Mit Combining zu besseren Prognosen

PollyVote in den USA! Pollyvote in Deutschland! Bald auch PollyVote in der Schweiz?

Das Beispiel war einleuchtend: Muss man sich in einer schwierigen Sache entscheiden, listet man Pro und Kontra auf, und fragt man sich, ob mehr dafür oder dagegen spricht. Schwieriger als das ist die Antwort auf die Frage, ob ein Argument alle anderen übertrumpfe.

Vor diesem Hintergrund kritisiert Andreas Graefe am Freitag in einem Gastvortrag im Rahmen meines Forschungsseminars an der Uni Bern das gängige Verfahren in der Prognosetechnik, wonach man relevante Determinanten aufgrund der bisherigen Erfahrung gewichtet, um eine gute Vorhersage machen zu können. Vielmehr empfahl der Referent, mehrere begründbare Prognosen konstant nebeneinander laufen zu lassen, und aus ihnen systematisch ungewichtete Mittelwerte zu bilden.

“Ist das Wissenschaft?”, habe ihn Prognose-Guru Michael Lewis-Beck nach seinen ersten Vortrag vor Spezialisten gefragt, und er habe die Antwort gleich vorweg genommen: zu simpel, um wahr zu sein! Doch der Nachwuchsforscher liess sich nicht ins Boxhorn jagen und rechnete nach: Neun Modelle kennt insbesondere die amerikanische Forschung zu Präsidentschaftswahlen. Wirtschaftsleistung und Popularität des Amtsinhabers kommen in allen vor; danach unterscheiden sich die Indikatoren aber, sodass man immer weider von neuem versuche, mittels raffinierter Gewichtung optimale Modellierung zu erhalten. Mitnichten, meinte der Münchner Gast, denn: Addiere man die 27 Indikatoren aller Modell ungewichtet auf einmal, erhalte man die beste Prognose.

Graefe zählt Umfragen, Wahlbörsen, Modellrechnungen, Indices zu Themen- und Personeneigenschaften sowie ExpertInnen-Einschätzungen zu den an sich validen Prognoseinstrumenten. Kein Tool sei perfekt, sodass man sich auf nur eines verlassen könne. Berücksichtige man aber alle gleichermassen, reduzieren man die Wahrscheinlichkeit, durch einen unvorhersehbaren Ausreisser ungewollte beeinflusst zu werden.

pollyvote
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

PollyVote nennt Graefe das Verfahren. Sein Papagei verstehe nichts von Politik, plappere aber alles nach, was die anderen sagen, und kenne die Mittelwert-Berechnung. Das reiche!

2013 arbeitete der Oekonom, der an der Uni München forscht, so, um den Ausgang der Bundestagswahlen vorauszusagen. Dabei zeigten sich Stärken und Schwächen der Methode. Dass es die AfD nicht schaffe, war für Graefe klar. Wie alle anderen Instrumente auch, prognostizierte auch seines aber, die FDP schaffe die 5-Prozent-Hürde.

Der Grund ist einfach: Die Wahlbörsen waren teilweise durch die SympathisantInnen der AfD manipuliert; genau das fiel im Vergleich der Instrumente untereinander schnell auf. Anders bei FDP: Weil sich alle in die gleiche Richtung täuschten, entdeckte das Graefe-Verfahren die gemeinsame Schwäche nicht.

Dennoch zeigte sich der Referent aufgrund US-amerikanischen Erfahrungen überzeugt: Auf die Dauer werden Prognosen genauer, wenn man verschiedene bewähre Verfahren unvoreingenommen verbindet, und die Kombi-Methode ist die Beste, nicht weil sie fehlerfrei ist, sondern die Fehlerwahrscheinlichkeit systematisch minimiert.

Ich werde mir das zu Herzen nehmen, und es in der Schweiz ebenso versuchen!

Claude Longchamp

Nachgezählt: Wie man Ständeratspräsident wird

Auf keinen Fall sei man Nidwaldner. Denn noch nie schafft es jemand aus die-sem Stand an die Spitze der Kantonsvertretung im Bund. Am einfachsten ist man Waadtländer! 17 Politiker aus dem Lac-Léman-Kanton standen bisher dem Ständerat vor – eine einmalige Erfolgsgeschichte! Allerdings, mit nachlassendem Effekt, denn seit 1988 wurde kein Waadtländer mehr gewählt.

Dafür gab es in den letzten 20 Jahren drei Ständeratspräsidentinnen. Josy Meier, die Konservative aus Luzern, eröffnete 1992 den Reigen. Ihr folgen die Genfer Liberale Françoise Saudan und die St. Galler Freisinnige Erika Forster-Vanini.

Sofort wird auch ein Mann nicht Ständeratspräsident. Angepasst muss er sein, um den Rat nach Innen und Aussen vertreten zu dürfen. Die zweite Legislatur ist die früheste, um erfolgreich zu kandidieren, die dritte oder vierte sind die normalen.

54 Jahre zählen die Stöckli-PräsidentInnen bei ihrer Ehrung im Schnitt. Der Neuenburger Numa Droz war 1875 mit 31 Jahren die grosse Ausnahme. Auguste Pettaval, ebenso aus dem Neuenburgischen, war 1919 mit 74 der älteste, der es je schaffte.

Noch nie brauchten die StandesvertreterInnen mehr als einen Wahlgang, um ihren Präsidenten zu küren. Dabei ziemt es sich, sich selber nicht zu stimmen. So sind die 45 Stimmen des Zürcher Riccardo Jagmetti das absolute Maximum. Filippo Lombardi, der abtretende Vorsitzende, führte mit 39 Stimmen die Liste in umgekehrter Reihenfolge an.

Nicht übersehen sollte man eines: Der Ständeratspräsident muss zählen können – genau genommen zusammenzählen können. Denn auch diese Tradition ist jüngst etwas ins Wanken geraten. Demnächst soll Elektronik nachhelfen!

StänderatspräsidentInnen werden dann wieder etwas gewöhnlicher sein. So wie ihre KollegInnen aus der Volksvertretung. In der Hierarchie der PräsidentInnen werden sie hinter Bundes- und Nationalratspräsident wieder ganz offiziell die Nummer 3 sein. Dafür kann man sich auf dem hohen Stuhl im Ständeratssaal als Nachfolger des Vorsitzenden in der Tagsatzung fühlen, der Urinstitution der Eidgenossenschaft.

