Die BDP-Wählerschaft wissenschaftlich durchleuchtet

Die neue Mitte als rationaler Protest gegen Leistungen und Politikstile der polarisierenden Parteien, aber auch als verändertes Teilnahmeverhalten bisheriger Nichtwähler, für die die alte Mitte nicht mehr überzeugt. Das ist die Quintessenz eines Forschungsseminars an der Uni Zürich zu den Nationalratswahlen 2011.

Unbenannt
Gut lachen: Martin Bäumle (glp.) und Hans-Ueli Grunder (BDP), die Präsidenten der Wahlsieger 2011

Die “neue Mitte” war das Thema der Erstanalysen zu den Nationalratswahlen 2011. BDP und GLP waren mit je 5 Prozent Wählenden-Anteile die eigentlichen Wahlsiegerinnen. Und das Zentrum, bestehend aus CVP, BDP und GLP schien in Griffweite, einen Gegenpol zu den polarisierenden Kräften in der Schweizer Parteienlandschaft bilden zu können.

Zwischenzeitlich weiss man es: Die Mitte ist parteipolitisch fragmentierter denn je; umso mehr interessiert, was aus den beiden neuen Parteien wird, nicht zuletzt, weil sie sich in den kantonalen Parlamentswahlen erneut empfehlen konnten. Genau dieser Fragestellung ist ein Forschungsseminar an der Uni Zürich nachgegangen. Unter der Leitung von Silja Häusermann, neue Professorin für Schweizer Politik, forschten junge Studierende ein Jahr lang. Die Selects-Daten boten die Grundlage, auf der sie Aussagen prüften, die man aus den Wahltheorien oder aus dem politischen Diskurs ableiten kann. Innovativ sind die Ergebnisse vor allem zur BDP, wie eine Präsentation der Resultate diese Woche am Institut für Politikwissenschaften zeigte.

Die wohl verbreitetste Auffassung zur BDP betrifft die Unterstützung von Bundesärtin Eveline Widmer-Schlumpf. Was entwicklungsgeschichtlich durchaus Sinn macht, muss aus Sicht der Wählenden nicht unbedingt stimmen, habe ich mein Wissen hierzu erweitert. Tobias Bolliger kommt in seiner Arbeit zum bisher nicht erwarteten Schluss, die Themenwahl sei bei der Entscheidung für die BDP mindestens so wichtig gewesen wie die Personenwahl. Das treffe insbesondere für die Migrationspolitik zu, bei der das nicht-xenophobe Angebot der neuen Partei auch konservativer Menschen überzeugt habe. Auf die Energie- und Umweltpolitik, im Gefolge des Atomunfalls in Fukushima für viele Gewählte der BDP eine vorrangiges Thema, liesse sich der Befund allerdings nicht übertragen. Gleich zwei Frauen haben sich mit der Frage beschäftigt, welche Grundüberzeugungen die BDP-Wählerschaft teilten. So unterschiedlich sie es ausführen, Anna Raschle und Chantal Schaller können beide unabhängig voneinander nachweisen, dass die Ablehnung von Christoph Blocher einerseits, das Vertrauen in die Institutionen der Schweiz anderseits die beiden zentralen Determinanten der BDP-Wahl seien.

Etwas gewagt fragte sich Carlo Bundi, ob die BDP das Elite-Pendant zur SVP sei. Immerhin, er kann nachweisen, dass die Bildungszusammensetzung beider Parteien ungleich ausfällt. Insbesondere bei sozio-kulturellen SpezialistInnen, beispielsweise bei AerztInnen und Angehörigen anderen liberalen Professionen bestehe eine Tendenz, die BDP vorzuziehen, nicht aber bei Bauersleuten. Mehr noch als das erhellt der zweite Hinweise die Sozialstruktur der neuen Partei: Die BDP ist mehrheitlich ein Phänomen der reformierten Wählenden. Das bestätigt auch Jonas Raeber, der jene Wählenden untersuchte, die sagten, sie könnten sich vorstellen sowohl BDP wie auch CVP zu wählen. Schliesslich gingen die KatholikInnen unter ihnen vermehrt zur CVP, die reformierten zur BDP. Auch das Geschlecht spielte eine Rolle: Frauen fühlten sich von der CVP mehr angezogen, während Männer die BDP eher bevorzugten.

Die wohl interessantes Analyse der “neuen Mitte” hat Jacqueline Büchi vorgelegt. Sie formulierte fünf Hypothesen, warum man 2011 zu einer neuen Partei stiess: Weil man kein Vetrauen in keine Partei mehr habe, weil man enttäuscht über die politischen Leistungen der 2007 gewählten Partei sei, weil man deren politischen Stil nicht mehr teile, weil eine Synthese aus Anforderungen der Wirtschaft und der Umwelt angestrebt werde oder weil man mit der alten Mitte nicht zufrieden gewesen sei. Ihre systematisch für GLP und BDP ermittelten Analysen fasst sie unter dem Stichwort der rationalen Protestwahl zusammenfassen: BDP- wie GLP Wählende zeigen keine überdurschschnittliche Politikverdrossenheit; sie handelten vielmehr durchaus vernünftig. Enttäuschte der alten Mitte stiessen zur einer der beiden, wenn sie erstmals (wieder) wählen gingen. Ablehnung von Leistungen oder Auftritt der bisherigen Partei motivierte vor allem Teile der GPS zur GLP zu wechseln, derweil dieses Phänomen bei SVP- oder FDP-Wählenden zu einem Switch zur BDP führten. Nur bei SP-Wählenden, die zur BDP wechselten, versagte ihre Theorie.

