Eine Hochrechnung ist nicht nur eine Hochrechnung.

An Wahl- und Abtimmungssonntagen gehören Hochrechnungen zum Standard. Warum gfs.bern sie für die SRG erstellt, und was man heute erwarten kann.

Das Forschungsinstitut gfs.bern erstellt seit dem 6. Dezember 1992 die SRG-Hochrechnungen bei eidgenössischen Volksabstimmungen. Eine Team SozialwissenschafterInnen sicher den Datenfluss und erstellt die Analyse. Ich selber übernehme die Kommentierung für Fernsehen und Radio.

Der Grundgedanke ist einfach: Statt auf das nationalen Endergebnis zu warten, bedient man sich eines Endergebnisses in einem Kanton oder in einer Gemeinde. Voraussetzung ist, die Gemeinde oder der Kanton sind für die Schweiz repräsentativ, sie zählen schnell aus, und sie liefern die Resultate zuverlässig in die Zentrale der Forschenden.

Die Idee, das mit einer Gemeinde für die Schweiz zu machen, ist bestechend, aber auch mit Tücken versehen. Solche Gemeinden zu finden, ist nicht schwierig. Ist sie gross, ist sie aber zu langsam, ist sie zu klein, besteht das Risiko von Abweichungen ohne Systematik.

Die SRG-Hochrechnung umgeht diese Problematik, indem sie mit Gemeinden kooperiert, die für ihren Kanton typisch sind. Das hat einen weiteren Vorteil, denn nur so kann das Ständemehr, das Verfassungsänderungen von Belang ist, erfasst werden. Eine weitere Eigenheit des SRG-Hochrechnung besteht darin, nicht immer mit den gleichen Gemeinden zusammen zu arbeiten. Vielmehr werden sie je Vorlageninhalt verschieden ausgewählt.

An diesem Abstimmungssonntag arbeitet gfs.bern mit 276 Gemeinden zusammen. Die Idee ist, dass jeder Kanton je Vorlage durch mindestens 2 Gemeinderesultate abgedeckt wird.

Das Verfahren ist auf Sicherheit angelegt, nicht auf Schnelligkeit. Denn ob man das Resultat einer Abstimmung einen halbe Stunden früher oder später weiss ist nicht entscheidend; massgeblich ist, dass die Hochrechnung stimmt.

Die Resultate können sich sehen lassen. Im Schnitt ist die erste Hochrechnung auf 1 Prozent genau. Weit über 90 Prozent liegen in einem Fehlerbereich von maximal 2 Prozentpunkten.

Mit anderen Worten: Hochrechnungsergebnisse von rund 47-53 Prozent bei Volksmehr lassen sofort einen verlässlichen Rückschluss auf die Mehrheit zu; beim Ständemehr liegt der Fehler bei maximal einem Kanton. Das gilt bei der ersten Hochrechnung; danach werden die Hochrechnungen Schritt für Schritt genauer.

Die SRG-Hochrechnungen haben sich in den letzten Jahren verändert. Entwickelt wurde von gfs.bern auch eine Erstanalyse. Sie basiert auf der Auswertung vorläufiger und definitiver Kantonsergebnisse. Geklärt wird, in welchem Masse zentrale Konfliktlinien wie Sprachgrenzen oder der Stadt/Land-Graben von Belang sind. Geschätzt werden auch Einflüsse aus der Wirtschaftsstruktur eines Kantons und der sozialen Zusammensetzung der BewohnerInnen. Schliesslich kommen politische Analysen dazu: Der Einfluss der Verschuldung oder des Steuerregimes kommen hinzu.

Zu diesem allgemeinen Charakteristiken gesellen sich vorlagenspezifische Analysen. Am 30. November sind das der Ausländeranteil oder die Bevölkerungsdichte für Ecopop, sowie die kantonalen Politiken zur Pauschalbesteuerung für die entsprechende Vorlage.

