finden entlang der sozialen Schicht, insbesondere der Schulbildung, eine gegensätzliche Bewertung, und sie teilten das Land entlang der Siedlungsart auf. Unterschiede waren dabei meist nur gradueller Natur, denn letztlich stimmten fast alle untersuchten Gruppen mehrheitlich für die Revision. Motivmässig war die Verbesserung des Asylverfahrens durch Beschleunigung massgeblich. Weiter spielte der Eindruck einer generellen Überfremdung eine Rolle. Schliesslich begründete ein Teil der Befürworter seine Position ausdrücklich damit, eine restriktivere Asylpolitik anzustreben. Auf der Nein-Seite waren humanitäre Motive entscheidende gepaart mit dem Wunsch, eine Verschlechterung der Asylverfahren vermeiden zu wollen.
In der Vorbefragung für die SRG starte die Revision mit knapp der Hälfte der Stimmen auf der befürwortende Seite. Im Abstimmungskampf nahm diese schnell zulasten einer anfänglichen Unschlüssigkeit zu. Die Gegnerschaft verringerte sich bis zum Schluss.
Unterstellt man für die kommende Entscheidung eine starke Opposition von rechts, dürfte das mindestens 25 Prozent mehr Ablehnung bewirken als vor 3 Jahren. Dafür könnte das linke Nein etwas schwächer sein.

Erste Bilanz
In den kommenden Wochen wird es darauf ankommen, wer im Abstimmungskampf die Deutungshoheit über die Vorlage gewinnt. Ist dies das befürwortende Lager, weil es die gewünschte Beschleunigung der Verfahren verficht, ist mit einer Annahme zu rechnen. Gelingt es der Opposition die Mängel der Vorlage selbst aus gegensätzlicher Richtung zum zentralen Thema zu machen, ist die Ablehnung wahrscheinlicher. Grösste Unbekannte sind die realen und vermittelten Entwicklungen in der europäischen Flüchtlingsfrage. Denn sie bestimmen in einem erheblichen Masse die Stimmung, in der über die Vorlage entschieden wird.
Bis erste Umfragen zur aktuellen Asylgesetzrevision vorliegen, muss man den Ausgang dieser Volksabstimmung wohl als ziemlich offen bezeichnen.

Claude Longchamp

Worüber wir am 5. Juni abstimmen (3): das bedingungslose Grundeinkommen

Mit einer gut gemachten Kampagne lancierten die Initianten des bedingungslosen Grundeinkommens eine Grundsatzdebatte über Einkommen und Arbeit. Die Mehrheit der Stimmenden am 5. Juni 2016 dürfte ihr dabei nicht folgen.

Das Anliegen
Die Initiative fordert, der Bund sorge für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, das der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben ermögliche. Das sei interessant, aber utopisch, meinte Bundesrat Alain Berset an der gestrigen Medienkonferenz des Bundesrates.
Lanciert wurde die Initiative von Einzelpersonen ohne weitere politische Unterstützung. In der nötigen Frist kamen 126’000 Unterschriften zusammen – Beweis genug, dass das Anliegen in der stimmberechtigten Bevölkerung eine minimale Unterstützung hat. Im Parlament scheiterte er deutlich; nur vereinzelte ParlametarierInnen aus dem rotgrünen Lager machten sich für das bedingungslose Grundeinkommen stark. Die Grüne Fraktion beschloss, die Stimme freizugeben.

Typologie der Meinungsbildung
Der Charakter der Vorlage spricht für ein Minderheitsanliegen. Erwartet wird, dass die Ablehnung mit dem Abstimmungskampf zunimmt, die Zustimmung sich allenfalls halten kann.
Eine Umfrage der Initianten zeigte Ende 2015, dass 24 Prozent für die Vorlage gestimmt hätten, 61 Prozent dagegen. 15 Prozent waren unschlüssig. Das heisst nicht, dass die Initiative nicht auch Hoffnungen mobilisieren kann. Gut die Hälfte der Befragten hätte sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen weiterbilden resp. mehr Zeit für die Familie nehmen wollen. Ein Fünftel würde sich gerne selbständig machen, und 2 Prozent würden ganz zu arbeiten aufhören.

