Kurzanalyse der Wahlen 2014 in der Stadt Zürich

Gestern habe ich meine Vorlesung im Frühlingssemester an der Uni Zürich zu “Wahlforschung in Theorie und Praxis” mit einer Kurzanalyse der vergangenen Stadtzürcher Wahlen eröffnet. Hier meine Kernaussagen.

“Lagerwahlkampf” war das Stichwort der bürgerlichen Herausforderer bei den Stadt Zürcher Wahlen. Vorbilder waren die jüngsten kantonalen Wahlen in Baselland und Freiburg, wo Mitte/Rechts-Allianzen mögliche rotgrüne Mehrheiten stoppten. Seinen konkreten Ausdruck fand der Lagerwahlkampf in einer gemeinsame Liste von SVP, FDP und CVP für den Stadtrat – “Top 5” genannt. Dahinter standen die Wirtschaftsverbände, die den bürgerlichen Wahlkampf koordinierten und mitfinanzierten. Ihr 6-Punkte-Programm forderte eine Wende zu einer wirtschaftsfreundlichen Staatpolitik.

Politologe Daniel Bochsel formulierte vergangenes Jahre die Strategie für einen Lagerwahlkampf. Majorzwahlen werden, schrieb er am 24. September in der NZZ, durch Allianzbildungen entschieden. Links würden sie regelmässig funktioneren, rechts indessen nicht. Die Wahl von Richard Wolff von der Alternativen Liste habe die Situation jedoch verändert, denn der marxistisch ausgerichtete Vertreter der Alternativen Liste werde als Spaltpilz des rotgrünen Lagers wirken. In Gefahr sei inbesondere ein Sitz der übermässig vertretenen SP. Drei Vorgehensweisen empfahl er dem bürgerlichen Lager:
. Die FDP solle den SVP-affinsten Kandidaten als Herausforderer für das Stadtpräsidium nominieren – konkret Nationalrat Filippo Leutenegger
. Die Bürgerilchen sollten mit einer gemeinsamen 5er-Liste kandideren, was einen Verzicht der FDP auf eine dritte (resp. Frauen-)Kandidatur bedinge.
. Die SVP wiederum müsste Bewerbungen aufstellen, die von FDP- und CVP-Wählende unterstützt werden könnten.
“In diesem Szenario könnten die Bürgerlichen nicht nur den im Frühjahr verlorenen Sitz zurückgewinnen, sondern womöglich gleich die Regierungsmehrheit erobern”, folgerte der Kollege.

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Nun, wir wissen es: Es kam anders! Gewählte wurden sechs VertreterInnen der rotgrünen und drei des bürgerlichen Lagers. In meiner gestrigen Vorlesung am Institut für Politikwissenschaft habe ich begründet, warum Lagerwahlkämpfe zwar eine sinnvoll, aber nicht zwingend erfolgreiche Vorgehensweise sind, um eine politische Wende herbei zu führen. Hier meine vier wichtigsten Argumente:

Erstens, das Konzept der Lagerwahlkämpfe ist auf das deutsche Parteiensystem ausgerichtet. Formuliert wurde es in den 80er Jahren, von Heiner Geissler, dem damaligen Generalsekretär der CDU. Gemeint war, dass es mit dem Aufkommen der Grünen vier Parteien geben werden, zwei rechte und zwei linke. Nicht der Sieg einer Partei sei entscheidend, sondern die Mehrheit des Lagers werde massgeblich. Mit Lagerwahlkampf meinte er, Angriffe der CDU/CSU auf die FDP würden nichts bringen, denn Stimmenwechsel im Lager seien ein Nullsummenspiel. Entscheidend sei, dass unschlüssige WählerInnen nicht den linken, sondern rechten Block wählen würden. Das Schema lässt sich sehr wohl auf die Schweiz übertragen, doch vor dem Hintergrund eines viel fragmentierteren Parteiensystem wirkt es nicht automatisch.
Zweitens, namentlich in den grossen Schweizer Städten funktionieren Lagerwahlkämpfe nur beschränkt, denn die politischen Gemeinsamkeit zwischen SVP und CVP sind gering. Hintergrund ist die Spaltung des bürgerlichen Lagers im Gefolge des Oppositionskurses der SVP unter Einfluss der Politik von Christoph Blocher in den 90er Jahren. Mit dem Verlust des 2. Bundesratsmandates ist die CVP in die Mitte gerückt, und eine sozialliberal ausgerichtete Regierungspartei geworden. Im aktuellen Wahlkampf kam das am besten zum Ausdruck, dass die CVP der Stadt Zürich Filippo Leutenegger als Stadtpräsidentskandidat nicht unterstützte und bei dieser Wahl Stimmfreigabe beschloss.
Drittens, bei Volksabstimmungen hat sich die Stadt Zürich in den vergangene Jahren nicht nach rechts bewegt. Vielmehr verfolgt die Mehrheit der StimmbürgerInnen einen noch akzentuierteren linksliberalen Kurs. Ein verbreitetes, inhaltlich begründeten Wendemoment gibt es in der grössten Schweizer Stadt nicht. Dafür sprachen auch die Trends bei der letzten Stadtratswahl: Aus dem bürgerlichen Lager legte einzig die FDP 2010 leicht an Wählendenstärke zu, derweil die CVP und SVP leichte Verluste hinnehmen mussten. Neu aufgemischt wurde 2010 die Stadtzüricher Parteienlandschaft in der Mitte, namentlich durch die Formierung der GLP, die für enttäuschte WählerInnen von FDP, SP und GPS attraktiv war. Doch die GLP ging eigene Wege, liess sich in keinen Block einbinden.
Viertens, hinter dem 6-Punkte-Programm der gemeinsamen bürgerlichen Liste wurde klar, dass es zwischen Gerold Lauber und Roland Scheck erhebliche Unterschiede in der Position habe. Wie Thürler auch, politisiert Lauber leicht links seiner zur Mitte neigenden Partei. Eine klar alternative Position hierzu nahmen die drei anderen Bewerbungen ein. Die innere Kohärenz zwischen Bisherigen und Neuen fiel damit gering aus, was der Glaubwürdigkeit nicht förderlich war.

