Gründe für die Wahlabstinenz in der Schweiz

Zahlreich waren die Anfragen letzte Woche zu den Gründen für die Wahlabstinenz in der Schweiz. Gestern nun veröffentlichten die Politikwissenschafter Markus Freitag und Mathias Fatke ihre neuesten Forschungsergebnisse hierzu, die den Stand der Dinge aus Sicht der BürgerInnen darstellen.

Oeffentliche Kontroversen – wissenschaftliche Forschungen
Auf der einen Seite gibt es auf der ganzen Welt wissenschaftliche Forschungen zu politischen Partizipation, speziell zur Wahlbeteiligung. Denn sie sinkt weltweit. Auf der anderen ist genau dieses Thema wiederkehrender Gegenstand öffentlicher Debatten, gerade auch in der Schweiz.
Doch beziehen sich die Diskussionen kaum aufeinander. Zu den typischen Unterschieden zählt, dass mediale Diskussionen meist monokausal argumentieren, während wissenschaftliche Untersuchungen in der Schweiz seit den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Vielfalt an Gründen und Typen hervorheben. Zudem sind die Alltagsinterpretationen meist beschönigend oder dann überzeichnen sie das Negative, der weil die Politikwissenschaft normative Bewertungen von empirischen Untersuchungen trennt. Schliesslich setzen die medialen Interpretationen meist bei einem (krassen) Fallbeispiel an um qualitative Belege für Vermutungen zu finden, während Forschungsarbeiten hierzu in aller Regel verallgemeinernd und quantifizierend vorgehen.

Forschungsergebnisse aus der Schweiz

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts bedient sich die Schweizer Politikwissenschaft unter anderem einer Typisierung von Gründen für die Wahlabstinenz, wie sie namentlich in Deutschland entwickelt worden ist. Die Diskussionen in beiden Ländern unterscheiden sich zwar, gerade auch weil die Problematik und die Bedeutung des Themas anders sind. Von Belang war bei der Ursprungspublikation zur Situation in der Schweiz 1999 die Frage, ob die Typenbildung aus Deutschland auch in der Schweiz funktioniert. Wenn zwischenzeitlich eine Replikationsstudie mit Daten von 2011 vor; die bejaht die Verallgemeinerbarkeit des Ansatzes länder- und zeitübergreifend weitgehend, wenn auch nicht ohne Anpassungen an Ort und Zeit.

Subjektive Gründe der Wahlabstinenz lassen sich demnach aufgrund aktueller Daten wie folgt kategorisieren:

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Desinteressierte kommen heute am häufigsten vor, gefolgt von Ueberforderten und sozial Isolierten, etwa gleich auf mit den Politikverdrossenen. Alles andere ist seltener. Im Zeitvergleich ist es durchaus möglich, das die Desinteressierten in geringerer Zahl vorkommen, allerdings kompensiert durch Ueberforderung und Verdruss.

Wahl- nicht Abstimmungsabstinenz
Festgehalten sei hier, dass es sich dabei um Beobachtungen zur Wahlabstinenz handelt, nicht zur Abwesenheit bei Sachabstimmungen. Denn diese ist mittlerweile etwas geringer, vor allem aber vom Themenmix und der Thematisierung im Abstimmungskampf abhängig. Entsprechend variiert sie recht stark. Wahlbeteiligung ist weniger selektiv, grundsätzlich betrachtet ist sie es aber auch.
Die Wahlforschung geht davon aus, dass auf nationaler Ebene ein Teilnahmewert von 40-45 Prozent die untere Grenze darstellt, derweil eine Beteiligung von 55-60 Prozent der oberste Wert sein dürfte. Das heisst, dass minimal 10, maximal 20 Prozent der Wahlberechtigten im Herbst einen Entscheid von Fall zu Fall treffen dürfen.

