Die vergessene Agglo

Das Thuner Politforum 2014 beschäftigte sich dieser Tage mit dem Stadt/Land-Unterschied im Kanton Bern (und darüber hinaus). Hier einige meiner Eindrücke aus der Diskussion zum meinem Grundlagenreferat.

Unmittelbarer Anlass für das Thema der gut besuchten Tagung waren die Regierungs- und Parlamentswahlen von Ende Monat. Das Sparpaket, vom mehrheitlich bürgerlichen Grossen Rat in weiten Teilen gegen den Willen des mehrheitlich rotgrünen Regierungsrates verabschiedet, liess das Interesse in den letzten Monaten anschwellen. Und die Volksentscheidung vom 9. Februar 2014, ebenfalls durch eine rural geprägte Mehrheit, die sich gegen die urban bestimmte Minderheit durchsetzte, bestimmt, potenzierte die Aktualität der Problematik gleich nochmals.

Die Diskussionen zu meinem Grundlagenreferat “Vermessungen des Stadt/Land-Konflikts in der Schweiz und im Kanton Bern” am gestrigen Nachmittag haben mich Verschiedenes zum Stand der Dinge gelehrt:

Erstens, im Kanton Bern gibt es unverändert einen Hang, die Existenz eines Stadt/Land-Gegensatzes zu negieren oder ihn zu verniedlichen.

Zweitens, wenn er wahrgenommen wird, herrscht eine vergangenheitsorientierte Sicht auf die Problematik vor: seinen Ursprung habe der Stadt/Land-Graben im den Stadtmauern und dem Stadtgraben, erstellt im 13. Jahrhundert, im 17. Jahrhundert mit den Schanzen verstärkt, im 19. Jahrhundert wieder eingeebnet. Seither gibt es diese Grenzziehung nur noch symbolisch.

Drittens, der existierende Stadt/Land-Gegensatz kennt zwei Formen: einerseits die Aversion der regional gesinnten Bevölkerung, etwa im Oberland, im Oberaargau oder im Emmental, gegenüber zentralistischen Lösungen des Kantons, dominiert von der städtischen Sichtweise, die der regionalen Vielfalt nicht angemessen sei; anderseits der Aerger der nachmaterialistisch gesinnten StädterInnen gegenüber der nationalistisch eingestellten Landbevölkerung, welche neue Entwicklungen blockiere und damit die Rückstände des Kantons verantworte.

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Vor allem aber fiel mir gestern auf, wie die Denkweisen über das Thema stereotyp geblieben sind: In vielen Analysen, gerade von PolitikerInnen und Medienschaffenden, kamen beispielsweise Agglomerationen gar nicht vor. Dabei sind gerade sie heute entscheidend: Die älteren von ihnen sind mit der Industrialisierung entstanden. Nach dem Eersten Weltkrieg wurden neue Wohngebiete rund um Bern gleich eingemeindet – Bümpliz von Bern, aber auch zahlreiche Dörfer von Köniz. Das rasche Wachstum der in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg brachte die bekannten Pendlerströme, heute mit dem öffentlichen Verkehr oder mit via Individualverkehr bewältigt, sodass Agglomerationen eine Wirtschafts- und Wohngemeinschaft bilden.

Der Kanton Bern kennt heute fünf Agglomerationen. Der Grösse nach jene von Bern, gefolgt von der rund um Thun, Biel/Bienne, Burgdorf und Interlaken. Langenthal und Lyss sind, gemäss Definition des BfS, Städte, aber ohne Ballungsgebiet im unmittelbaren Umland. 63 Prozent der BernerInnen wohnen in einer Agglo – 26 Prozent in einem den Zentren und 37 Prozent im Gürtel rund herum. Auf dem Land wohnen 37 von hundert BernerInnen.