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Meine These bei Majorzwahlen ist differenzierter als jene von Daniel Bochsler. Sie berücksichtigt drei in der Schweiz wichtigere Eigenheiten des Wahlverhaltens in Majorzwahlen:

Einmal, bis wir bisherige Regierungsmitglieder abwählen, müssen sie erhebliche Fehler gemacht habe. Ansonsten beflügelt der Bisherigen-Bonus ihre Wiederwahl.
Sodann, wenn Bisherige zurücktreten haben die KandidatInnen deren Partei, die grössten Wahlchancen, solange ihre Parteien keinen erheblichen Fehler gemacht haben.
Schliesslich, in Exekutiven werden Persönlichkeiten gewählt, die über einen breiten Bekanntheitsgrad verfügen, resp. sich durch die politische Arbeit einen überparteiliche Anerkennung erarbeitet haben.
An vierter Stelle erst rangiert bei mir die Bildung einer mehrheitsfähigen Allianz, so wie sie das Konzept des Lagerwahlkampfes formuliert.

Mit anderen Worten: Wahlresultate bei Exekutivwahlen sind weniger schematisch als es Ueberlegungen aufgrund von Allianzbildungen nahelegen: Die Auseinandersetzungen zu Wahlen ins Präsidium prägen die Wahlchancen mit, ebenso die Persönlichkeit der Kandidierenden.
“Top5” hatte gerade da Schwächen: Beide SVP-KandidatInnen hatten zu wenig überparteiliche Ausstrahlung. Die kam nur Filippe Leutenegger zu. Für den Gemeinderat reichte das, fürs Stadtpräsidium nicht. Quereinsteiger ohne Exekutiverfahrungen haben es schwer, auf Anhieb eine Regierung übernehmen zu können.
Auf rotgrüner Seite waren die Schwächen geringer. Sicher, Richard Wolff exponierte sich im Wahlkampf mit ungeschickten Aussagen erheblich. Das zeigte handwerkliche Unerfahrenheit im Wahlkampf; Fehlleistungen im Amt blieben aber weitgehend aus. Die Grünen riskierten namentlich mit ihrer Nomination von zwei Männern viel, denn die Mehrheit der Wählenden ist weiblich und hätte für die zurücktretende Ruth Genner eine Frau als Nachfolge stärker unterstützt. Schliesslich die SP: Sie musste vor allem wegen ihren Neulings, Raphael Golta zittern; im Wahlkampf machte er aber keine Fehler, was seine Ticketwahl sicherte.

Beobachtet haben ich das alles aufgrund von 5 Szenarien, die vor dem Wahlkampf alternativ zum Konzept des Lagerwahlkampfes aufgestellt hatte. Der FDP der Stadt Zürich habe ich die Quintessenz an ihrem Dreikönigstreffen vom 13. Janaur 2014 vorgestellt. 6:3 sei das wahrscheinlichste Szenario, wobei die FDP ihren zweiten Sitz zurückerhalte, ohne sicher zu sein auf wessen Kosten der Sitzgewinne gehe Und die Stadt Zürich berhalte ihre Präsidentin, waren meine Schlussfolgerungen.

Claude Longchamp

Wahlforschung in Theorie und Praxis

Nächste Woche beginnt meine Vorlesung an der Universität Zürich. Am Institut für Politikwissenschaft unterrichte ich “Wahlforschung in Theorie und Praxis”. Eine Uebersicht, um was geht!

Die Lehrveranstaltung startet mit einer Analyse der Wahlen 2014 in der Stadt Zürich: dem Resultat im Stadtrat und im Gemeinderat; der Affinität der KandidatInnen; der Zusammensetzung der Wählerschaft; den Trends seit den 90er Jahren, und den Prognosen, die gemacht wurden. Das soll zeigen, was amtliche Wahlstatistik kann (und nicht kann); was wissenschaftliche und journalistische Instant-Analysen vor- und nach der Wahl zur Erhellung des Wahlgeschehens leisten; und wie eine gute Wahlforschung in der grössten Schweizer Stadt inskünftig aussehen müsste.

Die anschliessende Vorlesung im Frühlingssemester 2014 baut auf, ist aber systematischer Natur. Zuerst geht es um Theorien in der Wahlforschung: Die Teilnehmenden sollen lernen, was Fächer wie Politologie, Soziologie, Oekonomie, Psychologie und Medienwissenschaft dazu beigetragen haben. Dann werde ich mich den hauptsächlichen Erkenntnisse der Wahlforschung in der Schweiz zuwenden: bei Nationalratswahlen, bei Ständeratswahlen und in Sachen (tiefe, schwankende und steigende) Wahlbeteiligung. Ich frage auch, wie gut Wahlen heute funktionieren, angesichts der verschiedenartigen Populismen in ihrem Umfeld. Schliesslich wende ich mich der Wahlvorhersage zu, welche Tools es gibt, und was sich 2015 verändern könnte. Am Ende geht es um die Rolle der PolitologInnen bei Wahlen.

