(In)Toleranz gegenüber ImmigrantInnen wissenschaftlich untersucht

Die Berner Politikwissenschafterin Carolin Rapp hat sich in ihrer Dissertation mit der (In)Toleranz gegenüber Immigrantinnen beschäftigt. Sie belegt darin, dass Berohungslagen Intoleranz fördern, regelmässige Kontakte dies verhindern kann, und die Wirkung beispielsweise des Gesundheitswesens ambivalent ist.

Toleranz – ein grosses Wort

Toleranz ist ein grosses Wort. Entstanden ist es mit der Religionsspaltung in Europa. Seine heutige Ausprägung hat es mit der Aufklärung erhalten, denn seither geht es um die Duldung von Ansichten, die man selber nicht teilt. Mit dem Entstehen von multikulturellen Gesellschaften erfreut sich der Begriff einer erneuten Aufmerksamkeit, ebenso wie das Gegenstück, die Intoleranz oder Nicht-Duldung. Das gilt ganz speziell für die (In)Toleranz gegenüber ImmigrantInnen in Einwanderungsgesellschaften.

Wissenschaftlich debattiert wird über (In)Toleranz namentlich in Theologie und Philosophie. Vor allem in den USA haben sich die Sozialwissenschaften dem Thema angenommen. Carolin Rapp, Oberassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern, ist mit ihrer eben erschienenen Dissertation bestrebt, die Debatte auf Europa und insbesondere die Schweiz zu übertragen. Beobachtungsfelder sind dabei Gruppen oder Menschen, die andere stören, wobei man als Gestörte auf zwei Arten reagieren kann: durch Ablehnung resp. durch Duldung in Gesellschaft und Politik.

Theorie und Empirie der sozialwissenschaftlichen Toleranzforschung
Theoretisch sieht die junge Politologin Toleranz aus persönlichen Beziehungen entstehen. Erklärungen des Phänomens vermutet sie zunächst auf der individuellen Ebene. Zentral ist ihr die wahrgenommene Bedrohung. Sie bestimme die Verbreitung von Toleranz. Je mehr man sich ökonomisch oder kulturell bedroht fühle, desto wahrscheinlicher sei man intolerant.

Konkret formuliert Rapp in ihrer bei Markus Freitag und Bettina Westle verfassten Dissertation neun, teils neue Hypothesen, die sie anhand verschiedener Datensätze aus Europa (vor allem Eurobarometer) und der Schweiz (speziell Freiwilligen-Monitor) überprüft. Einfach gesprochen stützen die Tests die Annahmen der Forscherin weitgehend, wenn auch teilweise in modifizierter Form.

Namentlich erfüllt sieht Rapp den grundlegenden Zusammenhang zwischen individuell wahrgenommener Bedrohung und politischer wie auch sozialer Toleranz. Insbesondere anhand der Untersuchung zur Schweiz plädiert sie zwingend für eine Unterscheidung zwischen ökonomischen und kulturellen Bedrohungsgefühlen. Es gilt: Je stärker das eine oder andere ausfällt, umso geringer ist der Grad an Toleranz.

Beeinflusst wird dies zunächst durch das unmittelbare Umfeld. Ein steigender Anteil an MigrantInnen oder an Personen mit nicht-christlicher Religionszugehörigkeit (und hier vor allem an MuslimInnen) in der unmittelbaren Umgebung beeinflusst das Mass an (In)Toleranz.

Rapp sieht vor allem die Annahmen der Intergruppentheorie bestätigt. Demnach führt mehr Diversität zu einem erhöhten Wettkampf um vorhandene Ressourcen, was zu Ablehnung von Fremdgruppen führe und Intoleranz stärke. Dies basiere auf dem Bedürfnis, seinen eigenen sozialen Status durch die Verweigerung bestimmter sozialer und politischer Rechte gegenüber der Fremdgruppe zu schützen.

Nun ist das aber nicht einfach so, sondern auf mehrere Arten mitbeeinflusst, hat die Forscherin herausgefunden. Hier wird die Doktorarbeit besonders spannend. Denn es geht darum, in welchem Masse individuelle Kontakte helfen, postulierte und nachgewiesene Zusammenhänge zu moderieren. Die Autorin untersucht zudem, welchen Einfluss Institutionen und Sozialsysteme haben können.