Der Start der Hochrechnung ist um 10 Uhr, wenn die ersten Abstimmungslokale schliessen. Für 1230 werden Trendergebnisse erwartet, die klären, ob eine Vorlagen abgelehnt oder angenommen wird. Ab 1300 kommt dann die eigentliche Hochrechnung dazu, welche Angaben zur Höhe von Ja und Nein und, wenn nötig zum Ständemehr macht.

Gegenwärtig in Entwicklung begriffen ist die jüngste Neuerung für den Abstimmungssonntag: Die Analyse von Social Media Aktivitäten im Abstimmungskampf und am Abstimmungstag selber.

Claude Longchamp

Ecopop auf keinem online-Kanal in der Mehrheit

Anders als bei früheren Migrationsinitiativen gelang es Ecopop nicht, mit ihrer Kampagne in Online-Kanäle eine früher Vorherrschaft zu erreichen und damit die allgemeine Berichterstattung zur ihrer Vorlage wirksam zu beeinflussen.

Seit 2010 legt das fög bei allen wichtigen Volksabstimmungen einen ausführliche Medienanalyse zur Berichterstattung im Abstimmungskampf vor. Berücksichtig werden dabei die Printmedien. Komplementär hierzu ist die Uebersicht, welche die Firma talkwalker erstellt. Dabei handelt es sich um eine Bestandesaufnahme von online Aktivitäten. Erfasst werden hier alle elektronischen Beiträge, die wie bei den fög-Analysen hinsichtlich Resonanz und Tonalität ausgewertet werden.

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Erstmals publiziert wurden Auszüge aus diesen Ergebnissen heute morgen von der SRG. Sie zeigen zwei klare Befunde, die einen wichtigen Schluss zulassen:

Erstens: Die Resonanz der drei Vorlagen im zurückliegenden Abstimmungskampf war unterschiedlich; 65 Prozent aller erfassten Beiträge beziehen sich auf die Ecopop-Initiative, 20 Prozent auf das Gold-Begehren und 15 Prozent auf die Pauschalbesteuerungsinitiative. Im Vergleich zu den Printmedien die Reihenfolge auf den Plätzen 2 und 3 vertauscht. Mit anderen Worten: Namentlich die Initiative gegen die Pauschalbesteuerung war auf Internet viel weniger als Thema als in den Printmedien. Umgekehrt konzentrierte sich die online-Aufmerksamkeit noch stärker auf Ecopop.
Zweitens: Die Tonalität zur Ecopop-Initiative war sowohl im Print wie auch in Online-Bereich negativ. Denn die Online-Analyse zeigt, dass sämtliche unterscheidbaren Kanäle negativ berichteten. Das gilt am klarsten für elektronische Newspaper und online-news Plattformen, gefolgt von Blogs, Magazinen, Foren, Radio/TV und youtube. Am Schluss dieser Liste sind facebook und twitter. Facebook kannte vergleichsweise am meisten befürwortende Standpunkte, Twitter hatte am meisten neutrale Informationen. Doch auch hier überwiegt die Ablehnung.

In den bisherigen Analysen zu Social Media in Abstimmungskämpfen dominierte die Einschätzung der Gegenöffentlichkeit. Wer in den Printmedien zu kurz kommt und es sich nicht leisten kann, das mit bezahlter Werbung zu kompensieren, weicht auf Online-Publikationen aus. Ohne Zweifel bilden die Kommentarspalten der elektronischen News-Plattformen eine Gegenöffentlichkeit, in der sich die Ecopop-Befürworter direkt darstellen konnten. Allerdings gelang es ihnen diesmal nicht, auch auf facebook eine Vorherrschaft aufzubauen, ebenso wenig auf Twitter. Man kann vermuten, dass die Ecopop-Gegnerschaft gerade hier ihre Präsenz erhöht hat. Damit dürften sie aus der Niederlage bei der Masseneinwanderungsinitiative gelernt haben, denn diese zeichnete sich als Erstes auf facebook ab.