Bisherige Abstimmungskampf

Den Abstimmungskampf eröffneten die Initianten auffällig. Im Bahnhof Zürich verteilten sie werbewirksam 10er Noten. Attestiert wird ihnen, namentlich via Ereignissen und Stimmungen in sozialen Medien grosses Theater für die eigene Sache zu schreiben. Mittels Guerilla-Marketing nutzen sie auch jede Möglichkeit, sich in Szene zusetzen, selbst wenn ihre Widersacher im Zentrum standen.

Plakativ gesprochen beurteilen die Initianten ihren Vorschlag als sozial, liberal, demokratisch, emanzipatorisch und vernünftig. Im Hintergrund beschreiben sie, dass mit der Industriellen Revolution 4.0 die Computer die Arbeit übernehmen und damit zahllose menschliche Tätigkeiten ersetzen werden. Das stelle die Frage nach dem Einkommen ohne Arbeit radikal neu.
Die Gegnerschaft widerspricht klar. Hauptgrund sind die schwer abschätzbaren, aber enormen Kosten der bedingungslosen Grundeinkommens. 25 Milliarden Franken oder 8 Prozent höhere Mehrwertsteuer ist die unterste Schätzung. Zudem wird angenommen, dass Menschen im Tieflohnbereich nicht mehr arbeiten würden. Unterminiert würde damit die Eigenverantwortung für sein eigenes Dasein, die Basis der Sozialversicherung bleiben müsse.
Am schwierigsten scheint die Positionierung der linken Parteien. Obwohl die Gewerkschaften strikte gegen die Initiative sind, haben sich verschiedene Kantonalsektionen der SP und der GPS für ein Ja ausgesprochen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Ablehnung von rechts flächendeckend bis mindestens in die Mitte reichen wird.

Referenzabstimmungen
Am ehesten kommt für den Vergleich mit zurückliegenden Abstimmung die Entscheidung über die Mindestlohn-Initiative in Frage. Lanciert wurde dieses Begehren von den Gewerkschaften. Verlangt wurde ein minimaler Lohn von 4000 CHF für alle, die arbeiten. In der Volksabstimmung scheiterte die Vorlage 2014 klar. Nur gerade 23,7 Prozent Ja-Stimmen vereinigte diese Initiative auf sich.
Die VOX-Analysen zeigte eine Abhängigkeit der Entscheidungen vom der beruflichen Tätigkeit, dem Haushaltseinkommen, der Parteiaffinität und den Werthaltungen. Wer mehr Staat und egalitäre Einkommen präferiert, war mehr dafür, wer den Markt und hohen Lohnunterschiede vorzieht, wandte sich klar ab. Die Vorbefragungen für die SRG liessen von Beginn weg wenig Gutes für die Initianten erwarten. Mit dem Abstimmungskampf nahm die Zustimmung jedoch ab.
Diesmal sind die Fronten anders. Die Gewerkschaften sind auf der Nein-Seite. Das Grundeinkommen wäre tiefer, aber bedingungslos, würde also auch für Nicht-Erwerbstätige gelten.

Erste Bilanz
Das bedingungslose Grundeinkommen entspricht einem Wunsch nach Selbstentfaltung jenseits der Leistungsgesellschaft. Hintergrund hierfür sind postmaterialistische Werte, typisch für reiche Gesellschaften mit hohen Erwartungen an den Einzelnen. Die aktuelle Grundbefindlichkeit sieht deutlich anders aus: Sicherung der wirtschaftlichen Stärken ist prioritär. Sie dürfte der Vorlage schliesslich in die Quere kommen.
Kurz: Bei dieser Initiative für eine bedingungsloses Grundeinkommen handelt es sich um eine Minderheitsanliegen mit einem gewissen Sympathiepotenzial, das in der Volksabstimmung klar scheitern dürfte.