Der Kurs ist für Bachelor-Studierende gedacht. 56 Anmeldungen hat es schon. 60 werden zugelassen. Es hat also noch einige Plätze …

Das genaue Programm:

21.2.2014: Erstanalyse der jüngsten Wahl in der Stadt Zürich: Stadt- und Gemeinderat 2014
28.2.2014: Wie Wahlsysteme Parteiensysteme beeinflussen
7.3.2014: Wenn alte und neue Konfliktlinien die Angebote bestimmen
14.3.2014: Vernünftig Wählen? Wenn informierte WählerInnen entscheiden (würden)
21.3.2014: Wahlen als Ritual? Wenn die Sozialisation die Wahlentscheidung (vor)bestimmt
28.3.2014: Wahlen in der Mediendemokratie: Wenn die Vorstellung von Parteien und KandidatInnen Wahlausgänge beeinflusst
4.4.2014: Analyse der Nationalratswahlen 2011: Was die Wahlforschung in der Schweiz weiss
11.4.2014: Analyse der Ständeratswahlen 2011: Was die Wahlforschung in der Schweiz wissen könnte
2.5.2014: Beteiligungsprofile: Wie die Teilnahme die Wahlchancen der Parteien beeinflusst
9.5.2014: Populistische Wahlkämpfe: Bedrohung der Demokratie oder nützliches Korrektiv?
16.5.2014: Wahlprognosen: Wie man sich macht, und wann sie was aussagen
23.5.2014: Von der Wahlforschung in die Wahlpraxis: PolitologInnen als KandidatInnen, ParteimitarbeiterInnen und Medien-AnalytikerInnen
30.5.2014: Sie fragen, ich antworte? Prüfungsvorbereitung

Freue mich!

Claude Longchamp

Von wegen Dichtestress

Die Entscheidung ist gefallen: Volk und Stände haben die SVP-Initiative “Gegen Masseneinwanderung” angenommen. Das Ständmehr war klar, 14,5 Kantone waren dafür. Das Volksmehr war knapp, 50,3 Prozent betrug der Ja-Anteil. Die Stimmbeteiligung war überdurchschnittlich. Sie lag bei 56 Prozent. Doch was kennzeichnet Befürworter- und GegnerInnen?

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Quelle: BfS

Drei Fehlannahmen

In den ersten Kommentaren war von Dichtestress als Ursache für das Ja die Rede. Nur, stimmt diese Begründung. Unsere Analyse lässt Zweifel aufkommen. Denn je dichter die Bevölkerung in einem Kanton oder Bezirk zusammenlebt, desto geriner war die Zustimmung zur SVP-Initiative. Ueber dem Mittel war sie, wo die Bevölkerungsdichte gering ist.

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Quelle: @GrandjeanMartin

Auch eine zweite Vermutung, die man häufig hören konnte, trifft nicht zu: Die Zustimmung korreliert zwar mit dem Ausländeranteil, aber nicht positiv, sondern negativ. Es gilt: Je höher der Ausländeranteil ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung der Initiative “Gegen Masseneinwanderung”. Einzig im Tessin gibt es Hinweie für den erwarteten Zusammenhang.

Eine gewisse Erklärungskraft kommt dem Bevölkerungswachstum zu. Doch auch hier sind die Zusammenhänge negativ. In jenen Gebieten, die in den letzten 10 Jahren mehr als im Mittel gewachsen sind, bleibt die Zustimmung unterdurchschnittlich. Über dem Mittel ist sie in wachstumsschwachen Gebieten ausgefallen.

Es mag sein, dass mit der Kampagne Gefühle entstanden oder artikuliert worden sind. “Dichtestress” oder “Überfremdung” sind letzlich subjektive Faktoren, geprägt von kulturellen Selbstverständnissen. Je nachdem reagiert man auf vergleichbare Verhältnisse ganz anders. Eine brauchbare Analyse des Abstimmungsverhaltens ergibt das nicht.

Erstens, Urbanisierungsgrad

Alle drei überraschenden Ergebnisse unserer Analyse haben mit der effektiv wichtigsten räumlichen Erklärungsgrösse dieser Abstimmung zu tun: dem Urbanisierungsgrad. Je höher dieser in einem Kanton oder einem Bezirk ist, desto grösser war die Opposition gegen die Vorlage. Auch hier kann man es umgekehrt formulieren: Je weniger Menschen in einem Kanton oder in einen Bezirk im urbanen Umfeld leben, desto günstiger ist das Resultat für die SVP-Initiative.

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Quelle: gfs.bern

Wie eine Übersicht des Bundesamtes für Statistik zeigt, die heute vorgelegt worden ist, wächst der Stadt-/Land-Gegensatz in Europa-Fragen wieder. Am geringsten war er 2009, bei der definitiven Einführung der Personenfreizügigkeit. An den Rekordwert, bei der EWR-Entscheidung 1992 ermittelt, kommt er aber nicht heran.

Das Typische an der aktuellen Situation ist nicht, dass sich Zentrumsgemeinden und Landgebiete stark unterschieden. Vielmehr sind die Agglomerationen und die isolierten Städte nicht mehr den Zentren nöher, dafür dem Land. Auch sie haben im Mittel für die Initiative gestimmt. Und genau das hat den Umschwung der Mehrheiten bewirkt.

Zweitens, Sprachregionen

Gewachsen ist auch der Rösti-Graben. Mitte der Nuller-Jahre des 21. Jahrhunderts war er in der Europa-Frage fast verschwunden, am 9. Februar 2014 klaffte er erneut auf. Auch hier gilt allerdings, das Ausmass bleibt geringer als bei der EWR-Entscheidung.

In der italienischsprachigen Schweiz finden sich die oben beschriebenen Unterschiede nicht, denn der Konsens gegen die Personenfreizügigkeit ist hier gesellschaftlich und politisch sehr hoch. Die Gräben zeigen sich dagegen in der Romandie und in der deutschsprachigen Schweiz klarer. In der deutschsprachigen Schweiz ist, anders als in der Romandie, der namentlich Urbanisierungsgrad von Belang. Denn die Romands waren gegen die Initiative, ob sie auf dem Land, in Agglomerationen oder in einem Zentrum leben.