Denn nun wird den Lesenden des knapp 300-seitigen Buches klar, dass (In)Toleranz nicht einfach strukturell und kulturell determiniert ist, sondern via individuellem Verhalten und kollektiver Regelungen gesteuert werden kann. Zuerst gilt: Mehr Kontakte beispielsweise zu ImmigrantInnen führen zu mehr Toleranz. Dann stimmt es, dass vor allem regelmässige Kontakte erwartbare Effekte aus der Umgebung abbauen können.

Das mag die Freunde der Toleranz freuen und sie bestärken, konkrete Vernetzungsarbeit vor Ort zu propagieren. Mehr Mühe dürften sie jedoch mit dem letzten, zugleich brisantesten Ergebnis der Studie haben. Demnach können auch Institutionen, die ursprünglich auf Einbezug oder Inklusivität ausgerichtet waren, Intoleranz befördern. Konkret: Ein umfassendes Gesundheitswesen zeigt bei steigenden Kosten keine Effekte der Integration von ImmigrantInnen mehr. Vielmehr ist mit Ausgrenzung zu rechnen, denn auch hier nehmen Verteilkämpfe zu.

Würdigung
Ihre Arbeit habe, schreibt die Doktorin, verschiedene Stärken: der Nachweis der Bedrohungslage auf die (In)Toleranz als Erstes; die Moderation des Zusammenhangs durch Kontakte und Institutionen als Zweites. Eine Schwäche ortet sie darin, dass die Kausalität nicht immer klar sei: So ist die Beziehung zwischen Kontakt mit Immigranten und Toleranz ihnen gegenüber stark endogen. Das führt sowohl dazu, dass mehr Kontakte mehr Toleranz bringen als auch, dass Tolerante mehr Kontakte pflegen. Mit den vorliegenden Befragungen könne man nicht entscheiden, was hier Huhn und was Ei sei.

Mir ist die Arbeit von Carolin Rapp vor allem aufgefallen, weil sie ein aktuelles Thema aufgreift, ohne eilfertige Antworten vorzuschieben. Vielmehr wird die Ausbildung von Toleranz und Intoleranz in gemischten Gesellschaften systematisch untersucht, ohne auf eine alles erklärende These hinzuarbeiten. Das braucht in einer Dissertation Mut, steigert aber ihren Wert.

Ich kann es auch so sagen: Dass Kontakte zwischen verschiedenartigen Menschen Distanz zwischen ihnen abbaut, vermutet man in der relevanten Literatur seit 40 Jahren; dass Bedrohungslagen ökonomischer oder kultureller Natur zu Ausgrenzungen führen, hat nicht zuletzt die jüngere Kontroverse über die Personenfreizügigkeit gezeigt. Dass nun auch der Charakter von Sozialsystemen einbezogen werden kann, um das Ausmass an (In)Toleranz wissenschaftlich zu erklären, habe ich vor der Lektüre des Buches von Carolin Rapp so klar nie vorgeführt bekommen.

Oder etwas prägnanter: (In)Toleranz ist tatsächlich ein grosses Wort. Es lohnt sich, sich damit vorbehaltslos vertieft und differenziert zu beschäftigen, wie die Prionierarbeit von Carolin Rapp zur Verwendung politischer Kampfbegriffe in den Sozialwissenschaften zeigt.

Claude Longchamp

Forschungsseminar “Abstimmungsprognosen in der Schweiz”

Abstimmungen interessieren – insbesondere in der direkten Demokratie in der Schweiz. Was im Ausland die Wahlprognosen sind, findet sich hierzulande in Abstimmungsprognosen: dem Wunsch, zu wissen, was ist, bevor es ist.