Kurzfristige Ansatzpunkte der Behebung
Bekannt ist, dass Provokations-Kampagnen geeignet sind die Wahlberechtigten mit Politikverdruss anzusprechen. Themenkampagnen wiederum können die Beteiligung von Personen mit Präferenzen für Volksabstimmungen befördern. Schliesslich sei erwähnt, dass Informationskampagnen Ueberforderungen mit dem ausdifferenzierten Parteiensystem, aber auch dem anspruchsvollen Wahlrecht abbauen können.
Schwieriger erscheint es, die drei anderen Typen kurzfristig anzusprechen: Bestehende Isolation und tiefes Desinteresse lassen sich wohl nur mit Zwang oder sozialer Kontrolle bei der Wahl angehen. Die meisten, die sich damit beschäftigt haben, neigen dazu, äussere Gründe ohne minimale innere Ueberzeugung abzulehnen. Zwang im eigentlichen Sinnen könnte namentlich bei Personen mit Vorlieben für direkte Ausdrucksformen in der Politik zu Gegenreaktionen führen.
Kurzfristig bedeutet das alles, dass der Staat, die Medien, die Parteien, die KandidatInnen und Schulen gefordert sind, ihre Bemühungen zur Hebung der Wahlbeteiligung zu vermehren: Basisinformationen und vermehrte Themenarbeit in der Offentlichkeitsarbeit können das das politische Interesse befördern. Am heikelsten ist der Umgang mit Verdruss. Denn das Aufdecken von Missständen kann diesen Typ motivieren, wählen zu gehen. Es ist aber auch denkbar, dass der Verdruss damit weiter steigt.

Claude Longchamp

A destra, senza donna

Das Tessin hat gewählt. Rechts, wie gewohnt; aber neu 5 Männer und keine Frau mehr in der Regierung, und das bei einer hohen Wahlbeteiligung von 62 Prozent.

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Die voraussichtlich neue Tessiner Regierung (anclicken, um das Bild zu vergrössern)

Die parteipolitische Zusammensetzung der Tessiner Regierung ist fast das Unwichtigste: da der Angriff der Grünen klar scheiterte, bleibt sie aller Voraussicht nach gleich rechts: 2 Vertreter der Lega resp. je einen der FDP, CVP und SP. Hauptgrund für die Stabilität ist das Wahlverfahren. Denn im Tessin wählt man nicht nur das Parlament, auch die Regierung nach dem Proporz. Ueberparteiliche Persönlichkeitseffekte treten damit in den Hintergrund. Das Rennen macht, wer in seiner Partei am meisten Stimmen erhält. Und das bestimmen die seit gut 20 Jahren die Traditionsparteien resp. die Lega je für sich.

Bemerkenswert ist aber, dass das Tessin eine Regierung mit fünf Männer bekommt. Knapp ein halbes Jahrhundert nach der Einführung des Frauenstimm- und –wahlrechts in der Schweiz geht der südlichste Kanton damit voran. Denn er ist jetzt der einzige Kanton ohne Frauen in der Regierung. Massgeblich hierfür war die Entscheidung innerhalb der FDP. Die denkbar Neuen, Christian Vitta oder Michele Bertni, lösen die zurückgetretene Bisherige, Laura Sardis, ab. Vom nationalen Durchschnitt der Frauen in Kantonsexekutiven, der nahe bei einem Viertel liegt, hat man sich damit noch entfernt.

Eine andere Sorge kennt die Tessiner Regierung nicht! Sie kann mit geschwelter Brust darauf verweisen, von gut 62 Prozent der Wahlberechtigten gewählt worden zu sein. Nur im Wallis war die Beteiligung bei der jüngsten Erneuerungswahl der Exekutive noch höher. Anders auch als der Haupttrend bei Regierungswahlen, ist die Beteiligung 2015 im Kanton Tessin nicht gesunken, sondern gestiegen. Gesichert höher war garantiert nur 1999. Mag sein, dass der Proporz da von Vorteil ist. Denn die Chancen der Polparteien Vertreter ihrer Art in die Regierung zu bringen, sind so intakt. Das motiviert rechts wie links zu wählen.

Das Tessin ist ab sofort ein mehrfacher Sonderfall: Zum Proporzwahlrecht für die Regierung kommt, dass die kantonalen Wahlen besser mobilisieren als die nationalen und, dass die Frauenquote bei Null liegt. So fragt man such: Folgt der Kanton Luzern anfangs Mai dem Tessiner Vorbild, wenn es um die Besetzung der freien Regierungssitze geht? Und folgt die Schweiz dem gleichen Kanton bei der Wahlbeteiligung? Im zweiten Fall hiesse das, die Teilnahme im Wahlherbst wäre unterirdisch, was ich für ausgeschlossen halte. Im ersten wäre der Kanton Tessin mit seinem Mannenteam nicht mehr allein, was nicht ganz auszuschliessen ist.