Spannend fand ich auch die Präsentationsart. Statt der üblichen Seminararbeiten mit powerpoint-Folien stellten die Studierenden ihre Fragestellungen, Theorien, Hypothesen, Daten, Analyseverfahren und Ergebnisse auf je einem A3 Poster vor, dass sie den interessierten Gästen mündlich ausführten. Das zwingt, so mein Eindruck, schneller zu klaren Aussagen zu kommen, was Sache ist und was nicht. Mindestens bei der BDP hatte ich den Eindruck mehr gelernt zu haben, als ich aus den bisherigen Berichten über die Selects-Daten entnehmen konnte. Das ist ein vielversprechender Anfang, dank präzisen Fragestellungen und modernen Analysemethoden mehr über den aktuellen Wandel des Parteiensystems in der Schweiz zu erfahren. Gratulation an alle, die das Wagnis eingegangen sind!

Claude Longchamp

Symptomatischer Zeitenwandel

Anders als gewohnt, ist der Verlauf der Meinungsbildung zur Volkswahl des Bundesrats. Denn bei Volksinitiativen ist es üblich, dass sich mit dem Abstimmungskampf das Nein aufbaut, während das Ja abnimmt. Nun zeigt der Vergleich der beiden Trendbefragungen hierzu, welche das Forschungsinstitut gfs.bern realisiert hat, faktisch eine Konstanz. Was sind die Gründe?

Erstens gilt es zu betonen, dass die Zustimmung zur Volksinitiative schon mit der ersten Befragung tief war. Man könnte argumentieren, der bekannte Meinungsumschwung, der sonst im Abstimmungskampf geschieht, habe schon vorher stattgefunden. In der Tat war die Meinungsbildung schon zu einem frühen Zeitpunkt in weiten Kreisen der interessierten Bürgerschaft fortgeschritten.
Zweitens, reduziert auf die Kernwählerschaft, zeigt die Kampagne der SVP durchaus Wirkungen: Die Geschlossenheit ihrer WählerInnen ist in der zweiten Erhebung höher als in der ersten. Gestiegen ist die Zustimmung auch bei Parteiungebundenen. Zugenommen hat die Ja-Absicht weiter bei regierungsmisstrauischen BürgerInnen, genau so wie bei den untersten Einkommensklassen. Doch sind die Veränderungen geringer als sonst.
Drittens, die Polarisierung hat nicht zwischen der Rechten und der Linken stattgefunden. Faktisch stehen sich die Wählenden des SVP und die Basen aller anderen Parteien gegenüber. Es fehlt das Interesse namentlich der WählerInnen von FDP und CVP, sich der SVP in dieser Sache anzuschliessen. Die Nein-Parolen sitzen, und sie werden auch grossräumig befolgt.

Regierungsvertrauen
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Institutionelle Neuerungen haben es deutlich schwieriger als Politikwechsel. Das zeigt nur schon der Vergleich mit der anderen Abstimmungsvorlage, über die am 9. Juni entschieden wird. Denn eine Verschärfung der Asylpolitik geht weitgehend problemlos durch das Parlament. Die bürgerlichen Allianzen funktionieren hier gut, und die Wählerschaften von rechts bis in die Mitte ziehen nach.
Zahlreiche Volksabstimmungen der letzten 15 Jahren legen nahe, wie schwer es in der Schweiz ist, via Volksabstimmungen einen Wandel der Institutionen durchzusetzen. Drei grosse Projekte, die von rechts lanciert wurden, scheiterten deutlich: Die Beschleunigungsinitiative, welche kürzere Fristen verlangt, während denen über eine Volksinitiativen entschieden werden müssen, wurde im Jahre 2000 mit 70 zu 30 abgelehnt. Gar drei Viertel der Stimmenden votierten gegen die sog. Maulkorb-Initiative, mit der die Opponenten versuchten, den Aktionsspielraum des Bundesrates in Abstimmungskämpfen einzuengen. Genau gleich viele stimmten vor Jahresfrist gegen die Erweiterung des geltenden Staatsvertragsreferendum auf alle Staatsverträge.

Zwar hat die SVP mit dem Extrablatt versucht, nach bekannter, populistischer Manier ihre Kampagne in Gang zu bringen: Der Untergang der Schweiz wurde prognostiziert, und die Volkswahl des Bundesrats wurde als das Mittel zur Lösung zahlreicher Sachfragen propagiert. Nur blieb die erwartete Reaktion weitgehend aus. Man kann sich durchaus die Frage stellen, ob die Zeit für (Rechts-)Populismus vorbei ist?
Das gegenwärtige Klima wird durch das Missfallen an den Managerboni in international tätigen Firmen definitiert. Die angenommenen Minder-Initiative leistete ihre Beitrag dazu; die anhaltende Aufmerksamkeit für die 1:12 Initiative zeigt, wie nachhaltig die so eingeleitete Veränderung wirkt.
Das verblasst selber die Kritik an der classe politique, ausgelöst durch den UNO-Beitritt im Jahre 2002. Vorbei sind auch die Ängste, die Schweiz werde unter den den Folgen der globalen Finanzmarktkrise leiden. Die Wirtschaftszahlen sprechen eine Sprache für sich, und die Politik hat sich als flexibel genug erwiesen, um auf die Probleme wie den hohen Frankenkurs rechtzeitig zu reagieren. Sie hat damit einen Teil des Vertrauens zurückerobert, das durch verdrängte Themen resp. blockierte Entscheidungen durch Schwarz-Weiss-MalerInnen entstanden ist.
Die neuen Herausforderungen finden sich beim internationalem Druck auf die Schweiz, die vernünftige Positionen der Interessenvertretung in einem gewandelten Umfeld einnehmen sollte. Wiederholte Abstimmungen zu gleichen oder verwandten Fragen lösen da keine grossen Diskussionen mehr aus. Ihnen fehlt das Momentum, das sie noch vor kurzer Zeit zum allgemeinen Reisser werden liess. Denn die Polarisierung aus parteitaktischen Gründen ist heute weniger denn je angesagt.