Gewisse Aussichten bestehen, nach der Wahl zum Ständeratspräsidenten poli-tisch aufzusteigen. 12 Ständeratspräsidenten wurden später Bundesrat. Alain Berset ist der letzte unter ihnen. Die Regierungsparteien haben ein Monopol bei der Präsidentenwahl. Am meisten Amtsträger hatte bis jetzt die FDP.Die Liberalen-Fraktion. Es folgt die CVP-Fraktion. Mit grossem Abstand kommt die SP-Fraktion als dritte, noch knapp vor der SVP.

Fünf Mal stellte die SVP bisher den Ständeratspräsidenten. Immer waren es Berner oder Bündner. Mit Hannes Germann ist es erstmals ein Schaffhauser.

In seiner Fraktion gilt der Auserkorene als Besonnener – bereits einmal wurde er als möglicher Bundesrat gehandelt. Der gelernte Lehrer garantiert für ein einwandfreies Einmaleins. Der frühere Journalist, weiss mit öffentlichen Erwar-tungen umzugehen. Der Mitfünfziger hat auch das richtige Alter und ist mit 11 Jahren im Ständerat erfahren genug, die Regeln der Kunst zu kennen, die im ersten Wahlgang zum Erfolg führen.

Wenn ich nirgends falsch gezählt habe!

Claude Longchamp

Wie der Medientenor zur Autobahnvignette kippte

Der Medientenor zur Vignette änderte sich im abgelaufenen Abstimmungskampf erheblich: Es nahm die Resonanz des Themas zu, und gleichzeitig kippte die Bewertung der Vorlage vom Positiven ins Negative.

Die Forschungsstelle für Oeffentlichkeit und Kommunikation legte gestern ihren 2. Bericht zum Abstimmungsmonitoring vor. Dieser zeigte, wie die Massenmedien über die drei Vorlagen berichteten, über die am 24. November 2013 entschieden wird. Das Fazit: Die 1:12 Initiativen interessierte am meisten, die Vignette am wenigsten; der Tenor war bei den beiden Initiativen negativ, bei der Vignette insgesamt ausgeglichen. Doch halt!

Die Befunde im Trend
Eine Spezialauswertung, die ich selber vorgenommen habe, legt nun durch den Vergleich der Verhältnisse in der ersten resp. zweiten Phase des Abstimmungskampfes die Entwicklungen offen – was mehr als der Durchschnitt aussagt.

Tabelle: Resonanz der Vorlagen zu den Volksabstimmungen vom 24. Nov. 2013 in den Massenmedien
resonanz1
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern.

Die Resonanz der Themen nahm insgesamt leicht zu; 173 der berücksichtigten Artikel widmeten sich in der ersten Phase den Vorlage, in der zweiten waren es 198. Der Trend bei den Vorlagen verlief allerdings ungleich. In der ersten Phase dominierte die Berichterstattung über die 1:12 Initiative, derweil sich die Verhältnisse in der zweiten annäherten. Hauptgrund: Besonders über die Familieninitiative wurde mit der Dauer des Abstimmungskampfes deutlich mehr berichtet als zu Beginn; eingeschränkt gilt dies auch für die Autobahnvignette, während sich die Intensität der Berichterstattung bei der JUSO Vorlage leicht zurückentwickelte.

Tabelle: Tendenz der massenmedialen Berichterstattung zu den Volksabstimmungen vom 24. Nov. 2013
tendenz
Legende: Die Verhältniszahlen zeigen die Anteile positiver und negativer Artikel, inklusive der neutralen; der Indexwert entsteht aus dem Anteil positiver minus negativer Artikel.
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern.

Namentlich bei der Vignette kehrte auch die Tendenz in der Bewertung, von einer anfänglich positiven hin zu einer negativen Beurteilung. Je länger es dauerte, umso mehr kam die Gegnerschaft mit ihren Sichtweisen zum Zug. Von eigentlichen Trends kann man bei den Volksinitiativen nicht sprechen; die Mediensichtweisen war insgesamt von Beginn weg kritisch, und dies änderte sich im Verlauf der Kampagnen nicht wirklich.

Die Würdigung
Was heisst das? Die massenmediale Politisierung der Vignette fand erst im Abstimmungskampf statt. Die Aufmerksamkeit stieg, und mit ihr entwickelte sich die Tendenz ins Negative. Für eine Behördenvorlage ist das nicht ganz, aber teilweise überraschend, denn die Behördenseite dominiert in der Regel den Auftakt eines entsprechenden Abstimmungskampfes. Meist gelingt es aber, diesen Schwung bis zum Ende mitzunehmen. Dies war bei der Vignette nicht der Fall, indem in der zweiten Phase die Nein-Seite deutlich mehr Gas gab. Man bekommt den Eindruck nicht los, dass mit der Krktik an den Aussagen von Doris Leuthard zu neuen Einnahmequellen bei einem Nein die Trendwende begann, gegen die die BefürworterInnen medial kein Gegenrezept fanden.

Bei den beiden Volksinitiativen erkennen wir zwei andere Verläufe: Die 1:12 Initiative kannte eine frühe Politisierung; die so schon vor dem Abstimmungskampf ausgelöste Resonanz blieb hoch, verringerte sich nur wenig, je näher der Abstimmungstag kam. Die massenmediale Beurteilung war dabei durchgängig tief. Letzteres gilt auch für die Familieninitiativen, derweil sich die Aufmerksamkeit erst mit dem Abstimmungskampf selber ergab.

Der Vergleich mit den Trendumfragen
Die Beobachtungen passen recht gut zu den Trends in den SRG-Umfragewerten. Denn die 1:12 Initiative startete mit einer minderheitlichen Unterstützung, die sich in der Folge noch zugunsten der Gegnerschaft verschob. Ein Nein zeichnete sich hier schon im Abstimmungskampf ab. Bei der Familieninitiative kam es auch zu einem Nein-Trend ein, doch begann die Vorlage mit einer mehrheitlichen Zustimmung. Es blieb zwar eine relative Zustimmungsmehrheit in der letzten Befragung, allerdings bei negativem Trend in der Meinungsbildung. Bei der Vignette schliesslich stimmten Medientenor und Bevölkerungsmeinung zu Beginn überein. Beides war leicht zugunsten der Preiserhöhung. Doch Medienmeinung kippte im Abstimmungskampf, und auch die Zustimmung in der Trend-Umfrage verringerte sich, ohne 2 Wochen vor der Abstimmung einen klaren Ausgang erkennen zu können.

Mehr dazu morgen!