Claude Longchamp

Die neuen Stärken (und alten Schwächen) der FDP

“Die FDP im Aufwind” – das ist der neue Medientenor. Eine vertiefte Analyse der kantonalen Ausgangslagen für den Wahlherbst rät, die Chancen nicht nur aus der Zürcher Optik zu beurteilen, vielmehr differenziert zu sehen.

Die FDP gehörte bei den vergangenen kantonalen Wahlen wiederholt zu den Wahlsiegern. Im SRG-Wahlbarometer, erstellt vom Forschungsinstitut gfs.bern, zeichnete sich der Aufstieg der Partei bereits im Herbst 2014 ab. Vorbei waren die Zeiten der Abzocker-Debatte, vorbei auch die Dominanz der SVP mit ihren Wählergewinnen. Klar wurde damals, dass die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative einer Quadratur des Kreise gleich kommen werde. Kontrovers diskutiert wurde auch die intensive Nutzung von Volksinitiativen zu Parteizwecken. Genützt habt beides der FDP, die sich als Hüterin des Erfolgsmodells Schweiz profilierte und der Behördenarbeit Vertrauen gegenüber brachte, ohne kritiklos zu sein.

National zwei relevante Wählermärkte
Die Analyse der gegenwärtigen Wählerwanderungen, bezogen auf die Nationalratswahlen 2011, machte in jüngster Zeit mehrfach klar, dass es für den Aufschwung der FDP zwei Gründe gibt: einen Wählermarkt zwischen FDP und GLP und einen zwischen FDP und SVP.

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Ersterer ist erst seit kurzen im Entstehen begriffen. Wir deuten ihn im Zusammenhang mit den veränderten Prioritäten weg von ökologischen, hin zu ökonomischen Fragen. Der zweite Wählermarkt zeichnet sich seit den Wahlen 2011 ab, denn die Abwanderung von FDP-Wählern zur SVP wurde durch die Neupositionierung der FDP nach der Volksabstimmung über die Ausschaffungsinitiative gestoppt. Verringert haben sich auch die Verluste der FDP an die Nicht-Wähler – der eigentlichen Schwäche der Partei. National herrscht da wenigstens wieder eine ausgeglichene Bilanz.

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Soziologisch gesprochen hat sich die FDP namentlich im Umfeld der urbanen Zentren verbessert, auch bei den oberen Einkommensklassen und beschränkt auch bei den Rentner und Rentnerinnen. In diesen Gruppen tritt sie Tendenzen zur GLP und SVP erfolgreich gegenüber. Probleme bleiben auf dem Land, bei tiefen Schichten und bei Frauen als Wählerinnen.

Kantonale Unterschiede
Festhalten muss man auch, dass die neuen Trends nicht in allen Kantonen gleich verlaufen. Bei kantonalen Wahlen namhaft zulegen konnte die FDP jüngst in Zürich, Baselland und Luzern; etwas älter sind die Wahlerfolge in Uri, Schwyz und Baselstadt. Dem stehen erhebliche Verluste in Schaffhausen und Nidwalden gegenüber. Hinzu kommen verbreitete Schwierigkeiten in der französischsprachigen Schweiz. Waadt, Neuenburg, Genf und Fribourg fallen hier markant negativ auf. Teilweise handelt es sich um lokal unverdaute Fusionen mit der Liberalen Partei, die nicht den erhofften Aufschwung brachten, teilweise um Mühe mit der Neupositionierung der Partei.

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Aus dem Wahlbarometer lassen sich zwei Ursachen für den national positiven Trend ableiten: Erstens, das gute Gefühl, dass der die neuerlichen Wahlerfolge an der Basis der jahrelang gebeutelten Partei erzeugen; sie haben das Bild auf den eigenen Wahlkampf und seine Repräsentanten verbessert. Und zweitens das Themenprofil, das sich die FDP neuerlich erarbeitet hat. Wirtschafts- und Finanzfragen gehörten seit längerem zu den Domänen der freisinnigen Programmatik. Hinzu gekommen sind Arbeitslosigkeit, Bilaterale und Migration als Gründe, FDP zu wählen. Nicht ausgeprägt ist dies aber in Umweltfragen, auch nicht in der Energiewende. Dafür sind die aktuellen Positionsbezüge zu junge und zu wenig eindeutig.