Claude Longchamp

Das auf Luft gebaute Ja


Eines sei gleich zu Beginn gesagt: Meine nachfolgende Kritik an der Berichterstattung zur resp. an der Umfrage von Marketagent.com zur “1:12 Initiative” heisst nicht, dass sie zwingend falsch ist. Ich mache die nachstehenden Ausführungen, weil bedeutende Elemente der Qualitätssicherung bei der Befragung ausgelassen wurden. Das darf nich sein und sollte sich nicht wiederholen.

Das Medienereignis
“Umfrage prognostiziert Mehrheit für 1:12 Initiative“, titelt die Online-Plattform des Tages-Anzeigers. Berichtet wird über eine Erhebung des österreichischen Instituts Margetagent.com, welche die “Schweiz am Sonntag” in ihrer heutigen Ausgabe veröffentlich hat. Da hiess es im Titel: „1:12 Initiative: Ja liegt in der Luft“.
Resultat: 55 Prozent sind für die 1:12 Initiative, 28 Prozent dagegen und 17 Prozent unentschieden. Signifikante Unterschiede gäbe es zwischen den Geschlechtern, dem Alter und den Sprachregionen, heisst es. Frauen, Rentner und Romand(e)s seien vermehrt dafür; Männer, Junge und Deutschschweizer weniger begeistert.

Die Datengrundlage
265 Kommentare löste die Publikation bis am Abend auf newsnet aus. Eine beachtliche Zahl! Weniger erbauend ist, dass die Befragung selber nur 475 Teilnehmende hatte. Realisiert wurde sie zwischen dem 3. und 10. Mai. Die Ergebnisse der auskunftswilligen Personen wurden in der Folge gewichtet, um nach Geschlecht, Alter, Bildungsniveau und Sprachregionen ein kleines Abbild der Schweizer Gesellschaft zu bekommen. Wie viele Personen in jeder Kategorie befragt wurden, erfährt man nirgends.
Ueberhaupt: Auf was sich die Prozentwerte beziehen, bleibt in allen journalistischen Publikationen des Tages verborgen: auf Teilnahmewillige, also diejenigen, die sich so verhalten würde, wie wenn eine Abstimmung wäre? – oder auf Stimmberechtigte, also ob bei Schweizer Volksabstimmungen sich jemals alle beteiligen würden? – Auf Nachfrage beim Erstautor des Artikels bestätigt dieser, die Zahlen würden sich auf die Stimmberechtigten beziehen. Das ist zwar besser als EinwohnerInnen, aber dennoch unzureichend. Ich wette: 100 Prozent wird die Beteiligung auch bei dieser Initiative nicht sein!

Der unstatthafte Trendvergleich
Trotzdem: In der Folge wird im Bericht der Schweiz am Sonntag ein Bezug gemacht zu einer früheren Umfrage in gleicher Sache, von einem anderen Institut und mit anderer Methode. Die Zustimmungsrate sei deshalb überraschend hoch, heisst es.
Die Initianten freut das Unwahrscheinliche: „Jajajajajaja“, twittert Initiativ-Mentor Cedric Wermuth, „1zu12 auf dem Vormarsch“. Wiederum kein Wort bei wem, und schon gar nicht, dass man beim Vergleich eine andere Basis berücksichtigt hat. Denn die beigezogene Isopublic-Umfrage bezog sich auf jene mit einer einigermassen vorhandenen Beteiligungsabsicht. Das ist, wie wenn man Birnen mit aepfeln vergleicht.

Die Qualitätssicherung
Um solche Missbräuche zu verhindern, hat sich der Verband Schweizer Marktforschungsinstitute VSMS 2012 eine verschärfte Satzung erlassen, welche die Qualitätssicherung bei veröffentlichten Umfragen regelt: Grundgesamtheit, Auswahlverfahren, Stichprobengrösse und Befragungszeitraum müssen bekannt sein. Und, Angaben zu Stimmabsichten sollen auf Teilnahmewilligen gemacht werden, heisst es im Reglement ferner.
Davon sind gemäss Briefing von Marketagent.com mindestens 2 nicht. Das alleine würde eigentlich heissen: Hände weg!
Ueberraschend ist der faux-pas nicht: Gross geworden ist das Unternehmen aus der Wiener Neustadt in Oesterreich, wo publizierte Umfragen zu Wahlen in der vorgelegten Machart verbreitet sind, aber auch häufig kritisiert werden. In der Schweiz unterhält man seit einigen Jahren eine Zweigstelle. Die hiesigen Richtlinien in der Schweiz interessieren jedoch nicht. Da muss der Schweizer Branchenverband aktiv werden.