Drittens, Politlandschaften

Die Zustimmung zur Initiative hing in erster Linie vom Anteil SVP-Wählender ab. Grösser ist die Ablehnung vor allem dort, wo die Linke stark ist, namentlich auch die GPS. In CVP- und FDP-Gebieten fällt das Ergebnis insgesamt recht nahe dem nationalen Mittel aus. Das spricht für regional vorhandene Ausstrahlungseffekte der SVP auf andere Parteiwählerschaften.

Ganz anders die Lage in den urbanisierten Gebieten. Je linker sie sind, desto stärker war das Nein zur Zuwanderungsinitiative. Das gilt auch für die übrigen Gebiete, ausser den ländlichen. Dort gibt es keine verstärkte Ablehnung, wo die SP stärker ist.

Damit versteckt sich ein Rechts-/Links-Gegensatz hinter Zustimmung und Ablehnung der Initiative gegen Masseneinwanderung.

Aktuelle Veränderungen

Wenn man die Veränderungen in der Ablehnung der Personenfreizügigkeit seit 2009 betrachtet, differieren die Ergebnisse. Dies hat zwei Gründe: Zunächst hat sich die Kritik an offenen Grenzen dort stärker als sonst vermehrt, wo die SVP besonders stark ist.

Das findet sich teilweise auch in den in Gebieten mit überdurchschnittlichem Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf. Gerade hier bricht einiges um. Die Personenfreizügigkeit verliert an Support.

Vorläufige Bilanz

Die bisherigen Entscheidungen zu den Bilateralen sind immer positiv ausgegangen. Sie wurden im Geiste der liberalen Öffnung entschieden. Eine Allianz aus Bundesrat, Regierungsparteien und Sozialpartnern hat der scwheizerischen Europa-Politik zum Durchbruch verholfen.

Erstmals sind die Mehrheiten nun umgekehrt. Gesiegt hat der Konservatismus, entstanden in der SVP. Nun ist er, nach Minarett und Ausschaffung auch bei der Personenfreizügigkeit, mehrheitsfähig geworden.

Claude Longchamp

Wie sich die Mobilisierung auf die Entscheidung zur Zuwanderungsinitiative ausgewirkt hat.

Die Ja-Seite zur Volksinitiative “Gegen Masseneinwanderung” hat von der Mobilisierung mehr profitiert als die Gegnerschaft.

Der Ausgang der Entscheidung zur Volksinitiative “Gegen Masseneinanderung” war knapp. 50,3 Prozent waren dafür, 49.7 Prozent dagegen. Beteiligt haben sich rund 56.5 Prozent der Stimmberechtigten.

Ein wichtiges Kennzeichnen der Entwicklungen im Abstimmungskampf die Mobilisierung. Konkret, die frühen Beteiligungsabsichten, Ende Dezember 2013, lagen bei 41 Prozent der Stimmberechtigten. Der Wert entwickelte sich in der zweiten Befragungswelle auf 47 Prozent. Schliesslich kam er auf die besagten 56 bis 57 Prozent zu liegen.

Der erste Schluss lautet: Das Thema hat bewegt, es hat zu einer ausserordentlichen Beteiligung geführt. Der zweite heisst: Die Schlussmobilisierung nach dem Trend zu vermehrter Teilnahme nochmals beschleunigt.

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Lesehilfe: Die Grafik gibt die Umfragewerte bezogen auf Stimmberechtigte wieder, weil nur das die Mobilisierungseffekte aufzeigt.

Nun kann man, wenigstens im Nachhinein, einigermassen gesichert abschätzen, wer davon profitiert hat. Die Antwort hier ist eindeutig: die Initiativ-Seite. Umgerechnet auf Stimmberechtigte machte sie in der ersten Befragung 15 Prozent aus, in der zweiten 20. Am Ende waren es zwischen 28 und 29 Prozent. Die Steigerung ist erheblich, und sie verlief exponentiell.

Davon stellt man bei der Gegnerschaft kaum etwas fest. Ihr Anteil lag am Anfang bei 23 Prozent, dann bei 24 Prozent und schliesslich bei 28. Das ist nur leicht beschleunigter Prozess auf das Ende hin.

Ein solcher Mobilisierungsverlauf ist typisch eine Protestabstimmung. Medienumfelder und Kampagnen änderten das Klima. Was bis im November 2013 weitgehend ruhig erschien, entwickelte sich vor allem 2014 zu einem Lauf gegen die bisherige Politik.

Einen Schluss darf man aus dieser Grafik jedoch nicht ziehen: Es heisst bei weitem nicht, dass diejenigen, die anfänglich nicht beteiligen wollten, keine Meinung hatten. Doch sahen sie, vor allem die KritikerInnen der Personenfreizügigkeit, nur wenig Chancen, die Mehrheiten beeinflussen zu können. Die bisherigen Entscheidungen sprachen dagegen. Genau das hat sich mit dem Abstimmungskampf geändert, zwischen der 1. und 2. Welle der Befragung.

Dafür spricht, dass wir in beiden Befragungswellen unter den Nicht-Teilnahmewilligen stets mehr BefürworterInnen hatten als unter den Teilnahmewilligen.

Claude Longchamp

Die Szenarien für die heutige Entscheidung über die Zuwanderungsinitiative

Mit welchen Effekten auf das Abstimmungsergebnis ist zu rechnen, wenn die Ja-Seite zur Zuwanderungsintiative besser mobilisiert resp. wenn beide Seiten gleich gut mobilisieren? Eine Übersicht aufgrund der SRG-Umfragen.