Kurze Würdigung
In den 00er Jahren des 21. Jahrhunderts hatte die FDP zu wenig Profil. Der Parteispitze gelang es nicht, den verbreiteten Vorwurf, eine Allerweltspartei geworden zu sein, zu zerstreuen. Das hat sich geändert. Speziell seit der Volksabstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative ist es der FDP gelungen, an Strahlkraft zu gewinnen, und ein neues Profil als gesellschaftlich und wirtschaftlich relevante Partei zu formen. Der aktuelle Slogan mit Freiheit, Fortschritt und Gemeinsinn bringt dies am besten zum Ausdruck. Er zeigt auch, dass sich die FDP vermehrt als Wertepartei versteht, die eine Gesamtsicht über einzelne programmatischen Aussagen hinaus anbieten will.
Die Wende ist eingeleitet; bis im Herbst muss sie sich aber verstetigen und positiv auf die Schwachstellen in Kantonen auswirken, damit die FDP zur Wahlsiegerin avancieren kann. Die wichtigste Frage bleibt der Mobilisierung der durchaus vorhandenen freisinnigen Wählerschaft.

Claude Longchamp

Wahlbeteiligung in den Kantonen: mehrheitlich sinkend, aber nicht nur

Die Wahlen im Kanton Zürich haben die Diskussion zur Wahlbeteiligung wieder angeheizt. Hier eine Uebersicht über den Haupttrend und über die Kantone, die davon abweichen.

Die Wahlbeteiligung auf Bundesebene ist in vielerlei Hinsicht bekannt. Seit der Einführung des Frauenwahlrechts hat die Teilnahme an Nationalratswahlen nachgelassen, aber nicht dauerhaft. Der Tiefpunkt war 1995. Damals lag der Beteiligungswert gesamtschweizerisch bei 42 Prozent. Seither steigt die Teilnahme an der Parlamentswahl wieder langsam, aber kontinuierlich an. 2011 erreichte sie mit 48,5 Prozent wieder einen neuen Höchststand. Im Vergleich zu 1971 beträgt der Rückgang noch 8 Prozentpunkte.

Der Haupttrend: der anhaltende Rückgang
Die Entwicklung bei kantonalen Parlamentswahlen ist nicht identisch. Zwar sinkt auch hier die Teilnahme, eine gesicherte Trendumkehr gibt es aber nicht. In den ersten Jahren nach der flächendeckenden Einführung des Frauenwahlrechts 1971 lag der Schnitt der national hochgerechneten Proporzkantone bei 51 Prozent. Heute ist er bei 38 Prozent. Der mittlere Rückgang beträgt demnach 13 Prozentpunkte.

Man kann es jetzt schon sagen: Die mittlere Wahlbeteiligung in den Kanton war seit 1971 immer tiefer als auf Bundesebene, und die Schere hat sich zusätzlich geöffnet.

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In zahlreichen Kantonen verläuft die Entwicklung nach unten mehr oder weniger konstant. Namentlich erwähnen wir hier die Kantone Zürich, Luzern, Glarus, Zug, Fribourg, Solothurn, Schaffhausen, Thurgau und Jura. Grosse Abweichungen im Trend gibt es in dieser Gruppe nicht – und wenn, waren sie nicht von Dauer.

Die grösste Differenz findet sich übrigens im Kanton Jura. Die Beteiligung an der ersten Wahl im neuen Kanton lag bei 81 Prozent; die letzte Wahl mobilisierte nicht einmal mehr die Hälfte der Wahlberechtigten. Unterschied: 32,2 Prozent. Man könnte das als Sonderfall bezeichnen, bedingt durch die Neugründung, die eine ausserordentliche Politisierung mit sich brachte. Seither wäre eine gewisse Normalisierung eingetreten. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Denn die Veränderung im Kanton Solothurn ist ähnlich krass, ohne dass es hier eine Neugründung gegeben hätte. Gleiches gilt für Kantone wie Luzern oder Thurgau.