Claude Longchamp

Worüber wir am 5. Juni 2016 abstimmen (2): die Pro-Service-public-Initiative

Am 5. Juni 2016 stimmt die Schweiz über die Pro-Service-Public-Initiative verschiedener Konsumentenzeitschriften ab. Auch ohne direkte Referenzabstimmung zeichnet sich das Profil der Meinungsbildung bereits jetzt ab.

Das Anliegen
Bei der Pro-Service-public-Initiative handelt es sich um ein Volksbegehren, das Journalisten der Konsumentenzeitschriften rund um den “K-Tipp” lanciert haben. Bisher sichtbarster Kopf der Initiative ist Peter Salvisberg, Marketingleiter der genannten Zeitschrift. Erste Erfahrungen in Abstimmungskämpfen sammelten er und sein Umfeld bei der BVG-Revision, wo sie massgeblich zum Volks-Nein zur Parlamentsvorlage beitrugen.
Inhaltlich will die Pro-Service-Public-Initiative, dass der Bund in der Grundversorgung nicht nach Gewinn strebt, auf die Quersubventionierung anderer Verwaltungsbereiche verzichtet und keine steuerlichen Interessen verfolgt. Zudem soll der Bund beauftragt werden, die Löhne und Honorare der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffener Unternehmen nicht über denjenigen der Bundesverwaltung anzusetzen.

Typologie der Meinungsbildung
Gemäss unserer Typologie zu Prozessen der Meinungsbildung ist die Vorlage potenziell mehrheitsfähig. In der Ausgangslage könnte die Initiative sogar von einer Mehrheit unterstützt werden, namentlich in den Sprachminderheiten und Randregionen. Ein solcher Wert darf jedoch nicht mit der finalen Stimmabgabe verwechselt werden. Vielmehr ist er ein Zeichen einer anfänglichen Grundsympathie.
Insbesondere die Forderung nach Deckelung der Löhne auf maximal Bundesratsniveau dürfte populär sein. Erwartet wird, dass mit dem Abstimmungskampf auch der Leistungs- und Serviceabbau thematisiert werden, was nicht ohne Resonanz bleiben dürfte. Namentlich die Boulevardmedien sind für solche Botschaften erfahrungsgemäss offen.
In einem Abstimmungskampf zu einer Volksinitiative ist jedoch die Schwachstellenkommunikation massgeblich. Diese stellt das generelle Anliegen nicht zwingend in Frage, konzentriert sich aber auf Tücken einer Initiative resp. der Initianten. Momentan zeichnet sich ab, dass das Gewinnverbot und die Quersubventionierung zu solchen Angriffspunkten werden dürften.
Die eigentliche Schwäche des Projekts ist jedoch seine Unabhängigkeit. Wofür es aus Konsumentensicht vorteilhafte Gründe geben mag, ist im Prozess der Meinungsbildung ein Nachteil. Denn die Initianten erscheinen politisch isoliert, und es gelang ihnen nicht, im Parlament Verbündete zu finden. Die Niederlage in den Schlussabstimmungen beider Kammern mit null Stimmen war exemplarisch.

Der bisherige Abstimmungskampf
Der bisherige Abstimmungskampf zeigte, dass sich die Debatte nicht nur auf den Inhalt beschränkt. Vielmehr findet eine Metadiskussion zum Service public statt. Von rechter Seite wird argumentiert, dass die Grundversorgung mehr als gewährleistet sei und staatliche Dienstleistungen privatisiert werden können, während die Linke Sparprogramme im öffentlichen Dienst kritisiert.
Mit Bundesrätin Doris Leuthard hat die Gegnerschaft eine der geeignetsten und erfolgreichsten Kommunikatorinnen auf ihrer Seite. An der Front sind zudem nicht die eigentlichen Service-public-Betriebe sichtbar, vielmehr hat die Arbeitsgemeinschaft für das Berggebiet den Lead übernommen.
Die wichtigste Unsicherheit für die Gegner besteht darin, dass bei Abstimmungen über staatsnahe Betriebe deren Rolle im Abstimmungskampf, insbesondere wenn es um Geldzahlungen oder Propaganda-Aktivitäten geht, bisweilen schnell zum Thema wird.
Nach unserer Einschätzung ist der sich abzeichnende Konflikt zu schwach, um eine über mehrere Wochen angelegte Debatte auszulösen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die Initiative resp. die Initianten mit ihrem Anliegen trotz augenscheinlicher Mitte-Positionierung zwischen Stuhl und Tisch fallen.