Claude Longchamp

Demoskopie und Zeitgeschichte

HistorikerInnen ist das Buch ein Begriff. SozialwissenschafterInnen kaum. Zeit, den ältesten Bericht zur Schweiz auf demoskopischer Basis wieder mal zu besprechen.

images

Die Schweiz im Krieg. Im komischen Krieg. Denn vom Schlachtengetöse merkt man lange nicht viel. Der Grenzschutz steht, doch langweilt er sich. Um mehr darüber zu erfahren, führt die Schweizer Armee eine neue Technik ein. Die Methode Gallup, von den USA herkommend, soll Auskunft geben über das Denken der BürgerInnen.

Mit dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Schweiz die Demoskopie eingeführt. Nun ging es um die zivile Nutzung. In der Marktforschung etwa. Oder in der Politforschung. “Die Schweiz hält durch” ist das bemerkenswerteste Produkt diese Umwandlung. Es ist der älteste Bericht über die Lage in der Schweiz, die auf Umfrageforschung basiert. Herausgegeben wurde das Buch von der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Die 180 Seiten Text, Tabellen und Grafiken, publiziert zum 100. Geburtstag des modernen Bundesstaates 1948 bauen auf der grossen Volksumfrage auf, zwei Jahre zuvor vom Verein gleichnamigen realisiert. Genau genommen waren es zwei Umfragen: eine allgemeine, in allen Haushalten der Schweiz, und eine wissenschaftliche, nach der Methode Gallup mit einer Stichprobe befragter Personen. 52’262 nahmen an der Haushaltsbefragung teil; das waren 1,75 Prozent der Gesamtbevölkerung oder 4,5 Prozent der Haushalte. In die Stichprobenerhebung flossen die Meinungen von 3000 Befragten ein, ausgewählt nach einem anspruchsvollen Quotenverfahren in den drei Sprachregionen.

Inhaltlich ging es um viererlei: Sollen die Frauen das Stimmrecht erhalten? Soll der staatliche Einfluss auf die Wirtschaft verstärkt oder abgebaut werden? Soll die Abhängigkeit der Kantone vom Bund verstärkt oder vermindert werden? Und, soll die Schweiz an der unbedingten Neutralität festhalten. Die Resultate lauteten: Beim Frauenstimmrecht gab es ein “Ja”; über dem Mittel war die Zustimmung in der deutschsprachigen Schweiz; am geringsten, aber immer noch mehrheitlich war sie in der französischsprachigen. Zustimmend waren beide Geschlechter. Allerdings unterschied man deutlich nach Lebensbereichen; unbestritten war die Mitsprache in Familien-, Schul-, Kirchen und sozialen Fragen. Bei Wirtschaftsfragen kippte die Mehrheit, – und in politischer Hinsicht waren 96 Prozent dagegen! Gespalten war man in Sachen Staatseinflusses auf die Wirtschaft: Am meisten Befragte waren für den Status Quo, eine relative Mehrheit befürwortete eine Vermehrung; 14 Prozent waren für eine Verminderung. Je tiefer das Einkommen war, desto eher war man für mehr Staat und umgekehrt. Unbestrittene Bundesaufgaben waren damals das Zivil- und Strafrecht, die Sozialpolitik und der Aussenhandel. Als kantonale Domänen erschienen insbesondere die Kirch- und Schulwesen, die Familie, die Wirtschaft und die Steuern. Schliesslich war die Neutralität sakrosankt. Der Beitritt zur UNO war zwar mehrheitsfähig, aber nur, wenn diese die Neutralität vorbehaltslos anerkennen sollte.

Der Demoskope in mir erkennt in einigem Vorgehensweisen Verfahren, die sich bis heute bewährt haben: Die Unterscheidung der Schweiz nach Sprachregionen, ebenso in Siedlungsräumen, aber auch die Differenzierung nach Einkommensklassen oder nach Geschlechtern. Wir sind halt eine fragmentierte Gesellschaft mit vielen Charakteren. Anderes hat sich in der heutigen Praxis weiterentwickelt. So die statistischen Auswertungen, die vormals so aufwendig waren, dass sie nur höchst spärlich vorgenommen wurden. Schon der Mittelwert über alle Sprachregionen hinaus bildete ein noch fast unerfüllbares Unterfangen. Das ist heute klar anders. Geändert hat sich die Fragenbogentechnik. Um Mehrheiten zu bekommen, würde man heute keine ungerade Zahl von inhaltlichen Kategorien zulassen. Vor allem aber, die Haushalts- wie auch die Stichprobenerhebung kannten nicht durchwegs die gleichen Fragen und Antwortmöglichkeiten, sodass ein Vergleich im strengen Sinnen gar nicht möglich war. Das würde man heute schon im voraus bemängeln.

Am meisten frappiert ist man beim Lesen des Buches, mit welcher eminenter Skepsis selbst die Herausgeber quantifizierenden Aussagen begegneten. Denn der erste Teil, immerhin zwei Drittel des Umfangs ausmachend, besteht aus einem breiten Exposé des Juristen und späteren Professors Werner Kägi, der das Verfassungsrecht der Schweiz rekapitulierte, und gelegentlich einige qualitative Antworten aus der Haushaltsbefragung einfliessen liess. Das Ganze fand kaum statt, um das Denken der Staatsrechtler von jenem des Volks zu unterscheiden, sondern um die ungeteilte Staatsidee der Schweiz zu illustrieren. Interessant auch, dass die statistische Auswertung des wissenschaftlich genannten Teils der Umfrage dem ETH-Ingenieur René Lalive d’Epiney überlassen wurde, mangels SozialwissenschafterInnen, denn die gab es damals in der Schweiz noch gar nicht!

Trotz allem, die Ergebnisse sind symptomatisch für die ersten Nachkriegsjahre: Die Männergesellschaft reservierte sich die Vorrechte in Staat und Wirtschaft gegenüber Frauen, nicht aber in gesellschaftlichen Belangen. Die Neutralität der Schweiz strahlte über allem, der Staat war anerkannt, namentlich wegen seinen ausgleichenden Wirkungen. In vielen Domänen war der Staat aber nicht der Bund, denn die Kantone gaben in wichtigen Bereichen den Orientierungsrahmen ab.