Den geringste Beteiligung kennen aktuelle der Thurgau und Neuenburg. Hier nahmen an der letzten kantonalen Parlamentswahlen 30,8 Prozent teilt. Der tiefste Wert überhaupt resultierte mit 29,5 Prozent bei den Wahlen 2002 im Kanton Bern.

Nebentrend 1: Rückgang, der abflacht oder aufhört
Das verweist auf den zweiten Typ an Entwicklungen. Demnach hat sich der frühe Rückgang abgeflacht oder es ist eine eigentliche Wende mit erhöhten Beteiligungswerten, die nicht einmal, sondern bis heute anhaltend sind. Dazu gehören nebst dem erwähnten Bern die Kantone St. Gallen, Waadt und Genf.

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Am grössten fällt die Trendwende in der Waadt aus, liegt sie doch bei rund 10 Prozentpunkten. Diese Typ an Entwicklungen entsprich am ehesten dem auf der Bundesebene.

Nebentrend 2: spät einsetzender Rückgang
Ein dritter Typ findet sich am ehesten in Neuenburg und Tessin, denn hier war die Wahlbeteiligung lange stabil, sinkt aber in den letzten Wahlen ab. Im Tessin ist die seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts der Fall, in Neuenburg seit den 00er Jahren im 21. Jahrhundert.

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Nebentrend 3: ohne zeitlich einheitliche Entwicklung
In den anderen Kantonen gibt es keinen wirklichen Trend. Entweder ist die Wahlbeteiligung weitgehend stabil wie in den beiden Basel. Kantonale Politik steht hier nicht im Zentrum der Bürgerschaft; das Verhältnis ändert sich aber auch nicht gross.

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Oder aber sie schwankt, ohne dass sie heute geringer wäre als damals. Dieser letzte Typ findet sich in den Kantonen Schwyz, Ob- und Nidwalden, Aargau und Wallis. Hauptgrund ist hier die Spannung vor Wahlen in die Regierung. Ist sie durch eine Auswahl gegeben, steigt die Beteiligung an, ohne das sinkt sie aber auch wieder.

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Ursachenanalysen
Was sind die Gründe für die Veränderungen der Teilnahme an kantonalen Wahlen? Abstrahiert man von dem eben erwähnten situativen Element kann man von einem generellen Bedeutungsverlust der Kantone als Gesetzeseinheit ausgehen. Dort, wo Lebensräume und Kantonsgrenzen nicht mehr übereinstimmen, tauchte das Phänomen früh aus, und es fällt ausgeprägt aus. Typisch hierfür der zerklüftete Kanton Solothurn, im Gravitationsfeld gleicher mehrerer urbaner Zentren. Aber auch Kantone wie Thurgau, Schaffhausen oder Luzern sind in den Bann Zürichs gezogen worden. Das fällt die Veränderung überall über dem Mittel aus.

In fast allen Kantonen ist die Teilnahme an kantonalen Wahlen heute im urbanen Gebiet geringer als in den ruralen Gegenden. Das wiederum kann mit der medialen Situation in Verbindung gebracht werden. Geschlossene Lebenswelt sind hier stark aufgebrochen worden. Soziale Kontrolle wurde individualisierte Lebensweisen ersetzt, mit folgen für die Politik.

Politische Betätigung ist nicht generell rückläufig, teilweise einfach selektiver geworden. Das muss nicht einmal mit der Ausgangslage vor der Wahl tun haben. Vermutet werden kann nämlich, dass sich die Teilnehmenden selber nicht immer gleich zusammensetzten. Vielmehr kommen zu den regelmässig Wählenden immer mehr auch solche hinzu, die sich aufgrund ihrer Meinungsbildung, ihrem Interesse an der Wahl oder der Betroffenheit durch die Umstände beteiligen.

Repolitisierungen dieser Potenziale durch neue Konflikte, neue Parteien oder neue Kommunikationsformen, wie wir sie ausgehend von den urbanen Zentren auf Bundesebene kennen, haben auf der kantonalen nur teilweise gegriffen. Deshalb zeigt sich das Neue in den Kantonen weniger klar aus beim Bund.

Beispielsweise im Kanton Zürich, der eben wählte, merkt man davon jedoch wenig, wenn der Kantons- oder Grosse Rat gewählt wird. Hierfür fehlt es bei kantonalen Wahlgängen einfach an polarisierenden Themen, derweil diese bei Abstimmungen und nationalen Wahlen viel auch in diesen Grossagglomerationen mobilisierend wirken.