Damit fand, mindestens in Sachen Ecopop, eine Angleichung der Trends in der vielfach fragmentierten Medienlandschaft statt. Selbst wenn diese zunehmend einen hybriden Charakter hat; ohne handfesten Anlass sind die Tendenzen in den verschiedenen Teilöffentlichkeiten sind nicht einfach gegensätzlich.

Claude Longchamp

Mein Einsatzplan für den kommenden Abstimmungssonntag

Was am kommenden Abstimmungssonntag via SRF kommuniziert wird!

Wie immer an Abstimmungssonntagen bin ich mit meinem Team vom gfs.bern am Abstimmungssonntag im Volleinsatz. Wir rechnen alle drei eidg. Vorlagen hoch, analysieren die eintreffenden Ergebnisse aus Kantonen und Gemeinde, extrapolieren sie auf die nationale Ebene und schätzen frühzeitig ab, was wie stark angenommen resp. abgelehnt wird. Zudem unterziehen wir die Resultate einer Erstanalyse zum Konfliktmuster und bringen die Ergebnisse mit der Meinungsbildung in der Bevölkerung, den Massenmedien und den neuen soziale Medien in Verbindung.

Anbei der Fahrplan für den kommenden Sonntag (vorbehältlich kurzfristiger Aenderungen).

Trendrechnungen Volksabstimmungen
12:30 Trend zu allen drei Vorlagen, falls möglich, via TV
12:37 Trend zu allen drei Vorlagen, falls möglich, via Radio

Hochrechnungen Volkabstimmungen
13:00 1. Hochrechnungen zu allen drei Vorlagen, wenn möglich, via TV
13:05 1. Hochrechnungen zu allen drei Vorlagen, wenn möglich, via Radio
13:16 Kleine Analyse Hochrechnungen, via TV
13:30 1. Hochrechnung zu Vorlagen, die noch nicht hochgerechnet wurden, sonst 2. Hochrechnung, via TV
13:35 Kleine Analyse neue Hochrechnungen, via TV
13:45 Kleine Analyse Hochrechnung, via Radio
13:55 Analyse social media
14:00 Analyse Hochrechnungen, via TV
15:00 Hochrechnung Stimmbeteiligung, Analyse Kampagne Ecopop
15:20 Analyse internationale Reaktionen

Erstanalysen
16:00 Erstanalyse Pauschalbesteuerung, via TV
16:20 Erstanalyse Goldinitiative, via TV
16:37 Erstanalyse Ecopop, via TV

Bilanz und Ausblick

18:39 Schlussanalyse Abstimmungs-Sonntag, via TV

Erläuterungen
Trendrechnung: qualitative Aussagen über erwartete Annahme/Ablehnung, wenn Trendergebnis klarer als 45/55 resp. 55/45
Hochrechnung: quantitative Aussagen über erwartete Werte der Zustimmung/Ablehnung beim Volks- und Ständemehr (wenn nötig), max. Fehlermarge +/-3 Prozentpunkte, dann jede halbe Stunde mit verbesserter Fehlermarge (nur wenn sich Mehrheiten ändern)
Erstanalyse: Analyse des Kantonsprofil von Zustimmung und Ablehnung aufgrund von weiteren Kontextmerkmalen

Claude Longchamp

Die andere direkte Demokratie

Der Politblog auf Newsnetz wird 5jährig. Hier mein Blog zum kleinen Jubiläum – grundsätzlich gehalten.

Wer hierzulande von Demokratie spricht, meint vor allem die direkte. Und wer von der direkten Demokratie redet, denkt unweigerlich an Volksrechte: Referendum und Initiative sind die Instrumente, mit denen wir die Politik der Behörden bremsen und anschieben.