Der Kanton Bern ist damit etwas ruraler als die Schweiz. Denn die kennt nur noch 26 Prozent LanschäftlerInnen, 74 Prozent AgglomerationsbewohnerInnen. Am wenigsten davon hat es in den Stadtrepubliken Baselstadt und Genf, aber auch in den agglomeriertesten Kantonen Zürich, Zug und Baselland. Den Gegenpol bilden Appenzell-Innerrhoden, Uri und Obwalden, wo die ganze Bevölkerung 2005 auf dem Land lebte.

In den Agglomerationen herrscht heute am meisten Dynamik. Die Zentrumsgemeinden sind, je bevölkerungsreicher sie sind, umso weiter links und/oder liberal. Schon in den umliegenden Agglomerationsgemeinden ist der Trend uneinheitlich. SVP und BDP sind im Schnitt stärker als die FDP, und sie bieten der SP bei Wahlen die Stirn. Das hat auch mit Umschichtungen in Agglomerationsgemeinden zu tun. In den reicheren unter ihnen wächst die Unterstützung für rotgrüne Parteien, vor allem dort, wo sie sich für neue Infrastrukturen wie den OeV, aber auch Kinderkrippen oder modernes Rezyklieren stark machen. Derweil wächst gerade in den benachteiligten Gemeinden der traditionsreichen Agglomerationsgemeinden der Anteil, der rechts wählt, um sich gegen Ueberfremdung durch Zuwanderung zu wehren.

Eigentlich wären nur schon diese wenigen Hinweise es Wert, sich über vermehrt mit den Phänomen “Agglo” politisch und medial auseinander zu setzen:

. weil sie wachsen und immer wichtiger werden,
. weil sie einen signifikanter teil des gegenwärtigen politkulturellen Wandels ausmachen,
. weil ihre VertreterInnen im Grossen Rat entscheiden, ob sich das urbane oder rurale Bern durchsetzt und
. weil genau sie den Umschwung im Denken über die Personenfreizügigkeit in den letzten Jahren ausgemacht haben.

Immerhin, in einem war man sich an der Tagung weitgehend einig. Kernstädte und Umländer müssen füreinander mehr Verständnis aufbringen. Vielleicht bieten die Regionalkonferenzen hier einen ersten Ansatzpunkt. Das gilt aber auch für Ballungsräume und ländliche Gebiete. Hier braucht es sicher noch einen grösseren Effort als bisher.

Claude Longchamp

Vom Wandel der Macht in der Schweiz

Die Machtverhältnisse in der Schweiz ändern sich. Ein paar Gedanken zum Verbänden, Verwaltungen, Boulevard-Medien und Lobbyisten …

Die erste systematische Analyse der Interessenvermittlung in der Schweiz publizierte der damals junge Soziologe Hanspeter Kriesi. Popularisiert wurde die umfangreiche Habilitationsschrift aus dem Jahre 1980 durch den Publizisten Hans Tschäni mit einem Buch unter dem Titel „Wer regiert die Schweiz?“. Damit setzte ein Perspektivenwandel ein, denn nebst der formellen Systemstruktur interessierten jetzt auch informelle Prozesse. Am Bundeshaus entdeckte man, dass es nicht nur Sitz des Parlamentes war, sondern auch die Form eines Theaters hatte. Das war symbolträchtig: Von der Autorität, die Gesetze erlässt, wandelte sich die Politik zur Bühne, die ihre Einflüsterer kennt.

Typisch hierfür war, dass das Schlagwort vom “Filz” aufkam, und sich bis heute gehalten hat. Gemeint war etwa das Gleiche wie das, was die Politologen den liberalen Korporatismus nennen – den systematischen Einbezug relevanter Gesellschaftsgruppen in die staatliche Willensbildung. Kommuniziert wurde nun, dass dieser nebst Vor- auch Nachteile habe. Die kurzen Wege in die Politik seien nicht für alle gleich kurz, denn bevorteilten Organisationen hätten kürzere, ausgeschlossene viel längere, lautete die verbreitete These. Und Tschäni folgerte spitz: “Filzläuse beissen sich nicht!” Gemeint war damit, dass die Haves ihre Vorrechte gegenüber den Not-Haves verteidigen würden.