Wahlprognosen haben sich in Praxis und Theorie weitgehend etabliert. Eigentlich interessiert hier nur noch, wie klein die Differenz ist zwischen Vorhersage und Ergebnis. Auch die wissenschaftliche Literatur hat sich weitgehend auf die Optimierung bestehender Prognosemethoden konzentriert.
Abstimmungsvorhersagen sind komplizierter: Zunächst gibt es weniger Volksentscheidungen als Wahlentscheidungen, sodass das Anschauungsmaterial fehlt. Sodann können kulturelle und strukturelle Einflüsse auf Wahlentscheidung via vergleichender Wahlforschung besser studiert werden, sodass länderspezifischen Vorhersageverfahren entwickelt werden konnten. Bei Prognosen zu Volksabstimmungen muss man sich weitgehend auf die Schweiz beschränken; und selbst da existiert eine Theorie der Abstimmungsentscheidungen, die Erklärungen und Prognosen erlauben würde, erst in Ansätzen.
Die diesbezüglichen Diskussionen hierzulande konzentrierten sich bisher weitgehend die Verwendung von Umfragen zu Prognosezwecken. Die Chancen sind vorhanden, die Risiken auch. Hauptgrund ist, dass es in der Schweiz nicht erlaubt ist, bis zum Abstimmungstag selber Umfragen zu machen, die zu Vegleichen von Umfragen und Ergebnissen führen könnten. Das erschwert es erheblich, Annahmen zu treffen und zu prüfen, wie sich Unentschiedene in der Schlussphase entscheiden. Hinzu kommt, dass nicht alle Abstimmungsthemen im gleichen Masse vorentschieden sind, sodass sich Bestandesaufnahmen zu Stimmabsichten via Umfragen bisweilen besser, bisweilen schlechter eignen.

Trotz solchen Restriktionen hat sich die Abstimmungsforschung in der Schweiz in den vergangenen Jahren entwickelt, auch Abstimmungsprognosen.
Prognoseverfahren sind teilweise unter Ausschluss der Oeffentlichkeit, teils ohne von dieser wahrgenommen worden zu sein, entstanden. Mit meinem Forschungsseminar im Herbstsemester 2014 an der Uni Bern möchte ich versuchen, die Wege der Forschung nachzuzeichnen und weiter zu entwickeln. Ziel soll es sein, verwendete und denkbare Verfahren der Vorhersage über Umfragen hinaus zu testen, um zu gesicherteren Aussagen zu kommen. Wegleitend wird dabei eine Methode sein, die in der Wahlforschung der letzten 10 Jahre für eigentliche Furore sorgte: das combining, bei dem es das Ziel ist, letztlich immer imperfekte Vorgehensweisen dadurch zu perfektionieren, dass man sie nebeneinander verwendet, um Stärken und Schwäche zu erkennen und letztere auszumerzen.

Das Seminar findet im Rahmen des Masters zu “Schweizerischer und vergleichender Politik” statt. Es richtet sich an Interessierte mit guten Kenntnissen von (Schweizer) Volksabstimmungen, zu modernen statistischen Verfahren und der Absicht, dieses Wissen kreativ in ein Forschungsfeld einzubringen, das sich laufend entwickelt. Die Sitzungen finden alle 14 Tage statt, und sie dauern jeweils 4 Stunden, damit genügend Raum für Diskussionen und Uebungen besteht.

Anbei das vorläufige Programm, das in der ersten Augustwoche aktualisiert werden wird.

Programm
Freitag, 19. September 2014 Einleitung • Aufbau und Zielsetzung der Veranstaltung
• Was sind Prognosen allgemein, und was sind Abstimmungsprognosen?
• Combining: verschiedenartige Prognosen miteinander kombinieren, um vorhandene Unschärfen zu vermeiden (Beispiel pollyvote)

Freitag, 3. Oktober 2014:
Prognosen mit Umfragedaten (Referate)
• Möglichkeiten und Grenzen von Repräsentativ-Befragungen optimiert durch Prognosemodule
• Möglichkeiten und Grenzen von nicht repräsentativen Mitmachbefragungen, verbessert mittels Gewichtungen
• Gastreferent: Oliver Strijbis, Blogger “50plus1”