Keine wirkliche Referenzabstimmung

Eine unmittelbare Referenzabstimmung zur Pro-Service-public-Initiative gibt es nicht. Thematisch am nächsten kommt ihr die Initiative “Postdienste für alle”, über die am 26.9.2004 abgestimmt wurde. Das Volksmehr war mit 49,8% Ja denkbar knapp. Zudem votierten 9,5 Stände dafür. Die Beteiligung war mit fast 54 Prozent überdurchschnittlich hoch.
Die anschliessende Vox-Analyse zeigte, dass die Entscheidungen von der Parteiaffinität (links dafür, rechts dagegen, Mitte und Ungebundene gespalten) und Werthaltungen (Privatisierung von Staatsbetrieben dagegen resp. keine Einkommensunterschiede dafür) beeinflusst waren. Gebrochen wurden solche Grundhaltungen namentlich durch die Sprachregionen (französisch- resp. italienischsprachige Schweiz dafür, ebenso vereinzelte Bergkanton und linke Städte).
Die Betroffenheit der Bevölkerung war mittelgross; die Bedeutung der Initiative für das Land wurde sogar leicht unterdurchschnittlich eingeschätzt. Wer selber betroffen war, machte sich die Entscheidung jedoch nicht leicht. Vergleichsweise viele entscheiden sich erst während des Abstimmungskampfes.
Relevante Motive waren auf der Ja-Seite die Benachteiligung von Randgebieten und bestimmten Gruppen durch den Abbau von Postdiensten. Dem wollte man mit einem Ja Einhalt gebieten, allenfalls auch ein Zeichen gegen die Liberalisierung an sich setzen. Die Gegner sahen die Grundversorgung als genügend gesichert, wünschten sich vielmehr eine Anpassung der Post an die allgemeinen Wirtschaftsentwicklungen resp. an die beginnende Digitalisierung des Postverkehrs.
Hart gegen einen direkten Vergleich der damaligen Befunde mit heutigen Erwartungen spricht, dass die Gewerkschaften (mit Ausstrahlung auf die linken Parteien) damals dafür waren. Diese werden diesmal nicht in gleichem Masse dafür sein, denn die Gewerkschaften lehnen die Initiative teils mit rivalisierender Haltung zu den Initianten ab. Diese etwas paradoxe Situation ist ohne Begründungen im Abstimmungskampf nicht selbstredend meinungsbildend. Mit entsprechenden Erklärungen dürfte die Zustimmung in der linken Wählerschaft diesmal einiges geringer ausfallen.

Erste Bilanz
Letztlich spricht alles dafür, dass es zu einem Normalfall in der Meinungsbildung bei einer Initiative kommt. Dabei nimmt das Nein im Abstimmungskampf sicher zu, derweil das Ja abnimmt.
Auch ohne Kenntnis der Ausgangslage ist bei einem solchen Szenario mit einer finalen Ablehnung der Vorlage zu rechnen.

Claude Longchamp

Worüber wir am 5. Juni 2016 abstimmen (1): das neue Fortpflanzungsmedizingesetz

Hier beginnt kleine Serie politologischer Voranalysen zu den kommenden Volksabstimmungen. Heute ist das neue Fortpflanzungsmedizingesetz.