Claude Longchamp

Was wäre wenn … eine Analyse der Trends im Wahljahr 2015 – nach den Zürcher Wahlen!

Wahlprognosen sind wieder in. Wahlanalysen scheinen mir sinnvoller. Eine Auslegeordnung der Trends im Wahljahr – nach den Zürcher Wahlen.

Zu den medial gängigen Interpretationen der Wahlen im Kanton Zürich gehört, sie als Trendsetter auf nationaler Ebene zu sehen. Die Grösse des Kantons, sein ausdifferenziertes Parteiensystem und die Nähe zu den Nationalratswahlen sind plausible Gründe hierfür.
Quantitative Vergleiche legen nahe, dass die grossen Parteien im Oktober 2015 gewinnen oder ihre Stärke halten könnten; das gilt namentlich für FDP, SVP und SP. Kleinere Parteien dürften dagegen verlieren, speziell die GPS, wohl auch die GLP und die BDP. Die neue Mitte dürfte damit am Ende sein, eine liberale Aera könnte eingeleitet werden. Je nach Perspektive nennt man das “Erneuerung der Konkordanz mit einem Schwerpunkt mitte/rechts” oder ganz einfach Rechtsrutsch. Hauptgrund, der dafür zitiert wird: Oekologie ist out, Oekonomie ist in. Ganz einfach.

Doch stimmen diese Zuspitzungen? Zunächst gilt es auf verschiedene, systematische Unterschiede zwischen nationalen und kantonalen Wahlen zu verweisen. Der hauptsächliche betrifft die Beteiligung. 2015 sank die Teilnahme an den Zürcher Wahlen auf unter einen Drittel der Wahlberechtigten – einem eigentlichen Tiefstwert. Demgegenüber steigt die Wahlbeteiligung national seit 1995 ungebrochen an. Sie hat sich nahe der Hälfte eingependelt. Themen statt Personen könnte man den hauptsächlichen Unterschied benennen. Denn kantonale Wahlen werden in aller Regel durch die Neubestimmung der Regierung bestimmt; stark personalisiert, gelegentlich auch skandalisiert, meist aber ohne grosse Streitfragen. National ist das ganz anders: Hier dominieren kontroverse Themen, welche die Mobilisierung Polparteien befördern, gelegentlich im gleichen Masse, bisweilen auch asymmetrisch.

Nur schon deshalb sei von einer vereinfachten Uebertragung der Züricher Ergebnisse auf die nationale Ebene gewarnt. Denn Beteiligungseffekte sind immer schwerer vorhersehbar. Der Chefstatistiker des Kantons Zürich weiss darum. Er verweist auf Regularitäten im Bereich von 80 Prozent Wahrscheinlichkeit bei den grösseren Parteien; bei den kleinen neuen fehle es schlicht an Erfahrungswerten.
Faktisch bewegt man sich damit im Aussagebereich von breit angelegten nationalen Umfragen. Die bestätigen einiges, relativieren anderes: Denn seit dem Herbst 2014 verweisen sie auf einen systematischen Anstieg der FDP-Wahlabsichten. SVP, SP und CVP rangieren nahe dem Wert von 2011. Auch hier zeichnen sich bei GPS und BDP negative Trends ab. Der eigentliche Unterschied betrifft die GLP. In Umfragen, wie in den meisten kantonalen Wahlen legen sie zu, gemäss Zürich-Trend verlieren sie.

Geht man weniger quantitativ, eher qualitativ vor, zeigen die Zürcher Wahlen, dass sich das politische Klima erneut verändert hat: 2012 war Mitte/Links en vogue; 2013 kehrt das Blatt, und es schwang die SVP bei den Wahlen oben aus. 2015 hat die FDP die SVP als Trendsetterin vor allem im agglomerierten Gebiet abgelöst. Einschneidende Momente waren die Ständeratswahlen 2011, die der SP einen Aufschwung brachten, der bis zur Abzocker-Initiative anhielt. Dann definierte der Abstimmungssieg der SVP bei der Masseneinwanderungsinitiative die Wende ins Nationalkonservative. Zu guter Letzt hat die Entscheidung der Nationalbank, die Euro-Untergrenze für den Schweizer Franken aufzuheben eine neue Situation geschaffen. Ohne Zweifel kann man sagen: Wirtschaftsfragen haben an Bedeutung gewonnen; koordinierte Auftritte von Seiten der wiedererwachten Bürgerlichen versprechen da mehr als die Rezept von RotGrün. Namentlich ist mit der neuerlichen Wende das Umfeld für Experimente mit unbekanntem Ausgang schlechter geworden.