Umfrageforschung, bilanziere ich, ist nicht nur ein Instrument der Gegenwart, auch eines der Historie. Denn das Buch ist eine spannende Quelle der Schweizer Geschichte, die über politische Kulturen berichtet, wie wir sie heute bei der Gleichstellungsfrage, aber auch in der Staatspolitik nicht mehr kennen: Denn der Ausschluss der Frauen aus der Politik ist seit 1971 nie mehr ernsthaft gefordert worden, und die Vermehrung des Staatseinflusses auf die Wirtschaft ist heute ebenso wenig mehr im Trend. Der Sorgenbarometer, der in zwei Wochen erscheint, und in einigem das Nachfolgeprojekt ist, wird das breit belegen.

Und noch etwas: Als die Umfrage 1946 durchgeführt wurde, war noch nicht klar, ob man in der Schweiz integral zur direkten Demokratie zurückkehren würde oder nicht. Erst die Volksabstimmung 1947 schaffte hierzu Klarheit, sodass wir heute wieder regelmässig über vieles abstimmen. Heute geht der Titel des Buches eindeutig nicht mehr: “Die Schweiz hält durch” war noch ganz im Geiste der Landesverteidigung gewählt. Heute würde das Buch eher heissen: Die Schweiz zählt durch!

Claude Longchamp

Mein Einsatzplan am kommenden Abstimmungssonntag

Was am kommenden Abstimmungssonntag via SRF kommuniziert wird!

Wie immer an Abstimmungssonntagen bin ich mit meinem Team vom gfs.bern am Abstimmungssonntag im Volleinsatz. Wir rechnen alle drei eidg. Vorlagen hoch, analysieren die eintreffenden Ergebnisse aus kantonen und Gemeinde, etrapolitiren sie auf die nationale Ebene und schätzen frühzeitig ab, was wie stark angenommen resp. abgeleht wird. Zudem unterziehen wir die Resultate eine Erstanalyse zum Konfliktmuster und bringen die Ergebnisse mit der Meinungsbildung in der Bevölkerung, den Massenmedien und den neuen soziale Medien in Verbindung.

Anbei der Fahrplan für den kommenden Sonntag (vorbehältlich kurzfristiger Aenderungen)

Trendrechnungen Volksabstimmungen

12:30 Trend zu 1:12, zu weiteren Vorlagen falls möglich, via TV
12:37 Trend zu 1:12, zu weiteren Vorlagen falls möglich, via Radio
13:00 Trends zu allen drei Vorlagen, via TV
13:05 Trends zu allen drei Vorlagen, via Radio
13:16 Erste Würdigung der Trends zu allen drei Vorlagen, via TV

Hochrechnungen Volkabstimmungen

13:30 1. Hochrechnungen zu allen drei Vorlagen, Präsentation TV
13:35 Kurzanalysen zu allen Hochrechnungen, via TV
13:45 Kurzanalysen zu allen Hochrechnungen, via Radio
14:00 2. Hochrechnung zu allen drei Vorlagen, Präsentation TV
14:03 Kurzanalyse zu allen Hochrechnungen, via TV

Erstanalysen
16:10 Erstanalyse Familieninitiative, via TV
16:39 Erstanalysen 1:12 und Vignette, via TV

Analyse der Meinungsbildung
13:56 Analyse Social Media im Abstimmungskampf, via TV
15:04 Hochrechnung Stimmbeteiligung und Massenmedien, via TV
17:25 Analyse Social Media am Abstimmungstag, via TV

Bilanz und Ausblick
18:41 Schlussanalyse Abstimmungs-Sonntag und Ausblick auf kommendes Abstimmungswochenende, via TV

Erläuterungen

Trendrechnung: qualitative Aussagen über erwartete Annahme/Ablehnung, wenn Trendergebniss klarer als 45/55 resp. 55/45
Hochrechung: quantitative Aussagen über erwartete Werte der Zustimmung/Ablehung beim Volks- und Ständemehr (wenn nötig), max. Fehlermarge +/-3Prozentpuinkte, dann jede halbe Stunde mit verbesserter Fehlermarge (nur wenn sich Mehrheiten ändern)
Erstanalyse: Analyse des Kantonsprofil von Zustimmung und Ablehnung aufgrund von weiteren Kontextmerkmalen

Claude Longchamp

Rekordbeteiligung für nationale Volksabstimmungen im Kanton Genf?

Im Kanton Genf zeichnet sich bei der kommenden eidg. Volksabstimmung eine weit überdurchschnittliche Stimmbeteiligung ab. Es könnte die höchste seit 2010 sein.

Wenn es um die Veröffentichung der Teilnahmequoten geht, ist der Kanton Genf speziell. Der Kanton interpretiert das Stimmgeheimnis so, dass es nur für den Ja/Nein-Anteile, nicht aber für die Beteiligung gilt. Deshalb publiziert er seit 2010 jeden Tag den Stand der Teilnahme bei nationalen und kantonalen Wahlen via Internet. 4 Tage vor der Wahl hatten seither minimal 23, maximal 40 Prozent der Stimmberechtigten ihre Stimmen bereits abgegeben gehabt. Der Tiefstwert resultierte vor genau einem Jahr, bei der speziellen Volksabstimmung über das Tierseuchengesetz; final nahmen im Kanton Genf 28 Prozent teil. Der Höchstwert wiederum ergab sich bei der Entscheidung über die Ausschaffungsinitiative; am Abstimmungssonntag kletterte der Beteiligungswert auf 52 Prozent.

genf
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Vier Tage vor dem nächsten Stichtag haben 42 Prozent der Genfer KantonsbürgerInnen zu den Volksabstimmungen vom 24. November 2013 abgestimmt. Projiziert man das auf den kommenden Sonntag, spricht einiges für eine kantonale Teilnahmequote von rund 55 Prozent.

Nun liegen die regelmässig publizierten Werte für die kommende Abstimmung seit dieser Woche konstant über dem bisherigen Höchstwert, was eine klar überdurchschnittliche Beteiligung kantonal. Wenn das vor Wochenfrist noch anders war, hat das seinen spezifischen Grund. Vor 10 Tagen waren kantonale Regierungsratswahlen, sodass man mit dem Auszahlen der nationalen Stimmzettel erst danach begann.

Vieles spricht dafür, dass auch die nationale Beteiligung klar über dem Mittel von 44 Prozent sein wird. So ergab die letzten SRG-Befragung vor Wochenfrist einen geschätzten Teilnahmewert von 51 Prozent. Und auch das Genfer Barometer legt nahe, dass sich mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten gesamtschweizerisch beteiligen. Denn der kantonale Wert liegt meist 2-4 Prozent über dem nationalen.