Das neue Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) steht nicht im Vordergrund der Volksabstimmungen vom 5. Juni 2016. Aus Sicht der Meinungsbildung ist der Fall jedoch interessant, denn bereits am 14. Juni 2015 wurde über den zugrunde liegenden Verfassungsartikel entschieden. 62 Prozent der Stimmenden befürworteten ihn, 38 Prozent lehnten ihn ab. Ein Teil der unterlegenen Minderheit ergriff gegen das Gesetz zur Umsetzung der Verfassungsnorm das Referendum und lieferte rechtzeitig rund 61000 Signaturen ab. Die politologisch relevanten Fragen lautet nun:
. Wiederholt sich das Ergebnis in der zweiten Abstimmung?
. Haben die Stimmberechtigten genug von wiederkehrenden Vorlagen?
. Oder zeigen sie sich kritischer, wenn es um konkrete Sachen geht.

Das Profil der Opponenten

Die VOX-Analyse machte mittels einer Repräsentativbefragung nach der Abstimmung klar, wer die Opponenten gegen die Verfassungsnorm waren: Personen aus Familien mit grosser Kinderzahl, solche mit einer überdurchschnittlichen Kirchgangshäufigkeit und TrägerInnen traditioneller Werte waren unter ihnen überdurchschnittlich vertreten. Wählende aus konservativen Parteien, namentlich der SVP, kamen ebenso vermehrt vor. In der Regel waren dies auch Personen mit Misstrauen in die Behördenarbeit. Regional gesprochen war das Nein ein Phänomen namentlich der deutschsprachigen Schweiz, vor allem im Alpen- und Voralpengebiet, aber auch in der Ostschweiz mit katholischer Bevölkerungsstruktur war es häufiger als das Ja.
Analysen am Abstimmungstag mit Kantons-, Bezirks- und Gemeindeergebnisse zeigten, dass das Raummuster an Zustimmung und Ablehnung am klarsten jenem der Verfassungsabstimmung über Forschung am Menschen glich. Es war auch jenem der Stammzellenforschung verwandt, und brauchbare Bezüge gab es zum Epidemiengesetz. Daraus lässt sich als These für die kommende Abstimmung ableiten: Bei der Entscheidung zum Fortpflanzungsmedizingesetz handelt es sich um eine Abstimmung, die fortschritts- und wissenschaftskritische Positionen im Bereich der Fortpflanzung, der Gentechnik und des Impfens von Mensch und Tier anspricht.
Im aktuellen Umfeld agiert mit der EVP eine gesellschaftskonservative Kraft an vorderster Front. Unterstützung erhielt sie aus gentechnik-kritischen Kreisen und Interessenvertretern der Behinderten, die aus eigenen Beweggründen Unterschriften sammelten. Im Parlament war die Front etwas breiter, wenn auch minderheitlich.