Marketing oder Information?
Es bleibt der Verdacht: Da hat sich ein Aussenseiter ins Spiel gebracht, um Aufmerksamkeit zu erheischen; und Schweiz am Sonntag liess sich von dieser Marketingaktion instrumentalisieren.
Aus methodischer Sicht ist an der Umfrage dreierlei fragwürdig: Die Befragtenzahl, die klar unter den minimal geforderten 1000 liegt; die intransparente Gewichtung, die namentlich bezüglich des Alters von Belang ist, denn bei Online-Erhebungen fehlen RentnerInnen in genügender Zahl, und die Trendaussage, die auf einem Birnen-Apfel-Vergleich basiert, was nicht statthaft ist.
Wer sich länger mit Abstimmungsbefragungen beschäftigt hat, weiss zudem: Initiativen beginnen im Befragungen fast immer besser, als sie enden. 10 Prozent Meinungswandel im Ja-Anteil ist üblich. Das hat man dank seriöser Umfragen gelernt, die auch zeigen warum: Denn mit der Meinungsbildung ändert sich die Perspektive auf eine Initiative. Vor einer Kampagne ist sie problemorientiert, bei der Abstimmung indessen auf die Folgen ausgerichtet; beides muss nicht gleich sein.

Der Ausblick: Was kommen kann
Ueber solche Fragen zu berichten, hätte aber die Publikationsabsicht zerstört, denn die Umfrage legte – so sie stimmt – richtig eingeordnet eher ein Nein als ein Ja zur 1:12 Initiative nahe.
Der erwartbare Meinungswandel bleibt übrigens aus, wenn der Problemdruck hoch ist, die Initiative keine Fallstricke kennt, keine Ueberraschungsmomente kurz vor der Entscheidung die Zustimmung stützen und die Nein-Seite keine schlechte Kampagne macht. Die beiden letzten Punkte kann man gar nicht prognostizieren. Schwachstelle der Initiative dürfte sein, dass sie von ganz links kommt und damit für Mitte- und Rechtswählende kaum Unterstützung erhalten dürfte. Offen ist eigentlich nur, wie gross der Problemdruck seitens der BürgerInnen eingestuft wird. Dazu wäre eine umfassende, unvoreingenommen konzipierte und methodisch gut gemachte Umfrage durchaus sinnvoll.

Claude Longchamp

Das Wissen und Können von ExpertInnen (der Zukunft)

Gestern war meine letzte Zürcher Lehrveranstaltung im Frühlingssemester zur Wahlforschung in Theorie und Praxis. Sie war ganz dem Phänomen der Experten (im Wahlgeschehen) gewidmet.

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Die Grafik zeigt die Häufigkeit der Zitierung von PolitexpertInnen in den Schweizer Printmedien 2012-2013
Grafik anclicken, um sie zu vergrösserm, Quelle: SMD/gfs.bern

Schattenregime der Politologen?“, fragte die Bernerzeitung im Vorfeld der letzten Nationalratswahlen. Ausführlich beschrieben wurde namentlich die Medienpräsenz der PolitikwissenschafterInnen. Analysiert wurde, dass es sich dabei um einen Markt handelt, nachgefragt durch die Medien, mit Anboten seitens der Sozialwissenschaften. Im Vergleich zum Ausland ist die Präsenz tatsächlich beträchtlich, hauptsächlich wegen dem Fehlen von Denkfabriken und Stiftungen, die meist Fürsprecher einer Partei oder einer Weltanschauung sind. Kriterien der Medieneignung von PolitologInnenen an Universitäten oder ausserhalb seien bespielsweise die Wissenschaftlichkeit, die Relevanz, die Originalität, die Präzision, die Prägnanz, die Geschwindigkeit, der Unterhaltungswert und die Ueberparteilichkeit.

Dem stellte ich meine eigene Analyse gegenüber. Hauptgrund ist, dass ich kein PolitologInnen-Regime erkennen man, vor allem weil diese letztlich individualistische Akteure sind, unter sich eher konkurrenziv als kooperativ agieren. Um ihr Profil zu bestimmen, muss man zuallererst unterscheiden, wie sich ihre Reputation in- und ausserhalb der Universität entwickelt. Innerhalb der Institution definieren Autoritäten, seien sie Vorgesetzte oder FachkollegInnen den Ruf eines/einer WissenschafterIn. Zentrales Kriterium ist die Produktion von wissenschaftlichen Schriften, verbunden mit deren Zitierhäufigkeit, vorzugsweise in angelsächsischen Zeitschriften. Damit dominiert die top-down-Logik. Ausserhalb der Universität ist die bottom-up-Perspektive viel wichtiger. Es gibt Kundschaft bei Parteien, PolitikerInnen, bei Massenmedien und politischen Kommunikatoren. Massgeblich für Wissenschafter in der Praxis ist der Erwerb von symbolischem Kapital, zusammengesetzt aus Wissen und Können, Netzwerken und ökonomisch relevanten Mandaten, die man erworben hat. Denn er der Experte ist der (vielfach) erprobte. Gleichzeitig muss dieses symbolische Kapital sichtbar sein, beispielsweise durch Medienpräsenz.

