Stabilität im Ständerat nach Variabilität im Nationalrat

Korrigieren die Ständeratswahlen den Eindruck aus den Nationalratswahlen? Eine Uebersicht zu den anstehenden zweiten Wahlgängen und eine neuartige Bewertung der möglichen Ausgänge jenseits von Persönlichkeitsmerkmalen.

27 der 46 Sitze im kommenden Ständerat sind seit der ersten Wahlrunde bekannt. In der Zwischenbilanz führt die FDP mit 8 Sitzen vor der CVP mit 7, der SP mit 6 und der SVP mit 5 Mandaten. Zudem ging ein Sitz an den parteilosen Thomas Minder.
Bisher zugelegt hat die FDP mit 2 Gewinnen, während die SP ein Mandat gewann. Verloren haben bis jetzt die CVP und GLP. Beide Parteien haben je ein Mandat weniger.
19 Sitze werden in den zweiten Wahlgängen vergeben, die im November 2015 stattfinden werden. Noch ist nicht in jedem Kanton klar, wer antritt und wie die Allianzen aussehen werden. Erfahrungsgemäss ist das für den Ausgang einer Ständeratswahl jenseits der Persönlichkeit vorentscheidend.
Dennoch kann man die Ausgangslagen bewerten und so einen Eindruck gewinnen, was alles noch geschehen könnte.

Eine Uebersicht über die offenen Wahlgänge in den kommenden Wochen zeigt die Ausgangslagen im Detail.

Tabelle: Uebersicht über die 2. Wahlgänge bei den Ständeratswahlen 2015
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Bisher analysierte man Ständeratswahlen stark nach Persönlichkeitsmerkmalen. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass das in Einerwahlkreisen so ist, in grösseren Kantonen aber andere Kräfte auf den Wahlausgang wirken.

Die bewährtesten Prognoseregeln lauten: Im zweiten Wahlgang werden Bisherige und neue KandidatInnen aus Parteien, die den Sitz bisher innehatten, bevorzugt. Das zeigt sich am deutlichsten daran, dass sie im ersten Wahlgang an der Spitze der Nicht-Gewählten liegen.
Am ehesten gefährdet sind solche Bewerbungen allerdings dann, wenn sich starke HerausforderInnen zeigen, die das politische Zentrum für sich zu gewinnen können.

Bewertet man so die 19 offenen Sitze, kommt man zu folgenden Schlüssen, die wir auch der Tagesschau von SRF präsentiert haben:

Erstens: Quasi sicher gewählt sind die beiden Bisherigen im Kanton Bern. Der einzig verbliebene Herausforderer ist ein politischer Aussenseiter ohne Wahlchancen.
Zweitens: Gute Wahlaussichten haben die Favoriten in den Kantonen Freiburg, Luzern und Tessin denn sie sind die Bisherigen, vertreten die bisherigen Farben und die Herausforderungen kommen nicht aus dem Zentrum. Etwas weniger sicher sind die Ausgänge in Genf und der Waadt, denn hier fordert die jeweils die FDP die doppelte, linke Standesvertretung heraus. Etwas gefährdet sind die beiden grünen Kandidaturen. Hinzu kommt das Kanton Wallis mit seiner CVP-Doppelvertretung, die von der FDP in Frage gestellt wird.
Drittens: Recht offen sind die Wahlausgänge in den fünf Kantonen mit Einervakanzen:
. In Solothurn und St. Gallen sind die SP-Ständeräte als Bisherige favorisiert; sie werden von SVP-Bewerbungen herausgefordert. Hier entscheidet die Mitte. (Eine analoge Situation entstände im Kanton Freiburg dann, wenn die SVP eine bekannte Person für den zweiten Wahlgang nominieren sollte.)
. In Zürich ist FDP-Noser als Nachfolger von FDP-Gutzwiller Favorit. Er wird aber von SVP-Vogt aufgrund dessen Hausmacht bedrängt, allenfalls auch von Girod, wenn dieser geschlossen von SP und GLP unterstützt wird und sich die bürgerlichen Stimmen aufteilen.
. Im Aargau ist SVP-Knecht wegen der SVP-Parteistärke an sich im Vorteil. Müller hat zudem das Handicap, dass er den Wahlkampf unterbrechen musste. Immerhin ist er der Vertreter der bisherigen Partei, verbunden mit seiner persönlichen Bekanntheit und Wahlkampferfahrung. Das lässt ihn doch als Favoriten erscheinen. Die Ausgangslage ist allerdings komplex, denn auch die CVP tritt mit Ruth Humbel nochmals an.
. Schliesslich Obwalden: Hier liegt nach der ersten Runde CVP-Ettlin vor FDP-Windlin. Letzter kann aber auf Stimmen seitens der SVP zählen, denn zwei Vertreter im Bundesbern aus den CVP-Reihen erscheint manchem zu viel.

