Sind Schweizer Wahlen integer?

Ein Jahr lang werde ich mit Berner und Zürcher StudentInnen im Master Politikwissenschaft zur Frage forschen und kommunizieren, ob Schweizer Wahlen integer sind.

Normalerweise verwendet man Integrität im Zusammenhang mit Personen und Organisationen. Gemeint ist, dass ihre Ethik stimmt. Ansprüche, in Idealen und Werten selbstformuliert, werden eingehalten.
Seit wenigen Jahren wird der Begriff in der Politikwissenschaft, insbesondere der Institutionenlehre, vermehrt verwendet. Allen voran fragt sich die führende Politikwissenschafterin Pia Norris in all ihren neuen Publikationen, ob auch Wahlen integer seien? Gemeint ist hier, ob sie sich am wachsenden Setting international formulierter Ansprüche an demokratische Wahlen halten? Die generelle Hypothese lautet dabei: Je weniger sie sich daran orientieren, umso grösser ist das Risiko des Misslingens von Wahlen.

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Quelle: Norris (2014)

Eine Uebersicht hierzu gibt die nebenstehende Grafik. Sie enthält die eher klassischen Erwartungen an Wahlen, die auf einem universellen, geheimen und gleichen Wahlrecht basieren, wonach Wahlen regelmässig abgehalten werden müssen und sie vor Korruption zu schützen sind. Miteinbezogen sind aber auch 13 weitere Anforderungen wie die Freiheit vor Diskriminierung, die Sicherheit der Akteure, die Möglichkeit der sozial gleichen Partizipation im öffentlichen Raum und der der Zugang zu Informationen. Teilweise sind sie jüngeren Datums oder noch wenig standardisiert.
In einem global angelegten Forschungsprojekt, koordiniert von der Universität Sydney, werden gegenwärtig alle Wahlen der Welt aufgrund eines einheitlichen Expertenfragebogens bewertet. 2015 werden auch die Schweizer Wahlen beurteilt werden.

Im Herbstsemester 2015 führe ich am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern ein erstes Forschungsseminar zur Integrität Schweizer Wahlen durch. Im Frühlingssemester 2016 wird ein weiteres an der Universität Zürich folgen, das sich speziell der datenjournalistischen Umsetzung von Forschungsergebnissen in diesem Beriech widmen wird.
Die bisherigen Erfahrungen in den rund 100 untersuchten Ländern zeigen, dass die Integrität von Wahlen mit dem Grad Einkommen pro Kopf grundsätzlich steigt, aber einen Sättigungswert kennt. Die Integrität von Wahlen nimmt nicht mehr gesichert zu, wenn ein Land nicht nur reich ist, sondern noch reicher wird. Das kann eine Folge steigender Erwartungen an den Wahlprozess sein, aber auch des Zerfalls der demokratischen Kultur. Positives Vorbild ist gegenwärtig Norwegen, das in dieser Hinsicht kaum Probleme kennt, während die USA das negative Beispiel mit vielen Schwierigkeit ist. Die Schweizer Wahlen dürften irgendwo dazwischen rangieren. Sicher ist jetzt schon, misslingen werden Schweizer Wahlen nicht so schnell, ihre Legitimation kann aber leiden.

Genau das lässt es sinnvoll erscheinen, wie auf der ganzen Welt auch hierzulande kritische Fragen genauer zu stellen. Vorgespräche, die ich mit verschiedenen Akteuren und Experten hierzu geführt habe, zeigen wiederholt folgende, kontroverse Diskussionspunkte:
. Benachteiligt das Wahlrecht kleine Parteien, vor allem ausserhalb der Regierung?
. Welche Rolle kommt dabei Wahlkreisbildung nach Kantonen bei der Gewährleistung fairer Wahlen zu?
. Gewährleisten die Massenmedien eine ausgewogene Berücksichtigung der verschiedenen Parteien und KandidatInnen, insbesondere im Vergleich von Regierungs- und Nicht-Regierungsparteien?
. Kommt Wahlbetrug vor, und wird dieser dank neuen Medien aufgedeckt und verhindert?
. Haben Parteien und KandidatInnen gleichen Zugang zu öffentlichen Vergünstigungen bei Wahlen?
. Können reiche Leute Wahlen kaufen?
. Ist das Wählen einfach genug, um niemanden auszuschliessen?
. Kann e-Voting die Wahlbeteiligung sinnvoll gewährleisten und verbessern?