In meiner Erfahrung sind die Fähigkeit zur Diagnose, zur Erklärung und zur Prognose die drei Kernkompetenzen der ExpertInnen. Das setzt breite Kenntnisse der Theorien in der Fachdiskussion voraus, bleibt aber nicht dabei stehen. Erwartet wird, dass man diese nutzen kann, um bei vorhandenen Problemen neuen Lösungen entwickeln zu können. Ohne die Fähigkeit, sowohl im Abstrakten wie auch im Konkreten denken zu können funktioniert das nicht. Mein Anforderungskatalog umfasst Schnelligkeit, Zuverlässigkeit, Verständlichkeit, Debatten- und Medienerprobtheit und, ganz besonders für die Schweiz, Mehrsprachigkeit in Wort und Schrift in mindestens zwei Landessprachen.

ExpertInnen, folgerte ich zuhanden des studentischen Publikums, müssen verschiedene Rollen entwickeln Lernen: gegenüber der Kundschaft, aber auch gegenüber den Medien. Sie sind BerichterstatterInnen, GutachterInnen, AnalystInnen AnimatorInnen, ModeratorInnen, Coach, sie verfassen Bücher, schreiben Kolumnen, geben Interviews, mischen sich mit Blogs ein, Twittern und beliefern Mandanten und Medien auf Nachfrage.

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Die Grafik zeigt den Verlauf der Präsenz von Gewährspersonen im Spiegel in den letzten 65 Jahren
Grafik anclicken, um sie zu vergrösserm, Quelle: surveillance and security

Geschlossen habe ich leicht pessimistisch. Amerikanische Studien verweisen seit einiger Zeit darauf, dass die Nachfrage nach zitierten Experten sinke. Gleiches hielt jüngst auch eine Auswertung des Spiegel über die letzten 60 Jahre fest. Vielleicht sind wir heute in einer weiteren Umbruchszeit: die erste war um 1970, als ProfessorInnen von ExpertenInnen und ForscherInnen abgelöst wurde, die zweite fand eher schleichend in den letzten 10 Jahren statt, wohl weil entpersonalisierte Expertensysteme personalisierte Gewährsleute abzulösen beginnen.

Meinen Studierenden riet ich am Ende der Lehrveranstaltung dennoch zu Optimismus. Sie sollten in frei zugänglichen Wikis aktiv zu werden, denn das sei die kommende Angebotsform wenigstens des ExpertInnenwissen. Das Expertenkönnen wird davon nicht so schnell erfasst sein. Insofern hätten auch sie durchaus Chancen.

Claude Longchamp

Parteien in Kantonsregierungen – Bilanz und Analyse

In Neuenburg kippte die vormals rechte Regierung nach links. SP und SVP legten zu; die FDP verlor innert vier Jahren zwei ihrer drei bisherigen Sitze. Zufall oder System?

Die neuen Uebersichten
Zwei interessante Statistiken habe ich der gestrigen Tagespresse entnommen, um den Politikwechsel im Jurakanton einzuordnen:

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Die “BernerZeitung” (nicht auf dem web) zählte aufgrund einer Dokumentation beim ZdA die gewählten RegierungsrätInnen in allen Kantonen nach Parteien zusammen. Demnach führt die FDP mit 43 Sitzen die Rangliste der Regierungsparteien an. An zweiter Stelle befindet sich die CVP mit 38 Mandaten, gefolgt von der SP mit 33 Sitzen, der SVP mit 21, der GPS mit 10 und der BDP mit 4. Wichtiger noch sind die Trends: Klare Verliererin der letzten zwei Jahrzehnte ist die CVP, gefolgt von der FDP, während SP und SVP zulegen konnten.

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Anders der “Bund”: Da wurden, aufgrund einer Datenbank bei sotomo die Sitze nach Bevölkerungsstärke der Kantone gewichtet. Siehe da: Mit der Neuenburger Wahl löste die SP die FDP als stärkste Kraft in alle Kantonsregierungen ab, es reihen sich CVP, SVP, GPS und BDP in der Folge ein. Auch die Trends variieren, denn die SP- und GPS gewinnen über die Zeit hinweg an Gewicht, ebenso die BDP, während alle anderen verlieren.

Beide Vorgehensweisen haben ihre Berechtigung. Sie zeigen entweder die politische Repräsentation auf, oder die statistische. Denn die Methode “Bund korrigiert unerwünschte Effekte durch unterschiedliche Grössen der Regierungen genauso wie sie die Ueberrepräsentation bevölkerungsschwacher Kanton in der BZ Uebersicht reduziert. Einges spricht deshalb für das Vorgehen von Michael Hermann, der die Grafik im Bund erstellt hat. Allerdings kann ich begrifflich dem Kolumnisten nicht folgen. Denn ich zweifle, dass es ein wachsendes linksbürgerlichen Spektrum gibt, das aus Prinzip SP und Grüne bei Parlamentswahlen links liegen lässt, aber mithilft, ihre KandidatInnen für Regierungsämter in Position zu bringen.

Die Analyse der neuen Konfliktlinien
Vom Bürgerblock sprach man in der Schweiz nach 1929, als die Vormachtstellung des Freisinns zerbrochen war und durch eine Allianz aus FDP, Katholischer Volkspartei (der Vorläuferpartei der CVP) und BGB (die Vorgängerin der SVP) ersetzt wurde, um den Bundesrat zu stellen. Mit Einführung der Zauberformel verschwand der Kampfbegriff zusehends; die Rede war eher vom bürgerlichen Lager. Seit den 90er Jahren macht aus das immer weniger Sinn, denn das bürgerliche Lager ist in Auflösung begriffen. Es ist Links- und Rechtsbürgerlichen zu differenzieren – eher der Alltagssprache der PolitikerInnen entlehnt, als eine wissenschaftlich anerkannte Kategorisierung – macht die Sache nicht besser.