Freitag, 17. Oktober 2014:
Alternative Vorgehensweisen I (Referate)
• Partei- und Verbandsparolen als Prognoseinstrumente? (Schneider 1985 u.a.)
• Medieninhaltsanalysen als Prognoseinstrumente? (FOEG u.a.)
• Kampagnencharakteristika als Prognoseinstrumente? (Jans 2014)
• Geld in Abstimmungen als Prognoseinstrumente? (Weber 2012)

Freitag, 31. Oktober 2014:
Alternative Vorgehensweisen II (Referate) & Skizzierung studentischer Forschungsprojekte
• Expertenbefragungen, Abstimmungsbörsen, Crowd Sourcing
• Vorstellung der Projektideen
• Bildung von Projektgruppen (maximal vier Gruppen)

Freitag, 14. November 2014:
Diskussion von Vorgehen & Problemen der Arbeitsgruppen
• kurze Präsentationen der Projektideen und deren Umsetzung
• Diskussion von Problemen

Freitag, 28. November 2014:
Diskussion der Hauptergebnisse
• Präsentationen der ersten Ergebnisse aus den Projektgruppen
• Diskussion von Problemen

Freitag, 12. Dezember 2014:
Diskussion der vorläufigen Ergebnisse und des weiteren Vorgehens
• Was bewirken Prognosen?
• Diskussionen und Befunde, Folgerungen für die Forschungsethik

Ich freue mich auf die Herausforderung, die im Idealfall dazu führt, dass die ziemlich verfahrene Diskussion über Prognose alleine mit Umfragen endlich aufgebrochen und weiterentwickelt werden kann.

Claude Longchamp

Kurz- und langfristige Betrachtungen zum Gesundheitswesen der Schweiz

Seit 1996 veröffentlicht das Forschungsinstitut gfs.bern jährlich einmal seinen Bericht über das Gesundheitswesen der Schweiz. Gesponsert wird das Projekt von der Interpharma, ermöglich wird mit dem Gesundheitsmonitor ein Instrument, das lang- und kurzfristige Betrachtungsweisen im Verbund erlaubt.

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Das KVG in der Bilanz
Ueber das bestehende KVG wurde Ende 1994 abgestimmt. Eine knappe Mehrheit von 52 Prozent nahm das neue Gesetz an. Eine Allianz aus SP und CVP, verstärkt durch Minderheiten von FDP und SVP verhalf der Vorlage zum Durchbruch bei den StimmbürgerInnen.
In der heutigen Bilanz haben 81 Prozent der Stimmberechtigten einen sehr oder eher positiven Eindruck zum Stand des Gesundheitswesen unter dem Krankenversicherungsgesetz. Die politischen, aber auch regionalen Gräben aus den Zeiten der Einführung sind weitgehend verschwunden. Die 10 Prozent mit negativem Bilanz macht in keiner der untersuchten Gesellschaftsgruppen eine Mehrheit aus.

Zentrale Werte
Die zentralen Werte, welche die SchweizerInnen an ein zeitgemässes Gesundheitswesen richten, sind (Wahl)Freiheit und Qualität. Letzteres ist für genau zwei Drittel gut oder sehr gut. Ohne das würde eine der wesentlichen Stützen des heutigen Gesundheitssystem fallen.
Klar ist, das hochstehende und leistungsfähige Gesundheitssystem in der Schweiz hat ihren Preis. So erstaunt es nicht, dass der Licht- auch eine Schattenseite gegenüber steht Knapp 4 von 10 Befragte geben an, dauerhafte oder gelegentliche Problem mit dem Begleichen der Krankenkassenprämien zu haben. Bei 34 Prozent gilt das für Zahnarztrechnung, und 26 Prozent machen eine entsprechende Aussage zu den übrigen Auslagen für Gesundheit. Nur die Steuern belasten (subjektiv) das Haushaltsbudget mehr.