Kriesis Hierarchie der Einflussreichen von damals findet sich in der nebenstehenden Uebersicht. Typisch daran war, dass vier der fünf top-gesetzten Organisationen Verbände aus der Wirtschaft waren; sie rahmten den Bundesrat ein, der wiederum von den grossen Parteien gefolgt wurde. Dahinter fanden sich die zentralen Vertreter der Volkswirtschaft: die Nationalbank und das hierfür zuständige Departement.

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Ergebnisse zweier Expertenbefragung zum Thema, wer Einfluss auf politische Entscheidungen ausübe. Dargestellt sind die Nennung einflussreicher Gruppierung bei wichtigen Entscheidungen.

2013 publizierte der Kriesi Schüler Pascal Sciarini die ersten Erkenntniss aus der Replikationsstudie – eine Polit-Generation später: Wieder gaben zahlreiche Beteiligten und Beobachter von Entscheidungsprozessen Auskunft, doch zeichneten sie ein ganz anderes Bild: An der Spitze figuriert nun die SVP, damals noch gar nicht in den Top-Ten. Dahinter finden sich economiesuisse und Bundesrat praktisch gleich auf. Es folgen die anderen grösseren Regierungsparteien, vor den weiteren Verbänden, wie dem Gewerkschaftsbund und dem Gewerbeverband. Der Bauernverband verschwand ganz aus der Liste. Neu dabei sind aber die Finanzer auf Bundes- und Kantonsebene.

Wenn Kriesi seinerzeit den Höhepunkt des liberalen Korporatismus beschrieb, analysiert Sciarini nun seinen Niedergang. Vielleicht würde das Urteil heute noch härter ausfallen, denn nicht nur organisierte Bauern, Gewerbler und ArbeitnehmerInnen haben an politischem Einfluss verloren, auch der Dachverband der Wirtschaft ist zwischenzeitlich von dieser Entwicklung erfasst worden.

Sciarinis Sichtweise auch den Machtwandel in der Schweizer Politik ist interessant: Denn er diagnostiziert nicht einfach ein Vakuum, sondern zwei Gewinner: die professionalisierte Verwaltung und die boulevardisierte Medienlandschaft. Beide haben Ressoucen entwickelt, im auf ihre Art und Weise die Politik anzutreiben und so Einfluss zu nehmen. Im ersten Fall sind Technokraten am Werk, in Gesundheitsfragen, in Energiefragen, in Verkehrsfragen beispielsweise. Befördert wird das Ganze durch die Europäisierung der Politik, auf Sachentscheidungen aus, demokratisch aber schwach legitimiert. Das ist beim zweiten Treiber genau umgekehrt: Den Boulevard-Medien fehlt es nicht an Feedback-Schlaufen, aber an fachlichem Tiefgang. Politik wird auf das reduziert, was der Medienlogik entspricht. Je nach Partei finden sich mehr oder minder viele PolitikerInnen, die genau in dieses Schema passen. Die Asylpolitik gibt eine gute Plattform an, Migrationsfragen auch, und die Populisten interessieren sich ganz besonders für die Behörden.

Ich finde diese These höchst anregend, bin aber nicht sicher, ob sie vollständig ist. Denn die Lobbyisten bevölkern immer mehr die politischen Entscheidungen. Bisweilen helfen sie, dass man die Technokraten besser versteht; das ist ihr Geschäft unter der Woche. Am Wochenende schieben sie, gemeinsam mit der Sonntagspresse den Populismus an. Entwickelt haben sie sich aus dem Ungenügen der Milizpolitik; denn Lobbyisten funktionieren heute wie alles Berufsleute. Sie haben sich selber Standesregeln gegeben, was man darf und was nicht. Sie haben ihre Arbeit auch professionalisiert. Ihre Waffe ist, nicht einfach punktuell intervenieren, sondern ganze Prozesse steuern, ja, sie auch zu initiieren und das bisweilen für Unternehmen, aber auch für den Staat.