Direkte Kommunikation statt vermittelte

Mit dem Aufkommen des Cyberspace hat direkte Demokratie weltweit eine neue Bedeutung erlangt. Gemeint ist das, was die Kommunikationswissenschaft etwas ungelenk «Disintermediation» nennt: den Abbau von Vermittlern durch die Internetkommunikation. Denn mit dem Cyberspace brauchen Sender keine hochtrabenden technischen Kanäle mehr, um ihre Botschaften zu kommunizieren. Sie können es, mit einfachen Instrumenten der Kommunikation, häufig selber tun.

Blogs sind ein Kind der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts. In der Schweiz durchgesetzt haben sie sich während der 00er-Jahre des 21. Jahrhunderts. Ihre Zahl, auch ihre Nutzerinnen und Nutzer sind nicht bekannt. Man spricht von 10 Prozent der Internetnutzer, die mit Blogs senden und empfangen.

Nicht alle, die bloggen, sind damit glücklich geworden. Einzelne sind wegen unverzeihlicher Fehler gescheitert – weit über die Blogosphäre hinaus. Andere können sich rühmen, Debatten über den Fallschirm des bestverdienenden Managers in unserem Land angeschoben zu haben.

Bezogen auf die Politik relativiert das die Bedeutung der Repräsentation, wie sie Parlamente, Parteien und Verbände garantieren. Cyber-Kommunikation verstärkt Demokratie nicht per se, denn die direkte Kommunikation ohne Regeln erhöht die Unübersichtlichkeit und verringert die Sicherheit von Verfahren der Entscheidung.

Blogs und Politik
An diese Seite solcher Risiken sind aber unerwartete Chancen getreten. Bundesräte wurden zu Bloggern. Fachleute erörtern mit ihren Kolleginnen und Kollegen relevante Fragen vor Publikum. Thinktanks propagieren ihre umfangreichen Berichte mit knappen Beiträgen, die zum Weiterlesen reizen. Lobbyisten schaffen Vertrauen, indem sie Transparenz über ihr Treiben herstellen. Das alles ist neu, und ohne Cyberkommunikation wäre es praktisch undenkbar.

die Bandbreite der Stimmen, die dank Blogs öffentlich werden, ist heute pluralistischer denn je. Geöffnet wurde auch das Spektrum der Meinungen. Aus Organisationen werden Leader, Sprecher, die etwas zu sagen haben und es mediengerecht kommunizieren können.

Bei weitem nicht alles Neue ist den Bloggern zu verdanken. An ihre Seite sind Facebook und Twitter getreten, beides Instrumente, die recht einfach zu bedienen und mit beschränktem Aufwand zu betreiben sind. Blogs haben aber den Vorteil, dass man ausführlicher argumentieren kann, denn man ist beispielsweise nicht auf 140 Zeichen beschränkt. Und gerade in der Politik sind Blogs weniger auf das Bildhafte und Emotionale fixiert, wie das bei Facebook häufig der Fall ist.

Man kann es auch so sagen: Blogs sind jener Ort der standortbezogenen Kommunikation mit Argumenten und Fakten geworden, der von den agilen sozialen Medien konkurrenziert, aber auch befruchtet wird.

Blogs und Massenmedien
Das Ganze zusammen hat das Mediensystem verändert. Hybrider, sprich gemischter, ist es geworden, sagen uns die Experten der politischen Kommunikation.

Bezogen auf Massenmedien haben Blogs gleich mehrere Funktionen. Zunächst sind sie Mikro-Vermittler zwischen politischen Akteuren und Massenmedien. Sie bereiten neue Geschichten vor, sie speisen vernachlässigte Sichtweisen ein und sie liefern auch mal Fakten, die unterzugehen drohen. Medien wiederum konsultieren Blogs, wenn sie eine Story brauchen, aber auch, wenn sie seriöse Recherche betreiben. Wer etwas zu sagen und schreiben hat, wird so gefragt (oder ungefragt) zur Referenz bei Medienschaffenden – auch ohne dass man jede Woche miteinander telefonieren muss.