Vielmehr legt die Analyse der Veränderungen in der parteipolitischen Tektonik eine neue Einteilung nahe. Die Eindimensionalität des Parteienspektrum, organisiert an der Verteilungsfrage, repräsentiert durch Weltanschauungen der Markt- und Staatswirtschaft, getragen vom Gegensatz zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, ist schrittweise aufgebrochen: Zuerst an die Oekologiefrage, die in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu zwei grösseren Linksparteien führte, die weltanschaulich beide einem sozialökologischen Kurs folgen, dann durch die Europäisierung der Schweizer Politik, mit der das vormals bürgerliche Lager in einen aussen- und einen binnenorientierte Fraktion gespalten bleibt. Oder anders gesagt: Politik kann nicht mehr auf das alte Links/Rechts-Schema reduziert werden, muss Verteilungsfragen und Kulturkonflikte berücksichtigen.

Elektoral hat das vor allem der SVP als klarster nationalkonservativer Kraft genützt – jedenfalls bei Parlamentswahlen. Die Veränderungen sind auf nationaler Ebene spektakulär; es gibt sie abgeschwächt aber auch auf kantonalem Niveau. Gelitten hat vor allem die CVP, beschränkt auch die FDP. Die linken Parteien erstarkten insgesamt, die Effekte sind aber seit Mitte der 00er Jahre auslaufend. Grund dafür ist die Abspaltung der GLP, die eine ökoliberale Position einnimmt, sich für den geordneten Ausstieg aus der Kernenergie ausspricht, wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch aber in der Mitte politisiert. Den Aufstieg der SVP gebremst hat die BDP, die auf bürgerlicher Basis politisiert, auf Machtpolitik aber verzichtet und offen für sachpolitisch neue Allianzen ist. Das gilt seit längerem auch für die EVP, gesellschaftspolitisch konservativ, umweltpolitisch indes auf Nachhaltigkeit ausgerichtet.

Vergleicht man nun gewichtete Parteistärken in den Kantonen auf Parlaments- und Regierungsebene, ist die Linke nicht mehr untervertreten, wie das bis in die 90er Jahre hinein der Fall war. Vielmehr stimmt ihr Regierungsanteil recht gut mit dem Kräfteverhältnissen der ökologisch aus gerichteten Parteien überein. Bezahlt haben diesen Politikwechsel namentlich die konservativen Parteien. Bei der SVP führt dies zu einer Untervertretung im in Regierungen, denn ihr Erstarken mit neuen Themen in den Parlamenten wurde durch Ausgrenzung von Links bis Mitte/Rechts quittiert. Selbst hat sie gelernt damit umzugehen, die Konkurrenz zu attaktieren, womit sie sich aber noch mehr isoliert hat. In den Kantonen vergleichsweise übervertreten sind die FDP und CVP, wobei der Rückgang bei dieser früher und deutlicher einsetzte, der Trend nun auch jene erfasst.

Wo bürgerliche Allianzen bei Regierungsratswahlen funktionieren, reicht das immer noch für Mehrheiten. Nur ist das selten geworden. Was sachpolitisch in den Parlamenten durchaus noch Sinn macht, scheitert oft schon in Volksabstimmungen, ganz sicher aber bei Regierungswahlen, denn da gehen die Interesse, selber im Schaufenster der Medien zu stehen, oft vor. Genau das aber verringert die Allianzfähigkeit, einem der entscheidenden Faktoren im Majorzwahlrecht, wie es bei den meisten Regierungsratswahlen zur Anwendung kommt, namentlich dann, wenn Regierungs- und Parlamentswahlen gleichzeitig ausgetragen werden.

Die Schlussfolgerung: Was bestimmt Regierungsratswahlen neuerdings?
Nicht ein linksbürgerliches Spektrum ist entstanden, das Parlaments- und Regierungswahlen unterschiedliche beenflussen würde: Vielmehr haben sich die Allianzbildungen, bis zum Ende des Kalten Krieges durch die klaren Links-/Rechts-Polarität im hergebrachten Sinn bestimmt, verändert. SP und GPS sind zwar Konkurrenten bei Parlamentswahlen, bei Regierungswahlen spannen sie aber fast durchwegs zusammen. Anders auf der rechten Seite. Die Fronstellung gegen den Sozialismus versagt, vor allem aus inneren Gründen, denn die Spaltung der rechten Parteien entlang der neuen kulturellen Konfliktlinie wirkt nach. Es kommt hinzu, dass sich die Parteienlandschaft verändert hat, wie die kleinen Parteien ohne klare Lagerzuordnung zeigt. Aktuell ist der Ausstieg aus der Kernenergie als eines der grossen Zukunftsprojekte mitbestimmend, was man bei Regierungsratswahlen wählt, und damit auch wem man seine Stimmen gibt.

Solange die Angebote von links solche Erwartungen der Wählenden bedienen und jene von rechts die aufgezeigten Schwächen behalten, ist nicht mit einer Abkehr von den Entwicklungen, wie sie in Neuenburg, aber auch anderswo zum Ausdruck kamen, zu rechnen. Testfall könnten die Wahlen im Kanton Bern werden, wo GLP und EVP angekündigt haben, der linken Mehrheit in der Regierung und der rechten Minderheit einen Zwischenblock gegenüber zu stellen.