Einheitskrankenkasse
In genau diesem Schnittfeld zwischen Qualität und Kosten ist die anstehende Volksabstimmung zur Einheitskasse angesiedelt. Würde bereits heute entschieden, wären 49 Prozent bestimmt oder eher dafür, 38 Prozent bestimmt oder eher dagegen. Von einer gesicherten Mehrheit kann man da nicht sprechen. Verstärkt wird der Eindruck durch den Zeitvergleich, nimmt doch die Gegnerschaft zu, und bröckelt die Befürwortung. Die Zustimmung war ursprünglich hinsichtlich der politischen Lager recht unspezifisch. In den letzten 12 Monaten ist das aber rückläufig, denn die vorläufigen Nein-Anteil steigen von rechts her an. Bei der SVP-Wählerschaft ist heute eine absolute Mehrheit dagegen, bei der FDP ist es eine relative. Entscheidend bis zum Abstimmungsausgang ist, wie sich die Meinungsbildung in der Mitte und bei Parteiungebundenen entwickelt.

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Für die Vorlage spricht der Scheinwettbewerb unter den Kassen, der via Werbung einiges kosten, als System aber die Kosten nicht senkt. Gegen die Vorlage eingebracht werde kann, dass eine Einheitskasse der öffentlichen Hand zu einem Serviceabbau führen würde. Ja- und Nein-Seite sind in diesen Themen jeweils mehrheitsfähig.
Noch nicht entschieden, wer in der Kostenfrage obsiegt, Letztlich misstraut man in diesem Bereich den bisherigen Aussagen beider Seite: den InitiantInnen, wonach die Kosten sinken, ihrer Gegnerschaft, nach deren Auffassung sie steigen.Das wirksamste Argument der Nein-Seite ist gegenwärtig, das sich die Grundversicherung in ihrer heutigen Form bewährt hat.

Ganzheitliches Betrachtungsweisen
Genau das nimmt denn auch Bezug auf den Ausgangspunkt dieser Betrachtung zum Gesundheitswesen in der Schweiz. Es überwiegt das Positive, begründet durch Leistungen auf hohem Stand, getrübt durch ein negatives Momentum, den Kosten hierfür.

Claude Longchamp

Datenjournalismus zu Wahlen und Abstimmungen

Im Herbstsemester 2014 biete ich an der Universität Zürich ein Seminar zu Datenjournalismus zu Wahlen und Abstimmungen an. Hier der Anriss.

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“Mit dem immer einfacheren Zugang unter anderem zu politischen Daten kam der Durchbruch für den Datenjournalismus. Daten sind nicht mehr nur Recherchequellen, sondern zentraler Gegenstand des Journalismus, ein für die breite Öffentlichkeit aufbereitetes neues Erzählformat.” So sieht es das Institut für Politikwissenschaft an der Uni Zürich. Begründet wird damit der Schwerpunkt “Politischer Datenjournalismus” – ein neuer, eigenständiger Track im Masterprogramm.

Im Herbstsemester biete ich im genannten Rahmen ein Seminar zu “Mediale Relevanz sozialwissenschaftlicher Forschung” an. Ausgangspunkt sind die zahlreich bestehenden Datenbanken zu Wahlen (BfS, Selects, Wahlbarometer, Smartvote) und Abstimmungen (BfS, Swissvotes, VOX-Analysen, SRG-Trends). Bis jetzt hat man sie vor allem in der wissenschaftlichen (Grundlagen)Forschung verwendet. Neu soll das auch für den politischen Journalismus der Fall sein.

Ein spannendes Beispiel für Datenjournalismus und Schweizer Wahlen ist die Netzwerk-Analyse von Badges der Schweizer ParlamenterierInnen, erstellt von der NZZ. Dank Datenjournalismus könnte man beispielsweise die Datenbank SWISSVOTES zu Schweizer Volksabstimmungen aufwerten.

PolitikwissenschafterInnen werden mit dem Datenjournalismus zu VermittlerInnen zwischen Erwartungen der Medienschaffenden wie RedaktorInnen, aber auch IllustratorInnen einerseits, den Anforderungen der Forschung anderseits. Dafür möchte ich die Teilnehmenden qualifizieren.

Wer keine Erfahrungen mit Datenjournalismus hat, dem rate ich, die Einführung in den Datenjournalismus von Alexandra Stark zu besuchen, allenfalls auch den Kompaktkurs “Datenjournalismus” am MAZ zu belegen.