Erinnern wir uns: Vor 10 Tagen hielten wir aufgrund der zweiten SRG-Umfrage fest: „Starke Mobilisierung wegen Zuwanderungsinitiative. Ja-Lager legt zu, Nein-Seite nimmt ab.“ Belegt wurden diese Aussagen durch den Vergleich beider Trendbefragungen. Die erste wurde im Schnitt am 27.12.2013 erstellt, die zweite am 21. Januar 2014. Dazwischen lagen 25 Tage. Bis zum Abstimmungssonntag waren es nochmals 18 Tage.

Die letzte Befragung erfolgt so viel vor dem Abstimmungssonntag, weil in der Schweiz 10 Tage davor keine neuen Umfragen publiziert werden dürfen. Durchführung, Datenanalyse, Interpretation und mediale Vermittlung nehmen eine Woche in Anspruch.

Nunrschon deshalb sind die letzten Umfragewerte Zwischenergebnisse, keine punktgenauen Prognosen!

Diesmal kommt namentlich die Mobilisierung hinzu, aber auch der last swing bei den Unentschiedenen. “To uncertain to call” ist die einzige richtige Schlussfolgerung.

Was ist seither geschehen? In der letzten Befragung bekundeten 47 Prozent, sich beteiligen zu wollen. Nun sprechen die Auswertungen aus dem Kanton Genf für eine nationale Beteiligung von 54 Prozent – und mehr. Das sind nochmals 7 Prozentpunkte mehr als in der letzten Umfrage, oder sogar noch mehr.

Eine solche Veränderung ist unüblich; normal ist, dass die Beteiligung nach der letzten Befragung um 2-3 Prozentpunkte steigt.

Das spricht zunächst dafür, dass es bis in die letzten Woche hinein einen kräftigen Mobilisierungsschub gegeben hat. Da wir keine Informationen haben können, wie sich die Stimmen verteilen, sind Szenarien die sinnvollste Analysemöglichkeit:

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In der obigen Grafik sind die Prozentangaben einerseits bezogen auf Stimmberechtigte resp. Teilnahmewillige.

Die erste Variante des Mobilisierungsszenario, “Protest-Votum” genannt, geht davon aus, dass die asymmetrische Mobilisierung aus dem Januar 2014 bis zum Abstimmungstag fortsetzt. Die Erhöhung der Beteiligung bis zum Abstimmungstag begünstigt nochmals die BefürworterInnen, und sie schwächt erneut die Gegnerschaft. Modellierungen diese Prozesses zeigen, dass es ein 46 zu 48 am wahrscheinlichsten ist, mit 6 Prozent Unentschiedenen. Nun geben die Unschlüssigen den Ausschlag. In der hier entwickelten Logik gehen sie mindestens zur Hälfte ins Ja-Lager. Diese gewinnt die Abstimmung mit 50-52 Prozent. Das Ständemehr ist auf jeden Fall gegeben.

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Die Prozentangaben sind einerseits bezogen auf Stimmberechtigte resp. Teilnahmewillige.

Das zweite Szenario, “Gegenreaktion” bezeichnet, unterstellt, dass es eine Gegenreaktion zum Schub gibt, der sich im Januar abzeichnete. Die Schlussmobilisierung beider Seiten fällt deshalb annähernd ausgeglichen aus. Nahmhafte Verschiebungen der Ja- und Nein-Anteile ergeben sich nicht mehr. Die Extrapolation legt hier ein 49 zu 44 der Initiativ-GegnerInnen nahe. Massgeblich sind auch in dieser Perspektive die Unschlüssigen, doch gehen sie, wie meist bei Initiative, im Zweifelsfalle häufiger ins Nein als in Ja. Finale Zustimmungswerte von 45 bis 50 Prozent sind dann wahrscheinlich, und die Frage des Ständemehrs erübrigt sich.

Beide Szenarien sind als Extremfälle konzipiert, wahrscheinlich ist eine Mischung, fraglich allerdings in welchem Verhältnis.

Einen verbindlichen Entscheid zu treffen, welches Szenario zutrifft, kann man erst im Nachhinein treffen. Bis jetzt gibt es nur Beobachtungen. Zutreffend ist, dass es werberisch eine Schlussoffensive der Gegner gab. Gebremst wurde sie dadurch, dass Wirtschschaftsminister Johann Schneider-Ammann als Kommunikator zusehends ausfiel.

Noch schwieriger ist es, die Initiantinnen einzuschätzen, denn sie hüllten sich in Schweigen, wie sie am Schluss agieren würden. Die Online-Medien blieben eine Plattform für sie, während die Leitartikel der meisten Wochen- und Tageszeitungen dagegen hielten.

Die EU ihrerseits verhielt sich wie erwartet: Sie machte klar, dass die Personenfreizügigkeit kaum verhandelbar sei, auch wenn es nicht zu einer sofortigen Kündigung der Bilateralen kommen würde. Unerwartet verhielt sich dafür die Ex-Aussenministerin der Schweiz, Micheline Calmy-Rey, die ihr Buch ankündigte, in dem sie den EU-Beitritt forderte.

Claude Longchamp

Was uns die Beteiligungszahlen heute schon sagen – und was nicht!

Die Beteiligung am kommenden Wochenende wird einen Spitzenwert erreichen; mit weiterhin unsicheren Folgen. Eine Auslegeordnung.

Die politikwissenschaftliche Forschung in der Schweiz kennt das Phänomen seit 25 Jahren. Die Stimmberechtigten der Schweiz können bezogen auf Volksabstimmungen in drei Gruppen unterteilt werden: Die regelmässig Teilnehmenden, die konstant abwesenden und die selektiv Stimmenden. Erstere machen 27 bis 30 Prozent aus; sie ging beispielsweise von einem Jahr, als wir über das Tierseuchengesetz entschieden: Beteiligung 27 Prozent. Nie abstimmen gehen 20-23 Prozent. Nicht einmal bei der EWR-Entscheidung 1992 waren sie dabei; damals nahmen 78 Prozent teil. Alles andere sind selektiv stimmenden BürgerInnen. Vereinfacht gesagt, gehört die Hälfte dazu.