Zwar kennt man die spezifischen Gründe hierfür noch nicht. Die Struktur der Ursachen von Beteiligungen über dem Mittel sind aber gut bekannt. Zunächst beteiligen sich, gesamtschweizerisch, rund 25-30 Prozent an jeder eidg. Volksabstimmung. Werte darüber sprechen für eine vorlagenspezifische Mobilisierung. Die macht es denn auch aus, dass sich an diesem Wochenende 50 Prozent beteiligen werden. Dabei schaukeln sich verschiedenartige Vorlagen gegenseitig Stimmende zu, wenn sie je eine spezifische Publikum ansprechen. Diesmal geht die Polarisierung (und damit die Mobilisierung) von der 1:12 Initiative aus, während Familien-Initiative einerseits, Vignette anderseits spezifische Publika interessieren.

Claude Longchamp

Abstimmungskampagnen. Ein Buch, das man lesen und beherzigen sollte.

Zahlreiche Fachleute arbeiten, meist ausgehend von den Schweizer Erfahrungen, an der Weiterentwicklung der Demokratie, um sie von der Wahl von Personen zur Entscheidung in Sachfragen bringen. Jetzt haben 32 von ihnen gemeinsam das Buch “Abstimmungskampagnen” verfasst, um ihr professionelles Wissen zur Themenkommunikation zwischen Macht, Medien und Massen zu vermitteln.

41InqGwX5BL__BO2,204,203,200_PIsitb-sticker-arrow-click,TopRight,35,-76_SX385_SY500_CR,0,0,385,500_SH20_OU03_

Zugegeben, zuerst überwiegen gewisse Zweifel: 490 Seiten dick ist das Buch aus dem Springer Verlag, was Ueberwindung beim Einlesen braucht. 32 AutorInnen hat es, die 31 Artikel beigetragen haben, eingerahmt von einer kurzen Einleitung und einem anregenden Schlussgespräch, der HerausgeberInnen Heike Scholten und Klaus Kamps mit Kurt Imhof führten. Genau damit entstehen die Hoffnungen, die einen interessiert machen, das Buch nicht nur zu kaufen, es auch lesen und zubeherzigen. Denn es begeistert zweifelsohne durch Kompetenz: Aus schweizerische Sicht sind Forscher wie Michael Hermann und Mark Eisenegger dabei, BeraterInnen wie Katja Gentinetta und Petra Huth haben sich eingebracht, ebenso wie die Journalisten Antonio Antoniazzi und Georges Wüthrich, und schliesslich verraten so verschiedenartige Praktiker wie Bruno Kaufmann, Pietro Cavadini, Guido Schommer, René Buholzer, Urs Rellstab, Hermann Strittmatter und Adrian Schmid etwas von ihrem Wissen und Können. Umgarnt werden sie durch ausländische Stimmen, wie die von Christoph Bieber, Susanne Pickel und Claes de Vreese, allesamt ProfessorInnen für politische Kommunikation(kulturen) aus vergleichender Perspektive.

Die Themenpalette des Buches ist fast allumfassend: Es geht um System und Kultur der direkten Demokratie, um die Rationalitäten und Konstellationen der Akteure im Abstimmungskämpfen, um Politikvermittlung und Kampagnenführung, schliesslich auch um Anschauungsbeispiele zu “Referenden”. Da zucken die Lesenden in der Schweiz möglicherweise ein wenig zusammen. Denn hierzulande wagte es kaum jemand, die ausgebaute direkten Demokratie unter dem Stichwort “Referendum” zu subsummieren. Bis eben die beiden HerausgeberInnen mit deutschen Hintergrund und Schweizer Erfahrungen kamen, die ihrem Wälzer den Untertitel “Politikvermittlung in der Referendumsdemokratie” gaben.

Grundlegend in diesem Sammelband ist mit Sicherheit ihr systemtheoretisch ausgerichtete Beitrag zur “Politischen Kommunikation in Wahl- und Abstimmungsdemokratien”. Unterschieden werden drei relevante soziale Strukturen in Form von Orientierungshorizonten der Kommunikation und drei Handlungsausprägungen, die das Handeln von Akteuren in Form von Beobachten, Beeinflussen, Verhandeln, leiten. Wem das zu abstrakt ist, dem wird gleich geholfen: Konstellationen ergeben sich aus dem längerfristig geltenden Möglichkeiten einer Gesellschaft resp. ihrer Teile, öffentlich kommunizieren zu können; Deutungen entstehen aus den Inhalten eben dieser Kommunikation, und Erwartungen verweisen auf die Ziele der Kommunikation in einem bestimmten Abstimmungskampagnen. Dieses Beobachtungsschema wird der Realität von Kampagnen jedoch es erst dann gerecht, wenn man es dynamisiert. Denn wie Kommunikation insgesamt, wird auch die politische Kommunikation vor allem durch Prozesse bestimmt – erst recht in der Form von Abstimmungskampagnen.

Die Ausbildung von Volksrechten forciert die Kommunikation über Politikinhalte, sie aktivieren Oeffentlichkeit zu Sachfragen, und sie schärfen Akteursprofile über Themenpositionen, liesst man in “Abstimmungskampagnen”. Das sind angesichts der wachsenden Personalisierung und Banalisierung von PolitikerInnen, Parteien und Parlamenten in der reinen Wahldemokratie Vorteile der Direktdemokratie. In der Prozesslogik zu Ende gedacht, ist das diesbezügliche Campaigning so etwas permanentes strategisches Kommunikationsmanagement. Drei Tätigkeiten haben sich im Rahmen der Professionalisierung politischer Kommunikation herausgebildet: die systematische Untersuchung des Abstimmungsgegenstandes, die Strategiebildung mit der Zieldefinition und die Realisierung mittels Campaigning. Gegliedert wird der Arbeitsprozess solcher Akteure in die frühzeitige Identifikation von Themen, der politische Positionsbildung von Akteuren, was innerhalb einer Organisation geschieht, dann durch das Lobbying und die Kommunikation nach aussen, die in externe Kampagnen münden. Entscheidend ist dabei, dass die inhaltliche Führungsarbeit mehr und mehr durch die kommunikative verdrängt wird, letzteres aber strikte auf ersterem aufbauen muss, um überzeugend zu bleiben.