Claude Longchamp

Warum neue Parteiprofile national und nicht kantonal entstehen und was das für Folgen hat

“Die CVP im Abwärtstrend“, schreibt die heutige Sonntagszeitung zu einer Verlaufsgrafik mit Parteistärken. Das ist gar nicht das, was mich interessiert; denn die Aussage stimmt für die letzten 25 Jahre fast ununterbrochen. Deshalb interessiert mich die dahinter liegende Dokumentation aus einer ganz anderen Warte.

Die nachstehende Grafik ist meines Erachtens deshalb erhellend, weil sie die Stärken der grösseren Parteien im Vergleich zwischen Kantonen und Bund darstellt. Dafür hat Michael Hermann, anders als in Uebersichten anderer, die kantonalen Ergebnisse nach Bevölkerungsstärke der Gliedstaaten gewichtet. Erst das verhindert, dass man nicht regional verzerrte Ergebnisse mit nationalen vergleicht.


Grafik anclikcen, um sie zu vergrössern, Quelle: SoZ/Sotomo

Nun zeigen die Parteistärken auf den verschiedenen Ebenen auffällige Unterschiede. National ist die SVP stärker als kantonal. Die Differenz war bis 1995 negativ, seither ist sie positiv. 2007 war der Höhepunkt, denn der Unterschied entwickelte sich 2011 zurück. Auch die SP war 1995 bis 2003 national stärker als kantonal, wenn auch nie in dem Masse, wie das für die SVP gilt. Minimal galt das auch an der Wende zu den 80er Jahren im 20. Jahrhundert. Bei der GPS gab es 2003 eine kleinere Differenz im genannten Sinne, sonst waren die Unterschiede kaum nennenswert. Ganz anders die FDP, die kantonal immer stärker war als national. Bis und mit heute! Die Differenz ist dabei seit den 90er Jahren erheblich. Tendenziell gilt das Gleiche für die CVP, wenn auch nicht so ausgeprägt. Nicht ganz einfach ist schliesslich die Beurteilung von GLP und BDP, denn Vergleiche sind nur 2011 möglich, mit eine Plus auf der nationalen Ebene.

Das Muster ist offensichtlich: Kantonale Wahlen sind, alles in allem, lange weniger polarisiert und seit neuestem weniger pluralisiert. Der Aufstieg der SVP, teilweise auch der SP und ganz beschränkt selber der GPS ist/war getrieben durch die Profilierung der Parteien via nationale Politik. Das hat verschiedene Gründe: Die Themen, die sich mit der EU- und Migrationsfragen, aber auch mit dem Klimawandel stellten, waren herausfordernder, verlangt nach schweizerischen, nicht kantonalen Lösungen. Die Medienberichte der überregionalen Zeitungen betonten entsprechend vermehrt das Gegensätzliche in den Parteiprogrammen. Die Werbung vor Wahlen, oder im Falle der SVP als permanente Sammlung, verstärkte die Effekte.

Es muss nicht einmal so sein, dass es namhafte Verschiebungen an Wechselwählenden zwischen kantonalen und nationalen Wahlen gibt. Denn die Mehrzahl der jüngeren Wahluntersuchungen zeigt, dass die Beteiligung ganz unterschiedlich ausfällt: Bei Nationalratswahlen ist sie zwischenzeitlich einiges höher als im Mittel der kantonalen Wahlen. Da mobilisieren erneuerte und neu Parteien besser als veraltete, die sich selber nicht reformieren können.

Verwiesen sei auch auf Parteifusionen: Sie entstanden wie bei der Freiheitspartei mit der SVP aus der übergeordneten Warte. Genau das gilt auch für die Parteiabspaltung der der BDP von der SVP, die aus dem Ersatz von Christoph Blocher durch Eveline Widmer-Schlumpf als SVP Vertretung im Bundesrat entstand. Vordergründig nicht ganz in dieses Schema passt die Entstehungsgeschichte der GLP, die ihren Ursprung im Kanton Zürich hat; durch die hohe Medialisierung von Züricher Ereignissen verbreitete sich das Phänomen jedoch national schneller und zieht auf der kantonalen Ebene nach.

Die stabilisierende Mitte, traditionellerweise gebildet aus FDP und CVP, ist so fast flächendeckend in Bedrängnis geraten: auf nationaler Ebene deutlicher als auf kantonaler, weshalb sich beide Parteien in den Gliedstaaten besser hielt als im Bund. Die Phänomene, auf die ich hier hinweise, müssen allerdings nicht von Dauer sein. Bei den Grünen lief der nationale Effekt von 2003 schon 2007 aus. Bei der SP hielt die Profilierung von 1995 bis 2003. Selbst bei der SVP scheint der Höhepunkt mit den Wahlen 2007 erreicht zu sein. Bleibt die Frage, was mit den beiden neuen Parteien 2015 geschieht.

Aktuell holen GLP und BDP kantonal das nach, was sie national vorgelegt haben. Das ist für beiden Parteien gut, denn es stabilisiert sie in den Regionen. Die SP profitierte nach 2011 sicher ein Jahr vom Schwung insbesondere aus den Ständeratswahlen; aktuell könnte das bereits auslaufen. GPS und FDP haben sich nach den Wahlniederlagen 2011 stabilisiert, während der Trend bei der SVP möglicherweise komplementär zu jenem bei der SP verläuft: 2012 war negativ, 2013 markiert möglicherweise eine Umkehr.

Bleibt die CVP: Ihre Niederlage bei den Nationalratswahlen 2011 hat den Eindruck von 2007, sich aufgefangen zu haben, zerstört. Umso schneller entwickelt sich seither der Niedergang der Mittepartei in der Ueberzahl der Kantone.