Umstritten geblieben sind Blogs als Instrumente der Medien selber. Anfänglich standen die Blogger dem kritisch gegenüber; man fürchtete um Authentizität. Heute machen die meisten mit, wenn sie Angebote erhalten, via Plattformen der Medienhäuser ein grösseres Publikum ansprechen zu können. Geblieben ist die Skepsis, wenn Journalistinnen und Journalisten ihre Blogs nicht Dritten öffnen, sondern dazu gebrauchen, um ihre Artikel, die sich nicht platzieren konnten, auf diesem Weg zu publizieren.

Der Angelpunkt der Diskussion heute sind die Kommentarspalten zu den Blogs. Ohne Regeln, ohne Moderation können sie zum Tummelfeld der Kritik werden, die polemisch und verletzend agitieren kann. Das schreckt ab, denn mit gelebter Debatte hat das nichts zu tun.

Digitale Populismus als Schwachstelle
Die kritischste Form der Blogs in Onlinemedien ist der digitale Populismus. Gemeint ist, dass als Reaktion auf Blogbeiträge häufig in anonymisierter Form hemmungslose Kritik an Politikern oder Politikerinnen und politischen Institutionen geübt werden kann. Denn so entziehen sich die Autoren ihrerseits der Kritik, der Prüfung von Fakten, der Präsentation von Argumenten, die sie widerlegen, aber auch der Verantwortung für das von ihnen Geschriebene.

Die so veranstaltete direkte Demokratie hat kaum mehr etwas damit zu tun, was wir uns alle wünschen: durch Debatten, Argumente und durch Fakten zu qualifizierten Standpunkten zu kommen – wo es zwar kein gesichertes Wissen gibt, aber Einschätzungen über den Moment hinaus fehlerhaftes Handeln verhindern sollen. Mit oder ohne etablierte Volksrechte, aber dank offener Diskussionen auch via Blogs.

Claude Longchamp

Handbuch der Abstimmungsforschung: Auf 480 Seiten (fast) alles Wissenswerte greifbar gemacht

Wer sich bisher einen Überblick über den Forschungsstand zur direkten Demokratie und Volksabstimmungen in der Schweiz verschaffen wollte, griff zum bewährten “Handbuch der Schweizer Politik” und konsultierte die beiden diesbezüglichen Stichworte. Auf zweimal 25 Seiten wurde man in die Institutionen der direkten Demokratie eingeführt. Aufgezeigt wird deren Wirkung auf System und Politik und Fragen wie das Mass an Unterstützungsleistung für Behörden, deren Rolle im Wahlkampf, der Wirkung auf die Mobilisierung bei Entscheidungen werden geklärt.

9783038239093

Seit einigen Tagen gibt es hierzu eine Alternative: das “Handbuch der Abstimmungsforschung” von Thoma Milic, Bianca Rousselot und Adrian Vatter. Die drei (teils ehemaligen) Berner PolitikwissenschafterInnen legten jüngst ein neues Werk mit dem Anspruch vor, den neuen Standard zu definieren. Das Neue besteht eindeutig darin, auch über Theorien und Methoden der Abstimmungsforschung zu berichten, genauso wie einige ihrer zentrale Anwendungsfelder vorzustellen.

Interessierte erhalten auf diesem Weg erstmals eine Übersicht über sozialstrukturelle Ansätze der Abstimmungsforschung (meist aus der Soziologie) sowie Herangehensweisen, die sich in der Ökonomie respektive der Sozial- oder Kognitionspsychologie empfohlen haben. Auf der einen Seite werden die konzeptionellen Überlegungen, die meist in den USA entwickelt worden sind, vorgestellt – auf der anderen Seite werden exemplarische Tests im Schweizer Kontext besprochen. Das ist, für Schweizer Verhältnisse, innovativ und ein eindeutiger Mehrwert gegenüber dem bisherigen Stand der Dinge. Weil die Abstimmungsforschung vielleicht das einmaligste zur Schweizer Politik ist, gebührt den AutorInnen nur schon dafür ein grosser Dank.