Den Stand dieser Dinge beleuchtet sein dieser Woche ein bemerkenswertes Buch, dass von Insidern geschrieben wurde. “Innen- und Aussenpolitik von Unternehmen” heisst es, im Stämpfli-Verlag ist es erschienen, und verfasst haben es LobbyistInnen und Lobbyierte. Sich auf diese Weise kundig zu machen, was heute Sache ist bei der Politikgestaltung, lohnt sich alle Mal – selbst wenn man kritisch gegenüber den Entwicklungen im Machgefüge steht.

Claude Longchamp

Was es ausmacht, dass Abstimmungskampagnen wirken

Abstimmungsforschung ist in der Schweiz in Bewegung geraten. Immer mehr machen sich junge ForscherInnen auf, die neu entdeckte Dynamik der Meinungsbildung zu erforschen. Cloe Jans, Absolventin des Berner Masters für “Schweizerische und vergleichende Politik” gehört mit ihrer Abschlussarbeit dazu.

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Zu Recht zitiert Politikwissenschafterin Cloé Jans in ihrer Masterarbeit ein (veraltetes) Diktum der politischen Kommunikationsforschung. Denn nach Paul Lazarsfeld haben Kampagnen minimale Effekte, die in Richtung Verstärkerwirkung gehen. Doch das war in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Ganz im Gefolge von Hanspeter Kriesi postuliert Cloé Jans nun zwei neue Kampagneneffekte: die Artikulation und die Konversion. Gemeint sind damit die Ansprache tiefer liegender Schichten von Werten statt oberflächlicher Meinungen respektive der Positionswandel vom Ja ins Nein oder umgekehrt.

Das sehe ich ganz ähnlich. Unser Dispositionsansatz postuliert ganz generell, dass Abstimmungsentscheidungen noch viel mehr als Wahlentscheidungen nicht ein für alle Mal feststehen, sondern aus Abstimmungskämpfen entstehen. Nebst der Verstärkung vorläufiger Stimmabsichten kennen wir den Meinungsaufbau beziehungsweise den Meinungswandel. Wir kennen aber auch Mobilisierungswirkungen, die ich als vierte Möglichkeit von Kampagneneffekten beifüge.

Die taufrische Masterarbeit, begutachtet von Professor Adrian Vatter an der Universität Bern, reiht sich ganz in die Neuausrichtung der Kampagnenforschung für demokratische Entscheidungen im 21. Jahrhundert ein. Die erkenntnisleitende These lautet: Mit moderner politischer Kommunikation kann man Wahl- und Abstimmungsergebnisse verändern.
Konkret untersucht wird, erstens, wie sich Ja- und Nein-Anteile verändern und zweitens, was die Gründe hierfür sind. Ersteres wird aufgrund der SRG-Umfragen geleistet. Zweiteres ist eine systematische Eigenleistung der Autorin. Untersucht wurden insgesamt 35 Volksabstimmungen zwischen 2005 und 2011.

Vorbildlich finde ich die Modellierung der Ursachenklärung, weil sie sowohl auf der Makro- und Mikroebene ansetzt. Vorlagen werden nicht per se beurteilt, sondern im Kontext von Kampagnen(-informationen) einerseits, parteien- und themenspezifischen Prädispositionen anderseits. Daraus resultieren individuelle Abstimmungsentscheidungen der Individuen, die aggregiert das kollektive Abstimmungsresultat liefern.
Die Autorin teilt Kampagnen in der Folge in earned and paid media ein, ferner in die Grösse der Koalitionen, die auf beiden Seiten dahinter stehen. Kontrolliert wird dies einerseits aufgrund der Komplexität einer Vorlage, anderseits aufgrund der Relevanz. Letzteres sind die bekannten Daten aus der VOX, derweil ersteres sich auf den Parolenspiegel stützt, Werbedaten und eine eigene Medienanalyse. Die hat die Forscherin basierend auf zwei Elitemedien (NZZ, Le Temps), zwei aus der Regionalpresse (TdG und Tagesanzeiger) und zwei Boulevardblättern (Le Matin und Blick) eigenhändig erstellt.