Was aber passiert, wenn die Entscheidung der Stimmenden und die Ziel der Akteure immer wieder mal auseinander driften? Direktdemokratische Mitsprache geht in der Tat mit dem Kontrollverlust für die Eliten einher, der sich jedoch lohnt, weil Vertrauen der Eliten mit Vertrauen Bevölkerung gedankt werden. So zählt das Vertrauen der Schweizer Bevölkerung in Regierung und Parlament zu den höchsten in Europa. Mehr noch: Direktdemokratische Entscheidungen erhöhen die Weisheit des politischen Systems. Denn die Weisheit der Stimmenden befähige diese nicht für einen Platz in der Steuerkabine der Staatsleitung, sehr wohl aber als kritische Konfliktinstanz im Rahmen der direkten Demokratie.

Das Schwächste am Sammelband ist mit Sicherheit seine Entstehungsgeschichte. Einige Artikel sind 2009 verfasst worden, von der berücksichtigten Literatur, aber auch vom Erfahrungshintergrund sind sie nicht mehr ganz aktuell. Die einen oder anderen Kapitel hat man deshalb (?) in verwandter Form auch schon anderswo lesen können. Doch das tut dem Buch insgesamt keinen Abbruch, denn aus dem langen Reifungsprozess heraus ist so etwas wie ein grossartiges Kompendium für Abstimmungskampagnen entstanden. Das Buch hat denn auch das Potenzial, schnell zum Standardwerk über Abstimmungskampagnen zu werden. Wer es liesst, erfährt dreierlei über Volksrechte und politische Systeme der Gegenwart:

Erstens, dass direkte Demokratie ihre eigene Logik hat, auf einer eigenen Funktionsweise basiert und ihre eigenen Resultate produziert, an denen staatliche Stellen, politische Parteien, zahlreiche Interessengruppen und neuerdings Unternehmungen, aber auch BürgerInnen-Initiativen mitwirken, um den Volkswillen in Form von Volksentscheidungen entstehen zu lassen.
Zweitens, dass Abstimmungskampagnen keine spontanen Aktionen (mehr) sind, sondern professionalisierte Unternehmungen, die so geplant, vorbereitet, geführt und umgesetzt werden wollen.
Und drittens, dass die ursprünglich schweizerische Eigenart, politischen Entscheidungen zu treffen, weltweit rasch an Bedeutung gewinnt, sodass sich zwischenzeitlich zahlreiche WissenschafterInnen, Forschende und PraktikerInnen im In- und Ausland um die Vermittlung der schnell wachsenden Kompetenzen in Theorie und Praxis redlich bemühen.

Eben, kaum eine oder einer der pluralistisch zusammengesetzten AutorInnen, die hier politische Kommunikation im Rahmen von Volksentscheidungen analysiert und vermessen haben, arbeiten an der Abschaffung der Demokratie, wie KritikerInnen gerne monieren. Vielmehr tragen sie, von sachlich bis optimistisch eingestellt, an ihrer Fähigkeit, über Personenwahlen hinaus Sachentscheidungen zu fällen, erstmals gemeinsam bei.

Claude Longchamp

Die Buchvernissage ist heute abend um 1830 im Zürcher Cabaret Voltaire!

Vermessenes Unbehagen (und seine Analyse) in und mit der Schweiz

Probleme mit administrativen Kontrollen, mit Entfremdungen in der eigenen Heimat, mit Zersiedelung der Landschaften und mit Eliten in Unternehmungen bieten auch heute Alass für Unbehagen im Kleinstaat Schweiz, wie Karl Schmid die Stimmungslage in seinem Buch vor genau 50 Jahren nannte. Diese Aussage bildete meinen Ausgangspunkt des Referates zu “Vermessenem Unbehagen (und seine Analyse) mit der Schweiz”, das ich gestern vor dem Verein für Zivilgesellschaft hielt.

Symptome und Szenarien
Wie schon der Titel ankündigte, wollte ich bei gut belegbaren Beispielen nicht stehen bleiben – etwa mit angenommenen Initiativen zur Abzockerei, zum Zweitwohnungsbau oder zur Ausschaffung kriminell gewordener AusländerInnen auf Bundesebene, zahlreichen Beschränkungen des Rauchens in den Kantonen. Vielmehr stand für mich das punktuelle, teilweise breit gewordene Unbehagen für einen grösseren Wandel der gesellschaftlichen Perspektiven der letzten Jahre: Die Ego-Gesellschaft, seit den 90ern des 20. Jahrhunderts dominant, ist mit der Finanzmarktkrise arg in Bedrängnis geraten: Der Individualismus hat seine Grenze erreicht, das Nützlichkeitsdenken im Sinne maximierter Eigenvorteile erzeugt immer häufiger politischen Widerspruch, und Aktionären, die ihr Management über Gebühr gewähren lassen, werden zum Einschreiten gezwungen. Ein erster Gegentrend hierzu wird in der Suche nach neuen und wichtiger werdenden Balancen sichtbar: zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Erwerbs- und Familienarbeit, aber auch zwischen Oekonomie und Oekologie oder zwischen Freiheit und Verantwortung. Beiden Entwicklungspfaden unserer Gesellschaft ist eigen, dass sie Wirtschaftswachtstum voraussetzen; im ersten Fall, dem liberalen, braucht es dafür keinen starken Staat, im zweiten, dem sozialen, dagegen schon. Doch es gibt auch auch Befürchtungen, dass wir unseres hervorragenden wirtschaftlichen Fundamentes verlustig gehen könnten, Verteil- und Kulturkämpfe auf uns zukommen, und es zum grossen clash im liberalen Staat kommen könnte. Schliesslich fürchtet man bisweilen auch, dass der Staat überhand nehmen könnte, um angesichts wirtschaftlicher Not die verarmten menschen, unfähig zur Selbstkontrolle, vor sich selber schützen zu müssen.