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Nun liegt die mittlere Beteiligung bei eidg. Volksabstimmungen seit längerem bei rund 44 Prozent. Mit anderen Worten: konstant und gelegentlich Teilnehmende mischen sich im Verhältnis von 2:1. Steigt die Beteiligung eindeutig über 50 Prozent ändert sich das Verhältnis bis zu einem Quotienten von 1:1. Mit dieser Verschiebung geht eine wesentliche Verschiebung einher: Es nehmen die parteipolitisch ungebundenen BürgerInnen zu. Abstimmen nach Parteiparolen wird unwichtiger. Entscheidungen in der Sachfrage, aber auch aus Protest nehmen zu. Total: Alles wird unvorhersehbarer. In den USA hat man dafür einen Begriff: “normal vote situations” seien gut einschätzbar, “special or critical vote situations” dagegen nicht. In der Schweiz kommt hinzu, dass man in den letzte 10 Tagen keine Umfragen mehr publizieren darf, um genau solche Situationen analysieren zu können.

Damit es zu einer speziellen Situation kommt, braucht es eine polarisierendes Thema: Am besten eignen sich umstrittene Beitritte zu inter- oder supranationalen Organisationen.,denn sie sich hochgradig werthaltig. Typische Beispiele hierfür waren die Volksabstimmungen über den EWR-Beitritt, den UNO-Beitritt und der (abgelehnten) sofortigen EU-Beitritt. Aber auch die Abkommen von Schengen/Dublin und insbesondere die beiden bisherigen Abstimmungen über die Vignetten-Frage gehören dazu. Denn sie beinhalten einen zweiten Mobilisierungsgrund: sicht- oder erwartbare Folgen im Alltag der Menschen.

Genau das hat auch bei der Volksinitiative gegen Masseneinwanderung in der öffentlichen Meinung gespielt: Noch vor zwei Monaten war das Thema weitgehend eine wirtschaftspolitische Angelegenheit mit europapolitischen Konsequenzen. Es ging um die Wiedereinführung des Kontingentssystem, das vor der Personenfreizügigkeit Gültigkeit hatte. Gemäss SRG-Umfrage wollen sich 41 Prozent der StimmbürgerInnen beteiligen – ein Normalwert mit einer Normalbürgerschaft. Seither hat sich die Debatte stark entwickelt. Mit dem Abstimmungskampf bekam die Vorlage ihre zweites Gesicht: die Migrationsdebatte, bei der Lebensgefühle und Abstiegsängste eine Rolle spielen, umrahmt vom Vorwurf, die Behörden hätten die Kontrolle über die Zuwanderung verloren.

Das hat Bewegung in die Beteiligungsabsichten gebracht: Die Aufmerksamkeit für das Thema stieg. In der zweiten SRG-Befragung, im Schnitt 18 Tage vor dem Abstimmungssonntag gemacht, waren es bereits 47 Prozent, die sich beteiligen wollten. Extrapolationen aufgrund der täglichen Zwischenstandsmeldungen aus dem Kanton Genf lassen für den kommenden einen nationalen Teilnahmewert von 54-55 Prozent erwarten. Die 2. SRG-Befragung trug denn auch genau die Kennzeichen dieser Entwicklung: 90 Prozent Ja an der SVP-Basis, 50 Prozent bei den Parteiungebundenen, (noch) anhaltende Ablehnung bei den ParteigängerInnen ausserhalb der SVP.

Man kann nun frohlocken, und von einem gut abgestützten Entscheid schwärmen. Dem ist tatsälich so. Doch gilt auch, dass die Unvorhersehbarkeit der Komponenten, die zum Entscheid führen, gestiegen ist.

Sicher, wir sind weit weg vom Spitzenwert bei der EWR-Entscheidung. Doch liegen wir im Bereich der hohen Beteiligungsraten bei Volksabstimmungen der Schweiz. Es stehen sich zwei Grundpositionen gegenüber: die Angst sich mit einem Ja in Europa ganz zu isolieren auf der einen Seite, die Angst, die Entwicklung bei der Zuwanderung laufe ganz aus dem Ruder. Doch prägt das vor allem die fest Entscheidenen, die teilweise Entschiedenen nicht wirklich.

Vor einer Woche sprachen wir davon, dass das Elektorat vor allem bei misstrauischen BürgerInnen gewachsen sei. Was der SVP bei institutionellen Fragen regelmässig bei institutionellen Frage nicht gelingt, wie die Entscheidung über die Volkswahl des Bundesrates zeigte, schafft sie bei gesellschaftspolitischen Kontroversen immer wieder: Selbst aus der Alle-gegen-die-SVP-Position heraus kann sie ein ein Thema, das vernachlässigt wurde, gewinnt so die Medienaufmerksamkeit für sich, und mobilisiert sie die Bürgerschaft. Das war bei der Asylinitiative der Fall, der Minarettsinitiative so, und es spielte auch bei der Ausschaffungsinitiative.

Nun sind nicht all diese Volksinitiativen der SVP oder ihr nahestehender Kreise angenommen worden. Eine fixe Regel gibt es nicht, weil zu viele dynamische Faktoren das Ergebnis bestimmen: to uncertain to call!

Claude Longchamp

Ueberdurchschnittliche Mobilisierung im Kanton Genf

Gestern Dienstag hatten, dem 5. Tag vor der Entscheidung über die SVP-Initiative “Gegen Masseneinwanderung”, hatten 39,5 Prozent der Stimmberechtigten abgestimmt. Das sind überdurchschnittlich viele.