Klassisch aufgebaut ist dagegen der Teil zu den Daten und Methoden, denn er unterscheidet zwischen meist amtlichen Aggregatsdaten und Individualdaten, die mittels Umfragen generiert wurden. Bei beiden Herangehensweisen mischten sich nach dem Urteil der BuchverfasserInnen Lob und Tadel, denn Fehlschlüsse seien bei Aggregatdatenanalysen nicht auszuschliessen und der Motivforschung mittels Umfragen hafte der Vorbehalt an, Rationalisierungen emotionaler und ambivalenter Entscheidungen zu liefern.

Erinnert wird im Handbuch daran, dass die sozialwissenschaftliche Abstimmungsforschung in der Schweiz erst seit den 70er Jahren systematisch betrieben werde. Vorher galt “vox populi, vox dei” bis weit in Kreise aus Politik und Wissenschaft hinein. Das hat sich mit dem Demokratiewandel der Gegenwart, aber auch mit dem Aufkommen der Politikwissenschaft in der Schweiz gründlich geändert.

Zu den offensichtlichen Stärken des neuen Handbuches gehört, dass erstmals eine Geschichte der (akademischen) Abstimmungsforschung mit den wichtigsten Meilensteinen geboten wird. Ausgesprochen wertvoll ist die Bilanz am Ende des Buches, die Ergebnisse und Erkenntnisse resümiert und einordnet. Berichtet wird dabei von positiven Effekten der Volksrechte auf die Bürgerschaft (Informiertheit, Kompetenz und Vertrauen), Gesellschaft (Sozialkapital, Demokratiezufriedenheit, Stabilität, Integration) und Ökonomie (Wirtschaftskraft, Effizienz öffentlicher Güter). Eine Schwachstelle der direkten Demokratie orten die AutorInnen in der paradoxen Wirkung. Denn anders als erwartet, führe sie nicht zur unorganisierten Bürgerschaft jenseits des Parteienstaates, sondern stärke (namentlich in der Schweiz) vor finanzkräftige Interessengruppen, die Kampagnen professionell betreiben. Keine eindeutigen Antworten liefere die empirische Abstimmungsforschung hingegen bei Fragen zum Status-Quo-Bias, aber auch zur Staatsquote, zur Zentralisierung und zur aussenpolitischen Integration. Denn diese Analysen seien ohne normative Rückgriffe mit Einflüssen auf die Antworten nicht machbar.

480 Seiten hat das Handbuch, vom NZZ Verlag unprätentiös und sauber aufgemacht. Gut 50 Seiten mit rund 750 Titeln umfasst alleine das Literaturverzeichnis. 35 Abbildungen, 25 Tabellen und 6 Infoboxen lockern den gut geschrieben, bisweilen aber etwas ausführlichen Text auf. Vermisst wird allerdings das obligate Sachregister, dass es der Leserschaft erlauben würde, jenseits des Inhaltsverzeichnisses gezielt spezifische Informationen zu orten.