Die Zürcher Wahlen sprechen auch dafür, dass sich die dramatischen Umbrüche im Parteienwesen, wie es zwischen 1999 und 2007 mehrfach zum Ausdruck kamen, an ein Ende geraten sind: Selbst die Veränderungen von SVP und SP fallen neuerdings bemerkenswert geringer aus als auch schon: Wachstumspotenziale hat die SVP namentlich auf dem Land, die SP in den Kernstädten. Das Parteiensystem der Schweiz ist trotzdem wieder bemerkenswert stabiler. In Bewegung ist flächendeckend das Zwischenfeld zwischen FDP und GLP. 2007 und 2011 zog der Reiz des Neuen, der lagerübergreifend Wählende mit der Hoffnung auf eine neue Synthese aus Oekologie und Oekonomie anzog. Von der damit verbundenen Ueberwindung der Links/Rechts-Gegensatzes spricht heute kaum jemand mehr. Vielmehr ist Lagerbildung wieder angesagt, sogar Lagerwahlkämpfe flackern auf.
Davon profitiert neuerdings die FDP. Verluste nach rechts konnte sie mit neuem Themenprofil stoppen, Gewinne gegenüber der schwächelnden neuen Mitte sind angesagt. Mühe, sich zu halten hat auch das linke Lager. Ihre Reformvorschläge in Sachen Energiewende und sozialere Wirtschaft könnten aufgelaufen sein, seit Fukushima die Behördenagenda nicht mehr weitgehend dominiert, und seit die Kritik an den Gehältern der Manager wieder abgeflacht ist. Ein neues grosses Projekt von links in greifbarer Näher zeichnet sich nicht ab: zumal es im Wahljahr keine Volksabstimmung über den Ausbau des Gotthard-Tunnels geben wird.

Bei allem, was man an Trends erkennen mag: Noch ist nicht Wahltag! Allen Modellrechnungen aus kantonalen Wahlen ist nämlich eigen, dass sie das Kommende mit dem Bisherigen erklären. Alles was bis jetzt gar nicht vorkam, kann damit nicht berücksichtigt werden.
Die Wahlen von 2007 mahnen da zu Vorsicht. Damals klassierten aufgrund der bisherigen Trends alle Modellrechner die CVP als Verlieren, und irrten sich! Politologe Ladner, der damals die Prognose machte ist zur besagten Methode auf Distanz gegangen und hat das Vorgehen nicht wiederholt. Vorsichtiger sind da Trendanalysen: Denn sie lassen es offen, dass sich aufgrund von Ereignisse immer wieder neue Entwicklungen möglich sind. Beispielsweise aufgrund der Abstimmungsergebnisse am 14. Juni. Beispielsweise aufgrund wichtiger Ereignisse im Ausland. Beispielsweise aufgrund des Wahlkampfes, der letztlich erst im Spätsommer einsetzen wird.
Vor allem mit seinen nicht zu unterschätzenden Wirkungen auf Aktivierung bisheriger Parteibindungen über die Stammwählerschaft bei kantonalen Wahlen hinaus, und bezüglich der Mobilisierung bei schwankenden Wähler und Wählerinnen.
Was wäre wenn … scheint mir die treffendere Analyse zu sein, als was morgen sein wird!

Claude Longchamp

Das WWWW des Wahlbarometers 1/2015

Vier Thesen zur Standortbestimmung sieben Monate vor der Nationalratswahlen 2015, die ich nach der Analyse des ersten Wahlbarometers 2015 und vor der Publikation in den SRG-Medien abgefasst habe.