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Seit 2010 publiziert die Staatskanzlei des Kantons Genf Tag für Tag den Verlauf der brieflichen Stimmabgabe bei eidgenössischen Volksabstimmungen. In keinem anderen Kanton kann man so minutiös und zuverlässig den Stand der Beteiligung beobachten und hochrechnen. Das erlaubt es auch, die nationale Beteiligung erstmals abzuschätzen.

Der bisheriger Höchstwert entstand am Abstimmungswochenende im November 2010, an dem über die SVP-Volksinitiaitive zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen entschieden wurde. Damals beteiligten sich 54.3 Prozent der stimmberechtigten GenferInnen.

Nun liegen die aktuellen Werte seit Dienstag letzter Woche über dieser Referenz. Die Abweichung hat sich zwischenzeitlich bei rund 3 Prozentpunkten stabilisiert. Das spricht für eine Genfer Beteiligung von 56 bis 58 Prozent.

Verglichen mit der Schweiz, kennt der Kanton Genf meist eine überdurchschnittliche Teilnahme. Die nationale Beteiligung dürfte demnach als etwas tiefer liegen, bei 54 bis 56 Prozent.

Verglichen werden können die Aussichten namentlich mit früheren Volksabstimmungen über die Personenfreizügigkeit. Demnach zeichnet sich jedenfalls im Kanton Genf eine geringere Beteiligung als 2005 ab, als die Personenfreizügigkeit provisorisch eingeführt wurde. Gegenüber 2009, als man die definitive Einführung der Personenfreizügigkeit beschloss, dürfte sie aber erhöht sein. Denn bei der ersten Entscheidung zur Liberalisierung der Zuwanderung beteiligten sich in Genf 62 Prozent, bei der zweiten 54 Prozent. National lagen die Teilnahmequoten bei den beiden genannten Abstimmunge 54 und 51 Prozent.

Festhalten kann man hier: Die Mobilisierung ist an diesem Abstimmungswochenenden wird überdurchschnittlich sein; sie hat gegenüber der 2. SRG-Befragung, die einen Zwischenstand von 47 Prozent für die nationale Beteiligung bilanzierte, nochmals zugenommen.
Keine Rückschlüsse kann daraus auf die Mobilisierungen der beiden Lager ziehen, denn über den Zwischenstand bei der materiellen Stimmabgabe darf aus Gründen des Stimmgeheimnisses auf im Kanton Genf bis am Sonntag 1200 nichts gesagt werden.

Claude Longchamp

Mein Einsatzplan am Abstimmungssonntag vom 9. Februar 2014

Wie gewohnt führt das Forschungsinstitut gfs.bern am kommenden Abstimmungssonntag die Hochrechnung zu den eidg. Volksabstimmungen durch. Hier die Uebersicht über Dienstleistungen und Termine.

Hochgerechnet werden alle drei Vorlagen, die Fabi-Vorlage, die Volksinitiative “Gegen Masseneinwanderung” und jene “Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache”. Die “Hochrechnung” beinhaltet drei Teile:

. eine Trendrechnung,
. die eigentliche Hochrechnung und
. die Erstanalyse.

Die eigentliche Hochrechnung macht quantitative Angaben zum erwarteten Ja:Nein-Verhältnis bei jeder Vorlage. Hochgerechnet wird auch die Stimmbeteiligung. Es besteht anfänglich eine Fehlertoleranz von +/-3 Prozentpunkte. Ergebnisse zwischen 47 und 53 Prozent lassen keinen verbindlichen Schluss zu. Die Hochrechnungen werden halbstündlich wiederholt; ihre Aussagekraft verbessert sich von Mal zu Mal. Die zweite hat einen Unsicherheitsbereich von +/-2 Prozentpunkten. Hochgerechnet werden in allen drei Fällen Volks- und Ständemehr. Damit eine Vorlage angenommen wird muss beides gewährleistet sein. Unterschiedliche Mehrheiten sind nicht ganz ausgeschlossen, aber nicht besonders wahrscheinlich.

Die Trendrechnungen bereitet die Hochrechnungen vor. Es werden nur qualitative Angaben gemacht, und zwar: Ja-Tendenz, Nein-Tendenz, (noch) keine Angaben möglich. Letzteres wird kommuniziert, wenn ein Ergebnis zwischen 45 und 55 Prozent im Ja- resp. Nein-Anteil erwartet wird.

Schliesslich die Erstanalysen: Sie dienen der Interpretation von klaren Zusammenhängen zwischen dem räumlichen Abstimmungsverhalten einerseits, Kontextmerkmalen wie Sprache, Siedlungsart, Wirtschaftsstruktur, Politkultur anderseits.

Die Hochrechnungen werden für die SRG-Medien in allen Landesteilen durchgeführt. Hier die Angaben zu den erwarteten Terminen in der deutschsprachigen Schweiz.

12:30 Trendrechnungen zu allen drei Sachvorlagen

13:00 1. Hochrechnungen zu Fabi und Abtreibung, Trend zu Masseneinwanderung

13:16 Trendrechnung zur Stimmbeteiligung

13:30 1. Hochrechnung zu Masseneinwanderung, 2. zu Fabi und Abtreibung

14:00 2. Hochrechnungen zu Masseneinwanderung

15:04 1. Hochrechnung Stimmbeteiligung

16:06 Erstanalyse Masseneinwanderung

16:46 Erstanalysen zuerst Fabi, dann Abtreibung

Im Anschluss an jede Publikation von Trend- und Hochrechnungen nehme ich im Radio und Fernsehen kurz Stellung zur Aussagekraft, zum Ergebnis und den möglichen Interpretationen. Um 18 45 erfolgt auf SRF der Schlusskommentar zum Abstimmungssonntag.

gfs.bern berichtet zeitnah via Twitter und www.gfsbern.ch über die Ergebnisse der Hochrechnungen.