Aus meiner Sicht am wenigstens gelungen ist der Teil zu Medien im Abstimmungskampf. Das beginnt auf der konzeptionellen Ebene, denn die innovativsten Theorien zu Wahlen und Abstimmungen finden sich zu Stichworten wie “Mediengesellschaft” und “Mediendemokratie”. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie sich der offensichtliche Medienwandel hin zu einer hybriden Öffentlichkeit mit klassischer Medienarena und neuen Nebenbühnen auswirkt. Dabei geht es um Stimmungen und Emotionen, meist via Personen und Protesten, die verstärkt oder erzeugt werden, um jenseits der Rationalität Angebote zu schaffen, wie man sich entscheiden solle. Erste Forschungsergebnisse hierzu werden leider ausgeblendet, obwohl der Theorieansatz des Buches ansonsten sozialwissenschaftlich und multidisziplinär ist. Das setzt sich darin fort, dass eigentliche Fallstudien zu Abstimmungskämpfen, die seit einigen Jahren rasch an Bedeutung gewinnen, weitgehend unerwähnt bleiben. Irritierend wirkt in diesem Zusammenhang, dass der umfangreiche Sammelband von Kamps/Scholten, anfangs 2014 erschienen, ganz ausgelassen wird. Meine Vermutung ist, dass das Dynamische in der Meinungsbildung zu Volksentscheidungen wesentlich höher ist, als diese aufgrund von Strukturanalysen erscheint, aber auch Ansätzen der rationalen oder weltanschaulichen Entscheidung vorgestellt wird.

Die besprochenen Anwendungsfälle der Schweizer Abstimmungsforschung kreisen denn auch schwerpunktmässig rund um Fragen des Kompetenz- und Kognitionsniveaus der Stimmberechtigten, um die Bedeutung von Parteien und Behörden bei der Steuerung der Meinungsbildung, die Käuflichkeit von Abstimmungen und um Diskriminierungen bestimmter Minderheiten durch Mehrheiten. Das, was Spezialistinnen und Spezialisten weitgehend kennen, aber bisher verstreut in Fachzeitschriften und Sammelbänden diskutiert wird respektive wurde, kommt hier in geraffter Form zur Sprache. Das Bild, das gezeichnet wird, ist eher optimistisch. Wenn es Konflikt gibt, reicht die Information um sich korrekt zu entscheiden. Wenn Entscheidungen knapp sind, kann das Kampagnengeld auf das Ja oder Nein bestimmend sein, aber nur dann. Wenn die Behörden zentrierte Kompromisse anbieten, setzen sie sich in aller Regel durch. Selbstredend hätte man sich hier mehr gewünscht, mehr Informationen zur Frage zu erhalten, ob es heute eine Initiativflut gibt. Oder eine Bilanz, was die Gründe dafür sein mögen, dass Volksinitiativen in den letzten zehn Jahren offensichtlich mehr Annahmechancen hatten. Mindestens aus meiner Erfahrung sind das die am gegenwärtig häufigsten diskutierten Themen in der politischen Öffentlichkeit.

Trotz solcher Einwände: Thomas Milic, Bianca Rousselot und Adrian Vatter legen mit dem Band 2 der Reihe “Politik und Gesellschaft in der Schweiz” ein neues Werk der Schweizer Politikwissenschaft vor, das sich schnell zum Standardwerk entwickeln dürfte. Das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern festigt hiermit seinen Ruf, Zentrum der Schweizer Politik- und Abstimmungsforschung in der Schweiz zu sein. Denn nach dem Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen von Wolf Linder und seinen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, das historisch-politologisch vorging, folgt nun eine neue, umfassende Übersicht zur direkten Demokratie und zu Volksabstimmungen in der Schweiz. Forschenden im In- und Ausland, aber auch Studierende, die Formen und Konsequenzen etablierter Bürgerpartizipation untersuchen wollen, ist der Gebrauch des Handbuchs der Abstimmungsforschung dringen zu empfehlen. Ob es das Buch weit darüber hinaus ein Publikum findet, ist unsicher. Denn von der Aufmachung und dem Inhalt ist es akademisch ausgerichtet.

So oder so, das Handbuch Schweizer Politik erführt mit dem neuen Manual ein wertvolle Erweiterung. Zu hoffen ist, dass es nicht nur eine Art Bilanz nach knapp 50 Jahren Abstimmungsforschung in der Schweiz darstellt, sondern auch die Forschung im kommenden halben Jahrhundert anregt, theoretisch fundierte und empirisch gehaltvolle Analysen zum wichtigsten und originellsten Bestandteil des Schweizer Politsystems vorzulegen respektive sich neuen Anwendungsfeldern anzunehmen.