Im Herbstsemester werde ich solche Fragen gemeinsam mit Masterstudierenden in Bern diskutieren, werden die Teilnehmenden Recherchen anstellen und Forschungsprojekte erarbeiten. Diese sollen bis Ende Januar 2016 vorliegen und in eine erste Uebersicht münden, die an einem Workshop diskutiert werden soll. Auf dieser Basis wir ein neues Team von Züricher Master-StudentInnen über die mediale Umsetzung der ersten Ergebnisse brüten und sie gezielt der Oeffentlichkeit vorstellen.
Start ist am kommenden Freitag morgen!

Claude Longchamp

Combining als neues Verfahren für Wahlgewinne oder -verluste

Wie gross ist der Wählenden-Anteil der Parteien bei der kommenden Wahl? Wer kann mit Gewinnen rechnen, wer muss von Verlusten ausgehen? Ein neues Verfahren verspricht Präzisierungen der bisherigen Bilanzen und Prognosen.

Auf der Suche nach Antworten auf die Frage nach den Parteistärken kann man sich mit der Lektüre von Zeitungen begnügen. Man kann sich auch an eine(n) ExpertIn wenden. Beides bleibt jedoch schwach evidenzbasiert und subjektiv.

Neue Wege der Wahlforschung

Die Wahlforschung begeht seit 10 Jahren neue Wege. Combining heisst eine der neuen Methoden. Auf gut Deutsch: Kombination.
Kerngedanke des Vorgehens, das Scott Armstrong entwickelt und PollyVote popularisiert hat, ist: Jedes Verfahren hat einige Stärken und Schwächen. Wenn man nicht weiss, welches Verfahren auf Dauer am sichersten ist, verbindet man am besten die verschiedenen Vorgehensweisen. Deshalb ist die unvoreingenommene Kombination die neutralste.
In der Schweiz stehen vier denkbare Instrumente zur Verfügung: repräsentative Wahlbefragungen wie das Wahlbarometer, Mitmach-Umfragen, wie die 20 Minuten Erhebungen, Wählbörsen, wie sie der Tagesanzeiger publiziert, und Extrapolationen kantonaler Wahlen, wie man sie vom ZdA und dem Institut für Politikwissenschaft an der Uni Zürich kennt.
Wahlbörsen wären am ehesten Prognosen, aber wenig stabil. Umfragen lassen ausgefeilte Analysen zu, haben aber einen Unsicherheitsbereich. Und kantonale Wahlergebnisse liegen in aller Breite vor, sind am nationalen Wahltag aber veraltet.

Ergebnis der ersten Anwendung in der Schweiz

Gemäss Combining sind Gewinne der FDP.Die Liberalen resp. der SVP am wahrscheinlichsten. Möglich sind Gewinne auch bei der SP. Verlieren dürfte dagegen die GPS. Rückgänge sind auch bei CVP und BDP möglich. Generell gilt: Grössere Parteien können zulegen, kleinere werden geschwächt.

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Tabelle anklicken, um sie zu vergrössern
Erläuterungen
Wbaro=SRG-Wahlbarometer, Repräsentativ-Befragung CATI, gfs.bern
20 min Umfrage= Mitmachumfrage online, sotomo
Wbörse: Wahlbörse, Wettplattform Tagesanzeiger (nur für Teilnehmer zugänglich)
Kantonale Wahlen: ZdA/Daniel Bochsler
Kantonale Wahlen: IPW/Pirmin Bundi

Bei allen sechs Parteien stimmen kantonale und nationale Trends überein. Moderiert wird durch die Kombination einzig das Ausmass an erwarteter Veränderung je Instrument. Zum Beispiel die FDP, die in den nationalen Instrumenten besser abschneidet als in den kantonalen. Das gilt nicht für die GLP, denn da zeigen die Trends diametral Unterschiedliches an. In der Kombination resultiert denn auch ein Halten.
Generell gilt: Grössere Parteien können zulegen, kleinere werden geschwächt.
Die für die Schweiz neue Methode hat auch den Vorteil, Ausreisser der verschiedenen Instrumente sichtbar zu machen: Bei der “20 Minuten”-Umfrage ist es der tiefe Werte für die SP, bei der Wahlbörse der hohe für die BDP. Kein wirklicher Ausreisser ergibt sich beim Wahlbarometer, obwohl er nur mit 17%-Anteil in die finale Hochrechnung einfliesst.