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Das erste W: Wer will sich beteiligen?
Gegenwärtig zeigen 48 Prozent der Wahlberechtigten ein Interesse, sich an der Wahl im Herbst 2015 zu beteiligen. Das ist für den frühen Zeitpunkt der Standortbestimmung ein hoher Wert. Bezogen auf die gegenwärtig denkbaren Mobilisierungspotenziale bewegen sich GLP und GPS bereits am oberen Ende. Die schlechteste Mobilisierung kennt aktuell die BDP. Die anderen Parteien kennen eine mittlere, übliche Mobilisierung.
Die gegenwärtigen Teilnahmeabsichten steigen mit dem Bildungsgrad an. In der deutschsprachigen Schweiz sind die Beteiligungsabsichten ausgeprägter als in den anderen Landesteilen, und sie entwickelt sich nach oben. Das spricht für eine ungleich starke Politisierung der Sprachregionen. Eine auffällige Mobilisierung von Protestpotenzialen gibt es wenigstens für den Moment nicht.
Verglichen mit der Wählerschaft von 2011 hat sich die SP in ihrer Mobilisierungsfähigkeit eher verbessert. Verglichen mit der gleichen Wahlbarometer-Analyse im Herbst 2014 ist vor allem die SVP in Fahrt gekommen.

Das zweite W: Was würde man wählen?
Aktuell wäre die Reihenfolge der Parteien fast gleich wie 2011. Nur die GLP und die BDP würden die Plätze 6 und 7 miteinander tauschen. In Prozentzahlen ausgedrückt würden heute die FDP.Die Liberalen etwa zulegen können, die GPS und die BDP hätten dagegen Probleme, ihren Wähleranteil von 2011 zu halten. Die anderen Parteien wären stabil. Generell fielen die Werte für die Veränderungen von Parteistärken geringer aus als bei den letzten Wahlen, was für eine Stabilisierung des Parteiensystems spricht. Seit dem letzten Herbst gibt es aber einen Trend zur Stärkung der bürgerlichen Parteien insgesamt.
Unterschiede in den Wählerprofilen finden sich vor allem hinsichtlich sozio-demografischer Merkmale. Frauen neigen eher zu linken, Männer zu rechten Parteien. Schichteinflüsse finden sich nicht einfach zwischen linken und rechten Parteien, eher zwischen liberal und konservativ ausgerichteten.

Das dritte W: Warum würde man eine Partei wählen?
Von Wahl zu Wahl zugenommen hat die Bedeutung von Themen. Heute ist es der wichtigste Wahlgrund. Motivierend auf die Mobilisierung wirkt auch eine Kampagne, die bei der eigenen Wählerschaft gut ankommt.
Imagemässig mit Themen profilieren können sich meist nur Polparteien. Umweltschutz und Migration zählen in der Regel als Stärken von GPS und SVP. Eine eindeutige Themenführerschaft besteht aber nicht mehr, denn die Positionen beider Parteien in ihrem Kernthema sind umstrittener geworden. Erstmals besetzt die SP kein Thema mehr eindeutig. Potenzial hätte sie aber in der Migrations- und Europa-Frage.
Anders sieht es aus, wenn man auf die Wahrscheinlichkeit abstellt, dass eine bestimmte Person eine bestimmte Partei wählt. Da sind heute ökonomische Fragen rechts der Mitte massgeblich, links sind es Gerechtigkeits-, Umwelt- oder Migrationsfragen. Personenbezüge spielen keine so dominante Rolle mehr wie früher. Die Polarisierung auf der Links/Rechts-Achse bleibt hoch, die Unterschiede in Wertfragen, insbesondere zwischen Offenheit und Unabhängigkeit haben sich etwas eingeebnet.

Das vierte W: Tut der neue Frankenkurs weh?
Die Mehrheit der Wahlberechtigten steht hinter der Entscheidung der Nationalbank, die Euro-Untergrenze aufzuheben. Das gilt, mit Ausnahme der grünen Wählerschaft für alle Parteilager, auch wenn die Zustimmung bei liberalen Parteien höher ist als bei konservativen und linken. Das zentrale Bedenken besteht bei den Folgen für die Exportindustrien; dem stehen aber vorteilhafte Erwartungen für den Konsum gegenüber. Weder Protest, noch Demobilisierung können wir als Folge der Debatte über den Frankenkurs namhaft festhalten; vielmehr dominiert die mehrheitliche Loyalität gegenüber den wichtigsten wirtschaftspolitischen Entscheidungen der letzten Monate.

Claude Longchamp