Die Arbeit listet zunächst die deskriptiven Resultate auf. Nicht alles ist neu, einzigartig sind aber die beschreibenden Resultate der Medieninhaltsanalyse. Diese zeigen, dass sich positive, negative und neutrale Berichterstattungen in etwa die Waage halten. Im Kampagnenverlauf ist die neutrale Berichterstattung recht konstant, derweil der Anteil der positiven und ganz besonders der negativen Berichterstattung von der 6. bis 2. Woche vor der Abstimmung klar zunimmt. Intensitäten und Ausprägungen hängen aber vom Vorlagetypen ab. Obligatorische Referenden erreichen am wenigsten Medienaufmerksamkeiten und wenn vor allem eine positive. Direkte Gegenvorschläge interessieren vor allem zu Kampagnenbeginn, ohne dass sie die Debatte auf die Dauer befeuern. Fakultative Referenden und Volksinitiativen ihrerseits interessieren klar mehr, mit einer Tendenz für mehr Berichte aus der Sicht des Behördenstandpunktes. Schliesslich kennen einfache Vorlagen mehr Medienberichte als komplexe, während der Zusammenhang mit der Relevanz erwartungsgemäss variiert.

Ich erwähne dies ausführlich, weil das so systematisch bisher nie belegt wurde, auch nicht durch die fög Fallstudien. Indes, die Autorin ist ab der geleisteten Vorarbeit enttäuscht, denn ihre Hypothesen zur Medienberichterstattung auf die Meinungsbildung müssen allesamt revidiert werden.

Hierfür hat Cloé Jans sauber dokumentiert 12 Modelle gerechnet, alle mit unterschiedlichen Ausgangslagen, nicht aber mit verschiedenen Ergebnissen. Diese können in ihrer Summe wie folgt zusammengefasst werden:

Erstens, die Grösse der Koalitionen hat einen Einfluss auf die Veränderungen im Ja- wie Nein-Anteil. Zwar sichert das den Abstimmungsausgang nicht zwingend, aber es beeinflusst die Richtung der Meinungsbildung systematisch. Zudem gilt, je kleiner die Einigkeit in der Befürworter-Koalition ist, desto mehr nehmen nicht die Ja-Stimmen, sondern die Nein-Stimmen zu.
Zweitens, die finanziellen Mittel der Gegner einer Vorlage haben einen systematischen Einfluss auf die Veränderung der Stimmabsichten, nicht aber jene der Befürworter. Spricht mehr Geld der Gegner bringt eine Zunahme der Ablehnung, während mehr Finanzen der Ja-Seite keinen zwingenden Einfluss auf die Ja-Anteile haben.
Drittens, die Komplexität einer Vorlage hat zwar einen Einfluss auf die Veränderung der Stimmenanteile, doch ist der nicht robust. Das gilt analog für die Relevanz. Die Nein-Anteile steigen vor allem bei Vorlagen, die aus BürgerInnen-Sicht irrelevant sind.

Die Autorin belässt es nicht bei diesen Basismodellen, denn sie kalkulierte auch die Interaktionen zwischen Erklärungsvariablen ein. So variiert der Einfluss der finanziellen Mittel mit der Komplexität einer Vorlage. Der Zusammenhang von aufgewendeten Mitteln ist bei komplexen Vorlagen klarer gegeben als bei einfachen. Das gilt auch für die Geschlossenheit von Koalitionen. Abweichungen davon haben vor allem dann eine Folge, wenn eine Vorlage vielschichtig ist.