Was es in der Schweiz noch bräuchte
Die bisherigen Erfahrungen mit der Methode in den USA und Deutschland sind bei Wahlen überwiegend positiv.
Gut wäre es in der Schweiz, wenn auch ökonometrische Modellrechnungen und systematische ExpertInnen-Befragung miteinbezogen werden könnten. Das würde die Zahl der Instrumente erhöhen und die Wahrscheinlichkeit von Präzisierungen vergrössern. Zudem gibt es erheblich weniger Umfragen und Wahlbörsen als in anderen Ländern. Entsprechend haben wir hier nicht einen Teilindex je Methode gewählt, sondern je einen für die nationale und die kantonale Ebene.
Dennoch, die Schweizer Wahlforschung kann sich sehen lassen. Die mittlere Abweichung kurz vor Wahlen beträgt bei Umfragen gut 1 Prozent. Alles unter 1 Prozent gilt als Spitzenwert. Das heisst nicht, dass man nicht mehr tun soll. Unsere Erwartungen sind: Bei einer normalen Wahl verringerte sich die durchschnittliche Abweichungen. Nur bei einer ausserordentlichen Wahl mit starken Ereignissen in der Schlussphase des Wahlkampfs sind die kurzfristigen Instrumente geeigneter.
Die Situation in der Schweiz hat bis jetzt einen Nachteil. Es gibt zu wenig Instrumente, und es gibt je Instrument zu wenig Messungen. Die Kombination ist damit besser als die Einzelinstrumente. Mehr Material für Kombinationen wäre jedoch noch besser.

Claude Longchamp

PS:
Heute ist die neueste 20min-Umfragen erschienen, und die Wahlbörse wurde aufdatiert. Das neueste combining sieht wie folgt aus:
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Die wesentlichste Veränderung betrifft die GLP, jetzt leicht Plus. Das SP-Ergebnis der 20min-Umfrage bleibt der markanteste Ausreisser.

Gemässigter oder polarisierter Pluralismus? Die Schweiz am Scheideweg

Bis jetzt sind mir drei Szenarien zum Ausgang der Nationalratswahlen begegnet:

  • die Fortsetzung des Trends von 2011 mit einer gestärkten Mitte;
  • die erneute Polarisierung mit Siegern rechts und links und
  • ein allgemeiner Rechtsrutsch.

Angesichts der neuesten Ergebnisse aus dem Wahlbarometer halte ich ersteres für das unwahrscheinlichste. Es müssten BDP und GLP gewinnen und alle grösseren Parteien, vor allem an den Polen, müssten verlieren. Zweiteres ist denkbar. Vieles hängt gemäss Wahlbarometer davon ab, wie die linke Wählerschaft ihre Präferenzen zwischen SP und GPS resp. ihren KandidatInnen verteilt. Je nachdem stagnieren beide oder eine kann zulegen. Das dritte Szenario steht heute im Vordergrund. Auf dem Stand Ende August werden Gewinne für die FDP.Die Liberalen und SVP im Bereich von 1,5 bis 2 Prozentpunkten möglich, begleitet von Verlusten bei BDP, CVP, GPS und GLP von jeweils rund 1 Prozentpunkt.

Das Wahlbarometer zeigt zudem, dass die Polarisierung der Wählerschaft wohl noch einmal zunehmen wird. Der Trend ist sei 1995 fast ungebrochen. Die Distanz des mittleren SVP-Wählers zu demjenigen der SP oder GPS ist angewachsen. Diese Distanz ist grösser denn je, wenn man SVP und GPS miteinander vergleicht.

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Die Politikwissenschaft nimmt solche Spaltungen seit längerem zum Anlass, um über die Möglichkeiten der Regierungsbildung resp. die Stabilität von Regierungen nachzudenken. Typologisch unterschieden wird dabei zwischen einem gemässigten Pluralismus und einem polarisierten. Pluralistisch werden grundsätzlich alle Mehrparteiensysteme genannt. Gemässigt sind sie, wenn die weltanschaulichen Differenzen der Parteiwählerschaften eher gering sind, derweil man den Pluralismus als polarisiert betrachtet, wenn drei Bedingungen erfüllt sind:

Erstens, die relevanten Parteien sind sich in Kernfragen der Politik nicht einig, und sie finden auch keine Einigkeit in Verhandlungen.
Zweitens, unter den relevanten Parteien gibt es eine Fundamentalopposition, minimal in der Kommunikation, maximal auch in der Programmatik.
Drittens, die Fundamentalopposition ist in der Lage, die Regierungsbildung mit einer regierungsfähigen Mitte zu sabotieren und so ein neues Regierungssystem zu erzwingen.