Hervorragender Outpt, Probleme mit dem Input, Troughput im falschen institutionellen Umfeld

Trotz optimistischen und pessimistischen Szenarien, die angesichts des aktuellen Unbehagen den Diskurs in der Schweiz zu prägen begonnen haben: von einem generellen Wirtschafts- und Staatsversagen mag ich nicht sprechen. Die Sorgenbarometer-Untersuchungen bestätigen mich regelmässig in dieser Einschätzung. Zwar halten respektable Minderheiten nichts mehr von der Oekonomie und der Politik in diesem Land; die Mehrheit teilt solch düstere Diagnosen jedoch nicht. Wachstumskritik und Dichtestress angesichts des Bevölkerungswachstums nehmen zwar zu, ohne dass ein genereller Kippunkt bei der Personenfreizügigkeit sichtbar geworden wäre. Solche Belege lassen sich in zeitgenössischen Studien zur Lage der Nation zuhauf finden. Genauso verhält es sich mit dem Regierungsvertrauen: Es wird zyklisch erschüttert, doch bleibt es insgesamt mehrheitlich, im internationalen Vergleich ausserordentlich hoch, wie nicht zuletzt die arge Niederlage der Volksinitiative für eine Volkswahl des Bundesrates klar machte.
Diese Befunde stimmen mit grundlegenden Einschätzungen der Politikwissenschaft überein. Empirische Etudien zu den output-Leistungen des Systems Schweiz zeigen gerade im internationalen Vergleich, dass wir keinen gescheiterten Staat haben, vielmehr prägen hervorragende Leistungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt seinen Output. Unsere Hochschulen sind top, ebenso unsere Innovationsfähigkeit und die Attraktivität unseres Landes im Standortwettbewerb. Auch unsere Demokratieleistungen lassen sich sehen: Wenn es um die Realisierung von Freiheit, aber auch von Kontrolle des Staates geht, bekommen wir regelmässig Höchstnoten. Das ist einzig bei der Umsetzung von Gleichheit nicht immer der Fall: bei der Vertretung aller Bevölkerungsgruppen in den Behörden, bei der Partizipation der jungen Generation an Wahlen und Abstimmungen und bei der Transparenz des Politikbetriebes happert es bisweilen. Insgesamt kritischer sind die Befunde der Politikwissenschaft inputseitig: Steigende Zahlen lancierter, aber auch angenommener Volksinitiativen sind ein Zeichen vernachlässigter Probleme. Fragmentierung des Parteiensystems mit erschwerter Mehrheitsbildung schwächen die gezielte politische Schwerpunktsetzung. Und die Krise von diverser Interessengruppen belegt, dass die politische Steuerung, wie sie im Verbandssstaat Schweiz angedacht worden ist, von rückläufiger Bedeutung ist. Stark geändert hat sich auch der throughput: Wichtige Entscheidungen auf der Basis des Konsenses oder mittels breitem Kompromiss sind selten geworden. Es dominiert die Allianzbildung unter den Akteuren, die auf Mehrheitsentscheidungen von rechts oder links angelegt sind, selbst wenn am Ende das Referendum droht. Das alles geht einher mit einer Krise des Neokorporatismus, die zwei neue Formen der politischen Steuerung sichtbar werden lässt: die Technokratie der alternativlosen Postpolitiken einerseits, der Populismus anderseits, angeführt von immer staatskritischeren Medien. Ersteres ist demokratisch schwach legitimiert, aber leistungsfähig, insbesondere dank einer professionalisierten Verwaltung; zweiteres kann sich bisweilen auf Volksabstimmungen stützen, wenn auch damit nur ein Teil der politischen Problemlagen erhellt wird.

Vor- und Nachteil des Systems in Schräglage

Adrian Vatter, exponenten der jüngeren Generation Berner Politikwissenschafter, spricht in seinem Buch zum politischen System der Schweiz, das dieser Tage erscheint, von einem “System in Schräglage”, denn sein institutionelles Fundament ist unverändert auf Konsensfindung, Föderalismus und direkte Demokratie angelegt; das Eliteverhalten jedoch passt nicht mehr zu diesen Voraussetzungen: vom Vorbild der Konkordanzdemokratie bewegt sich die Schweiz deshalb hin zum Normalfall dieses Demokratiemusters – mit seinen unbestrittenen Leistungen, aber auch mit neuen Problemen.
Um es klar zu machen, Pluralisierung der Diagnosen, Allianzbildungen von Fall zu Fall, nicht vorgefertige Entscheidungen haben den innenpolitischen Diskurs zweifellos belebt. Sie machen innenpolitische Entscheidungen nicht einfacher, aber flexibler in der Antwort auf Herausforderungen. Das hat in der Bankenfrage und bei der Energiewende Dynamik gebracht, die man durchaus als Vorteil sehen kann. Von Nachteil ist es aber, wenn es um die aussenpolitische Handlungsfähigkeit geht. Diese hat arg gelitten, und sie ist zurecht die Quelle des eigentlichen Unbehagens von heute. Die Eliten der Schweiz in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft, die sich alle auseinander entwickelt haben, sind gefordert, neue übergreifende Netzwerke zu entwickeln, welche daran arbeiten, rechtzeitig nationale Interessen im internationalen Umfeld zu identifizieren, verbunden mit Lösungen, die breit getragen werden und damit von der Politik als legitime Handelungsanweisungen übernommen werden können.

Claude Longchamp

Im gegenwärtigen Abstimmungskampf legen die Gegner aller Vorlagen zu

Harte Zeiten für InitiantInnen und Behörden. Denn im laufenden Abstimmungskampf legen die Gegner aller drei Vorlage teils kräftig zu.

Bei Volksinitiativen überrascht der negative Trend nicht wirklich. Es ist eine bekannte Regel, dass sie gut starten und schlechter enden. Stets nimmt der Nein-Anteil in Umfragen zu und der Ja-Anteil meist insbesondere bei jenen ab, die eher dafür waren. Hauptgrund ist der Szenenwechsel: Am Anfang eines Meinungsbildungsprozesses beurteilt man vor allem das mit der Initiative angesprochene Problem, am Schluss die mit dem Begehren vorgeschlagene Lösung.
entw

Grafik anclicken, um sie zu vergrössern.