Claude Longchamp

Die SVP im Dilemma

Was ist los mit der SVP, fragte gestern die NZZ im Tageskommentar. Anlass bot die Kampagne zur Volkswahl des Bundesrates, die sich so offensichtlich von jenen unterscheidet, welche die SVP namentlich in Migrationsfragen zur erfolgreichsten Partei in der Schweiz gemacht hatte. Auf der Suche nach möglichen Chancen und Risiken der “neuen” SVP.

Vorbei scheinen die Zeiten, als die SVP selbst Verbündete provozierte, als die Partei mit ihren Plakaten regelmässig die Aufmerksamkeit der gesamten Öffentlichkeit auf sich zog und als man sich an den Tag, an dem ihre Abstimmungskampagnen eröffnet wurde, wegen markigen Aussagen so gut erinnern konnte. Vorbei auch die Phase, wo das alles sichere Erfolge brachte.

“Gratwanderung” bezeichnet René Zeller, NZZ-Chef im Bundeshaus, die Neuausrichtung der SVP, ohne eine verbindliche Antwort geben zu können, was sie der Partei und der Politik in der Schweiz bringt.

Die nun vorliegenden Ergebnisse der ersten (von zwei) SRG-Befragungen zu den eidgenössischen Volksabstimmungen geben einen vertieften Einblick: Bei der Revision des Asylgesetzes haben sich die BefürworterInnen einen Vorteil erarbeitet. Die Allianz aus der Parlament, angeführt vom SVP-Nationalrat Peter Brand aus Graubünden, hielt den Entscheidungen der bisherigen Entscheidungen der Parteidelegierten stand. Wackelkandidatin war die CVP, bei der sich die Frauen für ein Nein aussprachen, während die Gesamtpartei ihren Mitgliedern ein Ja empfiehlt. Die Umfrage zeigt nun, dass Mehrheiten der WählerInnen dieser Parteien die Revision unterstützten. Bei SVP und FDP sind sie in der absoluten Überzahl, bei der CVP immerhin in der relativen.

Ganz anders ist die Ausgangslage der SVP bei ihrer Volksinitiative für eine Volkswahl des Bundesrates. Schon im Parlament agierte sie weitgehend isoliert; alle anderen Fraktionen mögen sich selber nicht entmachten. Im Abstimmungskampf ist ihr, wenigstens bisher, keine einzige Partei gefolgt. Und auch die Befragung eines repräsentativen Querschnitts der Stimmberechtigten verweist auf die schwierige Position der SVP. Denn es sind nicht nur zwei Drittel der Personen, die sich in der Abstimmung äussern wollen, dagegen; es sind auch in allen grösseren Parteien ausserhalb der SVP Mehrheiten im Nein. Das gilt auch für FDP- und CVP-Wählende, in ihren konservativen Kreisen sonst für SVP-Anliegen offen.

Die Krux der neuen SVP-Strategie besteht allerdings nicht nur darin, diesmal keine Zusatzstimmen aus der desinteressierten politischen Mitte zu bringen; vielmehr zeigt die SRG-Befragung auch, dass ihr die Mobilisierung der Protestpotenziale nicht mehr gelingt, wie das beispielsweise in der letzten Legislatur noch der Fall war. Misstrauische Zeitgenossen wollen sich weder überdurchschnittlich beteiligen, noch sieht die Mehrheit, die teilnehmen will, einen zwingenden Grund, nun für die Volkswahl des Bundesrates zu votieren. Von der sonst so bekannten Mobilisierung der Unterschichten oder der RentnerInnen keine Spur.

Kurzfristig trägt die SVP eher einen Schaden davon: Ihre frühere Mobilisierungsstärke hing direkt mit der Provokation zusammen, die medial verhandelt wurde; das ist nun weg. Umgekehrt ändern sich Grundhaltungen der bürgerlichen WählerInnen nicht so schnell, dass man die Geschichten der letzten Jahre vergessen hätte und mit wehenden Fahnen der SVP folgen würde. Das mag mittelfristig anders aussehen: Dann nämlich, wenn das brüchig gewordene bürgerliche Lager wieder zusammenfinden sollte, mit einer rechtskonservativen SVP als stärkster Partei, welche die politische Richtung vorgibt und Gefolgschaft findet, dafür aber auf Populismus verzichtet.

Auszuschliessen ist eine solche Neuorientierung im rechten Spektrum heute nicht mehr, wie die ersten Ansätze über die Migrationsfragen hinaus in der Finanz- oder Gesellschaftspolitik zeigen. Nagelprobe werden allerdings die europapolitischen Abstimmungen sein, sei es die eigene Masseneinwanderungsinitiative, die quer steht zur Personenfreizügigkeit mit der EU, aber auch die Ausdehnung eben diesem Grundpfeiler der Bilateralen auf Kroatien als neues Mitgliedsland in der Europäischen Union, wo sich der Widerstand der SVP heute schon regt. Da wird sich weisen, was im Landesinteresse und was im Parteiinteresse ist, und wie das politisch vermittelt werden wird. Denn eines dürfte der SVP nicht mehr schaden als die eine oder andere Abstimmungsniederlage: Wenn sie ihre Hegemonie am rechten Pol wegen einen neuen, national agierenden Rechtspartei verlieren sollte, die von einer angepassten SVP profitieren könnte.

Claude Longchamp