In meinem Seminar ist die thematische Vorgabe bewusst eng gehalten; denn Volksabstimmungen und Wahlen, meist auf nationaler, gelegentlich auch auf kantonaler Ebene, bilden ausreichende Ansatzpunkte für datenjournalistische Projekte. Methodisch setze ich die wichtigsten Recherchetechniken voraus; dafür geht das Seminar bewusst auf Visualisierung und Storytellings ein. Ziel ist es, als Leistungsausweis medial verwendbare Produkte zu den Wahlen 2015 oder zu anstehenden Volksabstimmungen vorzubereiten.

Das Seminar selber zerfällt in zwei Teile: einem ersten mit einer gezielten Annäherung an den Datenjournalismus für WissenschafterInnen; und einem zweiten mit der Entwicklung und Ausarbeitung von Projekten in studentischen Kleingruppen. Um auch üben zu können, treffen wir uns alle 14 Tage für 4 Stunden am Stück. Im ersten Teil werden verschiedene WissenschafterInnen und JournalistInnen wichtiger Mediengruppen und Forschungsinstitute über ihre Erfahrungen mit Datenjournalismus berichten. Am Ende des Seminars werden ausgewählte Medienschaffende die Relevanz der ausgearbeiteten Projekte beurteilen helfen. Der Bezug zur Praxis ist ganz bewusst gewählt, denn PolitikwissenschafterInnen mit datenjournalistischen Erfahrungen sind heute auf dem Arbeitsmarkt gefragt.

Ein ausgearbeitetes Programm mit Daten, Inhalten, Unterlagen und Gästen des Seminar wird Mitte August vorliegen und auf der StudentInnen-Plattform der Uni Zürich aufgeschaltet sein. Interessenten können sich bei Cloe Jans, gfs.bern (cloe.jans@gfsbern.ch) erkundigen.

Claude Longchamp

Wählen Links-Konservative – und wenn ja, wen und warum?

Links-Konservative wählen weniger häufig als Rechts-Konservative oder Links-Liberale. Wenn sie dennoch eine Partei unterstützen, ist das die SVP, die SP oder die GPS. Welche Gründe ausschlagend sind, zeigt eine neue politikwissenschaftliche Forschungsarbeit der Uni Zürich auf. Hier eine Uebersicht.

Der öffentliche Diskurs über Ideologien bezieht sich weitgehend auf den Neo- oder Rechtsliberalismus, den Rechtskonservatismus und auf den Linksliberalismus. Demgegenüber ist vergleichsweise wenig über den Links-Konservatismus bekannt. Diese Grundhaltung will den Status Quo bewahren und ist auf der klassischen Achse der Parteien links der Mitte angesiedelt. Im Rahmen eines politikwissenschaftlichen Forschungsseminars an der Universität Zürich ist Adrian Wyss genau diesem Weltdeutungsmuster nachgegangen, indem er untersuchte, wie sich dieses Wählersegment jeweils entschieden hat. Letzte Woche wurde seine Arbeit gemeinsam mit denjenigen anderer Bachelor-Studierenden an der Universität Zürich vorgestellt.

Positionierung von Parteien und Parteiwählerschaften in den vier Ideologie-Quadranten
Der von Wyss vorgeschlagene Ansatz der Forschungsarbeit ist zwischenzeitlich gängig: Demnach wird der politische Raum durch zwei Dimensionen, eine ökonomische und eine kulturelle, strukturiert. Die Positionen der Parteien lassen sich in einem entsprechend aufgebauten Fadenkreuz darstellen, sodass vier Quadranten entstehen; je einen für Links- und Rechtsliberalismus respektive für Links- und Rechtskonservatismus. In einem entsprechenden Raum können auch die Wählenden angesiedelt werden und auch ihre Verteilung hinsichtlich ihrer Teilnahme-/Nicht-Teilnahme – respektive ihres Parteienentscheids – kann je Quadrant beschrieben werden.