Ohne Zweifel, der erste Punkt ist gegeben. Gerade in der Migrationsfrage liegen die Positionen seit der Masseneinwanderungsinitiative weit und unversöhnlich auseinander. Das gilt nicht nur bezogen auf die linken Parteien in ihrem Verhältnis zur SVP; es trifft auch im Vergleich der CVP mit der FDP.Die Liberalen weitgehend zu. Ob der zweite Punkt einer Fundamentalopposition gegeben ist, bleibt selbst unter ExpertInnen umstritten. Einig ist man sich, dass die SVP mit ihrer Art politische Kommunikation zu betreiben, neue Wege gegangen ist und die vorherrschende politische Kultur der Mässigung verlassen und dabei verschiedene Nachahmerinnen gefunden hat.

Nicht gegeben erscheint mir der dritte Punkt. Die SVP hat nach dem Debakel bei der Volkswahl des Bundesrats von Systemänderungen Abschied genommen. Sie bekennt sich zur Parlamentswahl und sie steht zur Konkordanz, mindestens in der numerischen Form. Auch in den Kantonen gibt es nur eine Tendenz: So schnell wie möglich in die Regierung, und, wo man schon drin ist, wo immer möglich sich auszubreiten. Auch bei der anstehenden Bundesratswahl gilt die Losung: Lieber 2 als 1, keinesfalls 0 statt einem Bundesrat.

Unsere Übersicht über die Eckwerte im Vergleich zu 2011 legt nahe: Mitte/Links könnte ihre kleine Mehrheit in der Wählerstärke 2015 verlieren. Doch auch SVP und FDP.Die Liberalen werden nach der Parlamentswahl keine Mehrheit hinter sich wissen. Mehrheitsfähig bleibt aber der bürgerliche Schulterschluss von SVP bis CVP, allenfalls wird es auch eine Allianz aus SVP, FDP.Die Liberalen und GLP.

Das lässt verschiedene Schlüsse zu, denn Eveline Widmer Schlumpf wird eine erneute Kandidatur für den Bundesrat von einer Wahrscheinlichkeit einer Mehrheit abhängig machen. Besteht diese nicht mehr, dürfte sie sich selber aus dem Rennen nehmen. Hierfür gibt es drei Szenarien:

Szenario 1: Von linker Seite wird der CVP ein zweiter Bundesratssitz offeriert, als Übergang zu einem System mit einem rotierenden Sitz. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die CVP unter der Bundeskuppel sitzmässig hält oder verbessert. Eine Untervariante hiervon sieht die GLP in der Nachfolge von Bundesrätin Widmer-Schlumpf.

Szenario 2: Die SVP erhebt einen Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz, der von der FDP.Die Liberalen und CVP nicht bestritten, aber an personelle Bedingungen geknüpft wird, beispielsweise bei den Bilateralen, der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und im Umgang mit Volksinitiativen. Voraussetzung hierfür ist, dass die SVP zulegt und mindestens die FDP.Die Liberalen aus der Position der Stärke eines Wahlsiegers die Regeln bestimmen kann.

Szenario 3: Last but not least schliesse ich eine dritte Variante nicht aus. Demnach kommt es zu knappen Mehrheitsverhältnissen und den Fraktionspräsidien gelingt es, nicht ihre Stallorder durchzusetzen. Die Bundesratswahlen würden wohl unübersichtlich mit Ausgängen wie oben beschrieben, oder einer Überraschung mit einer weiteren Variante.

Szenario 1 würde auf eine Mässigung des Pluralismus im Parteiensystem hindeuten.
Szenario 2 wäre wohl das Gegenteil, allerdings mit einer angezogenen Handbremse, die ihresgleichen auch auf linker Seite kennt.
Sollte die Bundesratswahl ganz von der Stange fallen, hätte der polarisierte Pluralismus sein Werk vollbracht.

Claude Longchamp