Claude Longchamp

Wahlkampf statt Blindflug – meine Buchbesprechung

Eva Heller, Autorin des Beststellers „Beim nächsten Mann wird alles anders“, war nebenberuflich Kommunikationswissenschaftlerin. Ihre Doktorarbeit, 1985 veröffentlicht, trägt den Titel: “Wie Werbung wirkt: Theorien und Tatsachen”. Entwickelt hat sie damit eine Typologie, wie man Studien zur persuasiven Kommunikation klassieren kann: Zuerst nennt sie die, die auf den Theorien der Theoretiker basieren. Dann folgen die aus der Praxis der Praktiker. Zwei Mischverhältnisse erkannte sie darüber hinaus: Studien von Theoretikern mit Praxis und solche von Praktikern mit Theorien.

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Als ich Mark Balsigers “Wahlkampf statt Blindflug” las, wurde ich unweigerlich an Hellers Buch erinnert. Nicht nur, weil das Thema verwandt ist, vor allem, weil ich mich fragte, wie man das Buch Balsigers in der Hellerschen Typologie charakterisieren könnte.

(…)

Was nun ist das Buch, das Mark Balsiger hier vorlegt? Zuerst, es ist zum Thema der Schweizer Wahlkampf-Kommunikation ziemlich einzigartig. Zu Recht hat es der Stämpfli-Verlag in sein Pro-gramm aufgenommen. Wohltuend wirkt das Lektorat, das sicherlich zum fadengraden Text beigetragen hat. Und gegenüber früheren Handbüchern des Autors wirkt die grafische Erscheinung klar verbessert!

Ohne Zweifel: “Wahlkampf statt Blindflug” ist ein weitestgehend professionell gemachtes Werk, im Lehrbuchformat auf Hoch-glanzpapier. Abwechslungsreich wendet es sich an ein gezieltes Publikum, das im Kern aus Kandidierenden und Kampagnenstäben bestehen dürfte.

Klar ist, dass es im Hellerschen Sinne keine Theorie eines Theoretikers bietet. Dafür hätte es wissenschaftlicher aufgebaut und ge-schrieben werden müssen. Es zeigt aber auch nicht einfach die Praxis eines Praktikers; davon setzt es sich mit einem mittleren Anspruchsniveau wohltuend ab.

“Wahlkampf in der Schweiz”, der Erstling von Mark Balsiger aus dem Jahre 2007, war ein eigentlicher Beitrag zur Wahlkampffor-schung in der Schweiz. Die 26 Erfolgsfaktoren sind unverändert das Beste, was es hierzulande dazu gibt. Heller hätte gesagt, da habe ein theoretisch Interessierter mit den Erfahrungen anderer eine Vorbildstudie verfasst. Von dem hat sich Balsiger heute ent-fernt. Die Hellerschen Tatsachen sind in den Vordergrund gerückt. Am klarsten zeigt sich das, dass er seine sechs Thesen aus dem Startkapitel am Ziel vergessen hat. Eine kritische Würdigung der Vorgaben mindestens aufgrund der gewonnen Einsichten hätte das Werk sicherlich abgerundet. Denn alles, was am Anfang postuliert wurde, wird in diesem Buch nicht eingelöst. So kann man meines Erachtens mit gutem Gewissen bei der Entpolitisierung von Wahlkämpfen im Zeitalter der Repolitisierung genau das Gegenteil vertreten.

Würde Eva Heller noch leben, hätte sie wohl geschrieben: ein Buch eines erfahrenen Praktikers, mit Anspruch auf reflektierte Systematik. Es böte die Basis, weiter gedacht zu werden, um auch für Wahlkämpfe von Parteien unter verschiedensten institu-tionellen und kulturellen Bedingungen dienlich zu werden.

Meine ganze Buchbesprechung hier.

Claude Longchamp