Das gfs-Hochrechnungsteam am Abstimmungssonntag besteht aus Martina Imfeld, Stephan Tschöpe, Jonas Ph. Kocher, Philipp Rochat, Michael Kaspar und Cloé Jans. Hinzu kommt Mediensprecher Lukas Golder, die via Medienhandy des Instituts den Medien ausserhalb der SRG Auskunft gibt.

Claude Longchamp

Das Hauptszenario bei der Entscheidung zur Masseneinwanderungsinitiative – in zwei Varianten

Wer mit Szenarien arbeitet, unterstellt mehrere mögliche Verläufe. Ich denke, bei der Masseneinwanderungsinitiative reicht ein Hauptszenario mit zwei Untervarianten.

Es gehört zum fast sicheren Grundstock der Erkenntnisse aus den SRG-Umfragen zu Volksinitiativen: Sie starten besser als sie enden. Bei der Volksinitiative “gegen Masseneinwanderung” ist das nicht so – ein untypischer, aber nicht unmöglicher Fall.

Warum? Ueber Fragen der Personenfreizügigkeit haben wir schon zweimal abgestimmt: 2005, bei der provisorischen Einführung, und 2009, bei der Ueberführung ins Defintive. In der ersten Volksentscheidung waren 55 Prozent dafür und 45 Prozent dagegen, bei der zweiten stimmten 60 Prozent mit Ja und 40 Prozent mit Nein. So gesehen überraschte es nicht wirklich, dass bei der ersten Befragung unseres Instituts 37 Prozent für die SVP-Initiative, die eine Abkehr von der Personenfreizügigkeit verlangte, derweil 55 Prozent gegen die Inititive und 8 Prozent unentschieden waren.

Wenn sich nun ein atypischer Meinungsverlauf abzeichnet, hat das höchstwahrscheinlich nicht viel mit Meinungswandel zu tun, sondern mit einer veränderten Teilnahmeabsicht an der Abstimmung. Denn die sind von 41 Prozent zur Jahreswende auf 47 Prozent in der zweiten Hälfte Januar 2014 gestiegen. Mit ihr haben sich die Verhältnisse geändert, von der Nein-Tendenz hin zu einer offeneren Situation.

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Normal ist, dass die Beteiligungsabsichten zwischen zwei SRG-Wellen um 2-3 Prozent steigen. Auswirkungen auf die Stimmabsichten bleiben aus oder sind beschränkt. Jetzt ist es da Doppelte oder Dreifache – und hat Effekte. Wer im Januar neu zu den Teilnahmewilligen stiess, verteilte sich im Verhältnis von 5 zu 1 auf die Ja-Seite. Bester Beleg dazu: Personen, die dem Bundesrat misstrauen, wollen nun zu 60 Prozent stimmen gehen, in der überwiegenden Zahl für die Initiative. Dagegen bleibt die Beteiligungsabsicht von Personen mit Vertrauen in den Bundesrat zurück, bei gut 40 Prozent, weiterhin gegen die Initiative.

Die asymmetrische Mobilisierung ist denn auch der Hauptgrund, dass das Normalszenario nicht mehr spielt. Sie ist zwischenzeitlich so stark, dass wir nur noch mit dem ursprünglichern Nebenszenario arbeiten. Bekräftig wird diese Annahme durch die Ende Woche veröffentliche Medienanalyse der Forschungsstelle für Oeffentlichkeit und Gesellschaft. Sie legt nahe, dass die Intensität der Medienaufmerkamkeit seit Mitte Januar übertrifft die Medienresonanz sogar jene vor der Entsheidung zur Ausschaffungsinitiative. Der Tenor ist in den untersuchten Medien ist zwar leicht negativ, aber weder konstant, noch einheitlich: Je nach Medium überwiegt der Nein- resp. der Ja-Standpunkt. Oder zugespitzt: Das unschlüssige Mediensystem beeinflusst die Meinungsbildung der Unschlüssigen kaum mehr, die Intensität und Emotionalität der Debatte hat die Protestpotenziale aber elektrisiert!

Wenn es sich aktuell um einen Mobilisierungsfall handelt, wie wir ihn seit dem EWR kennen, wohl bei der Asyl-Initiative nachweisen konnten, und wie er wohl auch bei der Minarett-Abstimmung spielte, bleibt unbeantwortet, wie sich die Stärkenverhältnisse in der Schlussphase verändern. Das ist es hilfreich, zwei Variante des Hauptszenarios zu unterscheiden.

Im ersten Fall, nennen wir sie das “Protestvotum”, geht der Trend seit Mitte Januar 2014 ungebrochen fort. Die Mobilisierung stärkt nochmals das Ja-Lager, und es schwächt das Nein-Lager. Der Vorsprung der Nein-Seite schmilzt nochmals. Es entscheiden die Unschlüssigen, die sich beteiligen, ob es Ja oder Nein wird. Emotionalisierende Ereignisse in der letzten Wochen könnten hier der nochmalige Treiber sein.

Im zweiten Fall, “Gegenreaktion” bezeichnet, nimmt die Mobilisierung zwar weiterhin zu, es ändern sich aber die Effekte. Den GegnerInnen gelingt es, die Balance in der Zusatzbeteiligung wieder herstellen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung grösser als jene der Zustimmung. Der Trend bei Initiativen, bei sachlichen Zweifeln doch Nein zu sagen, wäre hier die zentrale Begründung für ein abflachender Ja-Trend.

Denkbar sind auch Mischungen, vor allem nach Sprachregionen, denn die Leseweisen des Themas sind vor allem in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz.

Claude Longchamp