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Je dichter die roten Punkte in einem Quandranten, umso eher wir an Wahlen teilgenommen.
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Je dichter grüne oder rote Punkte in einem Quadranten, umso eher wird eine Partei des rechten oder linken Pols gewählt.
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Erstes Ergebnis der Arbeit von Wyss ist, dass keine Partei nur in einem Ideologiemuster Wählende hat, sondern immer in mehreren. Allerdings sind Schwerpunkte mit jeweiligen Zentren erkennbar.
Konzentriert man sich einzig auf den wenig untersuchten Links-Konservatismus, so fallen zwei Sachen auf: Einmal ist in diesem Quadranten ein überdurchschnittlich hoher Anteil Nicht-Wählender anzusiedeln – dies vor allem im Vergleich zum Anteil der Teilnehmenden bei den Linksliberalen. Weiter wählen nicht nur Rechts-Konservative, sondern auch Links-Konservative über dem Mittel die SVP, gefolgt von der SP und der GPS.
Die vertiefte Analyse von Wyss zeigt zudem, dass die Schichtzugehörigkeit eines Individuums ein wichtiger Indikator dafür ist, ob man konservativ oder liberal eingestellt ist: Je höher die Schicht, desto liberaler sind die Positionen – während Konservativismus typischerweise vermehrt in tiefen Schichten vorkommt. Wyss vermeldet, dass im linkskonservativen Segment vor allem ArbeiterInnen zu finden sind. Die Wahl einer rechten respektive linken Polpartei hängt von zwei Faktoren ab: Die individuelle Bewertung der Wichtigkeit aktueller Themen kann einen Einfluss auf den Wahlentscheid haben. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, die SVP zu unterstützen, wenn eine Person Migrationsfragen als aktuell und wichtig betrachtet. Entgegen dem, was man vermuten könnte, wählen jedoch Individuen, die primär ökonomische Probleme als relevant wahrnehmen nicht mit einer höheren Wahrscheinlichkeit die SP oder die GPS. Vielmehr sind hier Einstellungsmuster massgeblich, die mit klassisch linken Werten in Verbindung stehen, wie etwa die Präferenz für eine aussenpolitische Öffnung oder einen starken Sozialstaat.

Implikationen für die politische Öffentlichkeitsarbeit
Für Gewerkschaften bedeutet dies, dass ihr Beteiligungspotenzial bei Wahlen (und wohl auch bei Abstimmungen) nicht ausgeschöpft ist, denn bei den meisten ihrer Anliegen vertreten sie Forderungen der Arbeiterschaft. Das ist zwar nicht ganz neu, sollte aber vermehrt reflektiert werden: Die Mobilisierung unterer Schichten ist an sich schwer und diese Schwierigkeit nimmt zu, je komplexer die Anliegen sind. Tendenziell benachteiligt die direkte Demokratie die Repräsentation und Durchsetzung der Interessen unterer Schichten. Stattdessen erscheinen Formen der Verhandlungsdemokratie im Sinne der Sozialpartnerschaft geeigneter, um reale Verbesserungen der Lebensumstände – insbesondere unterer Einkommensklassen – zu erzielen, denn hier stehen sich die VerterterInnen unterschiedlicher Interessen direkt gegenüber.
Auch für linke Parteien hat die Arbeit von Adrian Wyss Implikationen: Themensetzen funktioniert im Wahlkampf vor allem von rechts, via Migration, weniger aber von links via Wirtschaftsfragen. Wichtiger für die Wahl einer linken Partei sind bei Links-Konservativen die mittelfristige Identifikation mit linken Parteien und ihren RepräsentantInnen respektive die längerfristigen Einstellungen. Der Aufbau von glaubwürdigen PolitikerInnen, welche entsprechende Meinungsbilder dauerhaft vertreten, erscheint dementsprechend umso wichtiger. Denn; RepräsentatInnen mit linksliberalen Einstellungen gibt es zwischenzeitlich genügend.

Claude Longchamp

Forschungsseminar von Prof. Dr. Silja Häusermann und Dr. Flavia Fossati, FS 2014, IPW UZH; besprochene Arbeit: Adrian Wyss: Wie wählen Personen mit linkskonservativer Werthaltung – und wer sind sie?, Zürich (IPW) 2014