Bei der 1:12 Initiative heisst das: Zuerst dominierte die Problematik der aufgegangenen Lohnschere, quantitativ, aber auch ethisch. Entsprechend führten die InitiantInnen einen Diskurs zur Lohngerechtigkeit. Je länger die Kampagne dauert, umso mehr spricht man über die Schwächen der Initiative: die Regelung der Löhne durch den Staat und die Folgen für Steuern und Sozialversicherung. Die Befragung zeigt, dass sich die Meinungsbildung genau in diesem Dreieck von ersterem zu letzteren verlagerte und so auch die Stimmabsichten von rechts bis über die Mitte hinaus veränderte.
Bei der Familieninitiative kann das allgemeine Gesetz wie folgt ausgedeutscht werden: Begünstigungen bestimmter Familienmodell durch den Staat sind den Stimmberechtigten ein Dorn im Auge. Mit genau diesem Anker ist die Initiative gestartet, und sie hatte breite Sympathien. Seither holt die Gegnerschaft auf: Mit den Steuerausfällen für Bund und Kantone, aber auch mit der Nebenwirkung der Initiative auf die gewollte Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das begründet den Meinungswandel namentlich bei (links)liberalen Wählerschichten vom anfänglichen Ja ins heutige Nein.
Bei der Autobahnvignette überraschen die Befragungsergebnisse jedoch. Denn der Normalfall bei einer Behördenvorlage besteht darin, dass sich die Unschlüssigen (in einem offenen Verhältnis) auf beide Seiten verteilen. Wäre das geschehen, hätte der Ja-Anteil mindestens leicht ansteigen müssen und die Vignetten-Vorlage wäre wohl angenommen worden. Angesichts der jetzigen Umfragewerte muss genau das offen bleiben. Denn auch hier nahm die Ablehnungsbereitschaft zu, und es verringerte sich die Zustimmungstendenz.
Erster Grund dafür sind Elite/Basis-Konflikte. Für die Zunahme der Opposition ist der Trend in der FDP relevant: Als Partei befürwortet sie die Vorlage; ihre Wählerschaft konnte sie aber mehrheitlich nicht überzeugen. Zweitens: Von der Nein-Botschaften mitgenommen werden auch die parteipolitsche Ungebundenen. Hier vergrösserte sich nicht nur der Nein-Anteil überdurchschnittlich, es nimmt auch die Teilnahmebereitschaft gerade dieser Bevölkerungsgruppe zu. Drittens, die Betroffenheit als AutofahrerInnen wirkt sich in der Meinungsbildung zugunsten der Opponenten aus. Je mehr Autos man hat, desto eher ist man dagegen.
Damit ist die SVP, welche das Referendum lancierte, nicht mehr allein; vielmehr tragen weite Teile der rechtsbürgerlich gesinnten StimmbürgerInnen und AutofahrerInnen die generelle Kritik an Gebühren und Abgaben. Etabliert hat sich so ein Diskurs, der von jenem im Parlament und der federführenden Bundesrätin abweicht. Die Behördenposition prägte somit auch den Medientenor und thematisierte primär die Sicherheit auf den Strassen. Dieser Diskurs rechtfertigte die einmalige Erhöhung des Vignettenpreises nach fast 20 Jahren Stillstand.
Claude Longchamp

Deutsche mit ihrer Demokratie unter-, Schweizer mit ihrer überfordert

Ein Ländervergleich zeigt: Direktdemokratie formt aktivere und anspruchsvollere BürgerInnen als die übliche Wahldemokratie.

Susanne Pickel ist eine ausgesprochene Spezialistin für Fragen der Politische Kultur. In einem Sammelband zu “Abstimmungskampagnen“, dieser Tage im Springer-Verlag erschienen, hat die Politologin der Universität Duisburg-Essen einen bemerkenswerten Vergleich der Politkulturen von Wahl- und Abstimmungsdemokratie vorgelegt, ausgearbeitet an den Unterschieden der generellen Einstellungen zu Staat und sich selber in Deutschland und der Schweiz.

Ihre Hauptergebnisse: Deutsche stehen ihren Regierenden “wesentlich skeptischer” gegenüber als SchweizerInnen. Letzter sind dafür “interessierter und aktiver” ins politische Geschehen integriert. Im Gesamtüberblick über Befragungsdaten erfüllen die SchweizerInnen die Erwartungen an “partizipierende Demokraten”, wie sie die Gründerväter der politischen Kulturforschung formuliert hatten, nahezu mustergültig, resümierte Pickel. Demgegenüber tendierten die Deutsche dazu, “kritische DemokratInnen” zu sein. Erstere zeichneten sich durch eine hohe Legitimation des Systems, grösser Zufriedenheit mit den Leistungen und vermehrtem Input als BürgerIn aus. Zweitere sind vorwiegend an den Systemleistungen interessiert, sehen Mitsprache als Teil der akzeptierten Demokratie, aber ohne die Möglichkeiten, sich einzubringen.

Immerhin, das sind nur die globalen Resultate des Ländervergleichs. Je eine Gruppe weicht in beiden Ländern interessanterweise ab: In Deutschland hätte knapp ein Drittel der BürgerInnen gerne mehr eigenen Teilhabe in politischen Fragen; sie befürworten direktdemokratische Mitsprachemöglichkeiten recht generell, analysiert die Politologin. In der Schweiz finden 43 Prozent, es wäre gut, würden die Regierenden mehr Verantwortung tragen. Die deutschen “AbweichlerInnen” sind über dem Mittel jung, gut gebildet und haben hohe Einkommen, kurz entsprechen dem Bild der PostmaterialistInnen. Die Gegengruppe in der Schweiz ist zwar auch jung, doch stammt sie eher aus den unteren Bildungs- und Einkommenschichten. Mit ihrem Rucksack aus der Schule mögen sie im anspruchsvollen Politsystem der Schweiz nicht mithalten; auch finden sie ihre materiellen Interessen zu wenig repräsentiert. Entsprechend haben sie überdurchschnittliches Vertrauen in Gruppen wie Gewerkschaften, die stellvertretend für sie ihre Interessen verteidigten. Sie neigen aber auch zu polisichen Parteien, die ihre Forderungen mit klaren und einfachen Botschaften unter die Leute brächten.

Oder einfach gesagt: Teile der Deutschen fühlen sich mit ihrer Demokratie unter-, Teile der SchweizerInnen überfordert. Demokratie als solche ist in beiden Ländern unbestritten. Die für die politische Kulturforschung aber massgebliche Uebereinstimmung von Institutionen und Denkweise der Massen ist in Deutschland wie auch in der Schweiz nicht umfassend gegeben. Beides spricht für einen Entwicklungsbedarf der Institutionen. In Deutschland ist mehr Partizipation angesagt, in der Schewiz effektivere Repräsentation im politischen Prozess.

Ganz neu sind die Einsichten von Susanne Pickel nicht. Vor wenigen Jahren habe ich an einem entsprechenden Ländervergleich, der auch Oesterreich miteinschloss, gearbeitet; die Partizipationsdefizite namentlich den jungen Altersgruppen war auch da ein grosses Thema. Die Studie von Pickel leitet die Befunde aber theoretisch stringent her, und sie sind empirisch gut abgestützt. Zudem zeigen sie, das die sehr unterschiedlich ausgestalteten demokratischen Institutionen von der politischen Kultur her durchaus Vergleichsaspekte haben, die zu Annäherungen auf der Systemebene führen könnten.

Claude Longchamp