Die wichtigen Entscheidungsgründe

Gemäss VOX-Analyse dominierten ethische Motive bei der Entscheidung der Gegnerschaft. Dazu zählen Kritiken am Eingriff der Technik in die Natur oder Qualitätskontrollen beim Menschen. Hinzu kamen Bedenken gegenüber künftigen Entwicklungen, die nicht einmal geplant sein müssen. Ihre Widersacher waren für die Verfassungsänderung, weil die Präimplantationsdiagnostik (PID) im Ausland Tatsache sei und Vorteile zum Wohle der Eltern und des Kindes habe. Hinzu kam eine generelle Forschungsfreundlichkeit.
Populärstes Einzelargument in der Kampagne vor der Volksabstimmung war, es mache mehr Sinn, eine Eizelle auf schwerwiegende Krankheiten zu untersuchen bevor man sie einsetze, als danach eine Abtreibung vornehmen zu müssen. Drei Viertel der Stimmenden teilten diese Auffassung. Scharf polarisierten dagegen die Ansichten, ob man die PID zulassen solle, sodass Paare nicht ins Ausland reisen müssten respektive der Vorwurf, Menschen mit Behinderungen würden der PID wegen als lebensunwerte betrachtet. Ersteres erwies sich schliesslich als mehrheitsfähig, letzteres nicht – ganz entsprechend dem Endresultat.
Die VOX-Analyse nannte die Entscheidung relevant für die Verfassung einer Gesellschaft. Eine bemerkenswerten Minderheit stufte sie als schwierig ein. Auch die Voruntersuchungen unseres Instituts für die SRG-Medien betonten die Ambivalenz in der Entscheidungsfindung der BürgerInnen. Selbst wenn man am Schluss Ja sagte, sei man zu Beginn zögerlich gewesen. Die spezifische Meinungsbildung zur Verfassungsnorm habe sich nicht spontan eingestellt. Vielmehr entstand sie erst unter Eindruck der Pro- und Kontra-Kampagnen. Dabei zeigte sich, dass Menschen, die sich mehr mit dem Thema beschäftigten und besser informiert waren, weniger Bedenken hatten, derweil diese bis zum Schluss bestehen blieben, wenn die Involvierung ins Kampagnengeschehen und der Informationsstand bei einer Person gering blieben.
Typisch hierfür war die Bilanz des Forschungsinstituts für Oeffentlichkeit und Gesellschaft (foeg), die einer Medieninhaltsanalyse basierte. Demnach war die Berichterstattung im Abstimmungskampf eher flau, aber von einem mehrheitlichen Wohlwollen geprägt. Sie informierte in erster Linie, und sie legte die Basis für die Entscheidung Unschlüssiger Richtung Ja.
Aus der Sicht der Meinungsbildung handelt es sich um eine nicht wirklich vorbestimmte Entscheidung mit einem klaren Meinungsaufbau dank dem Abstimmungskampf. Oder anders gesagt: Abstimmungen wie die zur Präimplantationsdiagnostik brauchen eine Informationskampagne, denn sie sind für die Mehrheit alltagsfern. Sie werden angenommen, wenn diese den individuellen Nutzen zeigt und die Limitierung neuer Möglichkeiten der wissenschaftlichen Techniken klar macht.

Eine vorläufige Zwischenbilanz
Mit Blick auf die kommende Abstimmung gehen wir als Annahme von einer mehrheitlichen Zustimmung mit einem verwandten Profil und einer vergleichbaren Begründung aus. Offene Punkte sind, ob es mehr oder weniger Zustimmung im Vergleich zur Präimplantations-Abstimmung geben wird. Für Ersteres würde der geringe Abstand zwischen den beiden Abstimmungen sprechen. Relevante Kontroversen in der Öffentlichkeit zum Thema haben seit Juni 2015 nicht stattgefunden. Das könnte zur Auffassung führen, dass man den Sinn einer erneuten Abstimmung zum Thema nicht versteht und aus Trotz diesmal Ja stimmt. Ein neues Motiv wäre die Zwängerei, die sich aus der erneuten Entscheidungsnotwenigkeit ergäbe.
Denkbar ist aber auch das Gegenteil. Dieses geht davon aus, dass Grundsatzentscheidungen weniger kontrovers sind, derweil sich die Debatte bei Gesetzesvorlagen erfahrungsgemäss gerade an konkreten Sachfragen entzündet und angesichts der vorhandenen Ambivalenz auch zu mehr Opposition führen kann. Dafür spricht, dass in der parlamentarischen Behandlung vielfach betont wurde, generell sei man für das neue Verfahren, im speziellen unterstütze man aber nicht jede Forderung, die Eingang in die Gesetzesvorlage gefunden habe. Diese stimmen kamen von Exponentinnen verschiedenster Richtung, was die kommende Meinungsbildung beeinflussen kann.
Dennoch, auch politkulturelle Analysen der Schweizer Wertelandschaft im internationalen Vergleich legen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Zustimmung nahe. In den systematischen Befragungen des World Value Survey erscheint die Schweiz nämlich recht stabil als Land mit einer vorherrschend säkular-rationalen politischen Kultur, die sich klar von traditionell-religiösen Kulturen unterscheidet. Wissenschaftsaffine Vorlagen mit Nutzen im Alltag werden ohne gravierenden Mangel mehrheitlich unterstützt.

Claude Longchamp