Formuliert wird damit ein einfaches Modell zu Kampagnenwirkungen. Das ist ein erster Schritt, dem bald möglichst weitere folgen sollten. Denn das Modell ist geeignet, auf geprüfter Basis einfache Annahmen schon vor einer Abstimmung zu treffen. Der Parolenspiegel einerseits, die wichtigen Kampagnenaktivitäten andererseits sind die wichtigsten Einflussgrössen. Liegen einmal mehr untersuchte Fälle vor, wird man auch nach Rechtsform der Vorlage unterscheiden oder weitere Erklärungsgrössen identifizieren können. Vorerst bleibt, dass die Relevanz des Themas und die Komplexität der Vorlage zusätzliche Anhaltspunkte liefern. Geeignet sind diese Hinweise, um die Entwicklung in typischen Fällen vorherzusehen. Atypische, wie jüngst die Masseneinwanderungsinitiative wird man damit nicht erklären können.

Schnelle Fortschritte sind zu erwarten, wenn eine Auswertung der 35 bisherigen Fälle mit der besten Regression und Interaktion vorgenommen wird, die zeigt, wie die Retrognose, die nachträgliche Prognose also, ausfällt. Denn der Vergleich dieser Schätzung mit dem Endergebnis zeigt, welche Fälle wie gut erklärt werden können. Dort, wo das wenig vorteilhaft ausfällt, sind neue Arbeitshypothesen angezeigt, wohl qualitativer Natur, was inskünftig auch zu erforschen sein wird.

Vielleicht löst sich dann auch der überraschendste Befund der Arbeit auf. Denn die Medienwirkung muss wohl feiner untersucht werden. Die für mich plausibelste Hypothese ist, dass sie vor allem dann wirkt, wenn der Tenor eindeutig ist. Denn dann ist zu erwarten, dass sich namentlich unschlüssige BürgerInnen an der Medienmeinung auszurichten beginnen.

Das alles sei nicht gesagt, um die Arbeit schlecht zu reden. Vielmehr soll es aufzeigen, dass wir erstmals aufgrund gesicherter Basis in der Lage sind, spezifische Arbeitshypothesen zu entwickeln. Möglich wird dies, weil die Autorin mit der aufgespannten Systematik den Benchmark der Forschung zu Kampagnenwirkungen bei Schweizer Volksabstimmung aufzeigt. Die Datenbasis ist die beste, die ich kenne, und die Datenanalysen sind mit Umsicht gemacht, kurz und knapp interpretiert. Vielleicht, füge ich bei, hätte die Arbeit ein ausgebauteres Fazit verdient. Hier fehlt leider eine systematische Übersicht der bestätigten, modifizierten und widerlegten Hypothesen (um sich dann im Anhang unkommentiert wiederzufinden) und der Bezug zur einleitend zitierten Theorie der Kampagnenforschung ging wohl aus Zeitgründen weitgehend vergessen.

Für mich ist gerade nach der Lektüre der Masterarbeit von Cloé Jans gut belegt, dass die Abstimmungsforschung längst über Paul Lazarsfelds Erkenntnisse hinaus ist. Verstärkt werden vorhandene Stimmabsichten auf alle Fälle. Die Gründe dafür können auch darin liegen, dass tiefer liegende Werthaltungen artikuliert werden. Diese haben aber auch das Potenzial, flüchtige Meinungen zu verändern. Konversion, wie sie hier gemessen wurde, kommt auf jeden Fall vor, als Folge der Willensbildung in Referenzparteien und verursacht durch Kampagnenmittel. Das alles ist vor allem dann zu erwarten, wenn Vorlagen alltagsfern und nur mit Informationsverarbeitung zu bewältigen sind. Nicht ausgelassen werden sollte gerade in der Schweiz auch die Veränderung von kollektiven Stimmabsichten alleine durch eine Veränderung der Beteiligung.

Ich freue mich, dass die Autorin neu unsere Mitarbeiterin ist, denn sie wird die künftige Systematik der Abstimmungsumfragen für die SRG mit ihren Erkenntnissen zu Ursachen von Veränderungen mit Sicherheit bereichern.

Claude Longchamp