Blickt man auf die Sitzstärke der Parteien, ergibt sich folgendes:
. Die FDP kann zu den acht sicheren Sitzen 1 bis 7 hinzu gewinnen, was 9-16 Mandate gäbe.
. Die CVP kann zu den bestehenden 7 Sitzen 4 bis 6 hinzu gewinnen, was für 11 bis 13 Ständeratssitze reichen dürfte.
. Bei der SP sind 3 bis 6 weitere Sitze möglich, was dann 9 bis 12 Mandate wären.
. Bei der SVP können 0 bis 5 weitere Kantonsvertreter hinzukommen. Es sind aber durchwegs nicht Favoriten. Das spricht eher für 5, im besten Fall für 9 Sitze im neuen Ständerat.
. Schliesslich die GPS: Maximal sichert sie sich im 2. Wahlgang 3 Sitze, im schlechtesten Fall keinen. Wahrscheinlich sind 2.

Beeinflusst werden kann die Einschätzung, falls neue Kandidatinnen auftauchen, oder deals zwischen den Parteien stattfinden, die hier nicht berücksichtig sind.

Oder anders gesagt: Im besten Fall gewinnt die FDP im Vergleich zu 2011 bis fünf Mandate hinzu und wäre Wahlsiegerin. Das gilt abgeschwächt auch für die SVP. Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ist aber geringer.
Kleine Gewinnchancen haben SP, GPS und Lega, derweil sich die CVP maximal halten kann.
Verlustrisiken gibt für die GPS, die CVP und die SP. Sicher sind sie für die GLP, allenfalls treffen sie auch die GPS. Minimal vorhanden sind sie bei CVP und SP.

Die Veränderungsmöglichkeiten im Ständerat sind insgesamt eher gering. Bei den Wahlen 2015 gilt wohl: Die Nationalratswahlen zeigten die Variabilität der Schweizer Polititik, die Ständeratswahlen dürften eher für Stabilität stehen.

Claude Longchamp

Stand: 23.10.2015

SVP löst CVP in den Unterschichten ab

Seit 1995 führt unser Institut Wahlanalysen vor und nach Wahlen durch. Grund genug, nach 20 Jahren eine Bilanz zu ziehen, was sich verändert hat.

1995 kam die SVP auf einen Wählendenanteil von 14.9 Prozent. 2007 lag sie mit 28.9 Prozent auf dem bisher höchsten Wert. Im aktuellen Wahlbarometer liegt sie bei 27.9 Prozent. Das ist ein satter Gewinn von 13 Prozentpunkten.
Das macht der SVP keine andere Partei nach, die GPS hat im besagten Zeitraum ein Plus von 2 Prozentpunkten, die CVP ein Minus von 5, die FDP von 4 und die SP von 3 Prozentpunkten.

Untersucht man die Veränderungen nach Merkmalsgruppen, bei denen die Parteistärken mehr variieren, stösst man unweigerlich auf die Schicht und da insbesondere auf die Schulbildung. Ganz generell gilt: Je höher die Schicht ist, desto stabiler blieben die Wählendenanteile respektive je tiefer sie ist, umso eher veränderten sie sich. Nutzniesserin war überwiegend die SVP, verloren hat aber vor allem die CVP.

Betrachtet man die SchulabgängerInnen, die als letztes die obligatorische Schule besucht haben, legte die SVP in diesem Wählerumfeld um satte 28 Prozentpunkte zu. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Durchschnitt. Grosse Verliererin ist aber nicht die SP, wie man häufig annimmt, sondern die CVP. Ihr Anteil in dieser Gruppe reduzierte sich von 30 auf 9 Prozent, was einer Differenz von 21 Prozentpunkten entspricht.

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Die zweitgrössten Unterschiede finden sich übrigens bei der Konfession. Auch bei den Katholiken gewinnt die SVP vor allem zulasten der CVP. 2015 könnten die ersten Wahlen sein, bei denen die SVP selbst unter den römisch-katholischen Wahlberechtigten die stärkste Partei ist.

Die Wahlforschung interpretiert solche Phänomene als typische Umbrüche angesichts neuer Konfliktlinien. Grob gesagt handelt es sich um den Globalisierungskonflikt. Bei dem geht es hauptsächlich darum, wer sich im Verhältnis zwischen einheimischer und zugewanderten Bevölkerungsteilen wie positioniert. Die SVP setzt da am klarsten auf die Privilegierung der SchweizerInnen. Damit hat sie gerade bei tieferen Bildungsschichten den grössten Erfolg.
Getroffen hat es in der Schweiz die CVP, weil sie am ehesten noch ein traditionell-konservatives Potenzial hatte. Dieses hat sie zusehends verloren. Abgebaute konfessionelle Grenzen zwischen Katholiken und Reformierten waren hier die Voraussetzung.
Die Öffnung der Schweiz nach aussen beschleunigte die Entfremdung seit dem europäischen Binnenmarktprogramm. Die andauernden Kontroversen rund um Migrationsfragen taten das ihre. Aus der christlich-konservativen Wählerschaft wurde in den vergangenen 20 Jahren eine nationalkonservative.