1. Vorabstimmungsanalyse zur eidgenössischen Abstimmung vom 3. März 2013

Die erste von zwei Befragungen zu den Volksabstimmungen vom 3. März 2013, durchgeführt vom Forschungsinstitut gfs.bern für die Medien der SRG, gibt für alle drei Vorlagen eine Ja-Mehrheit. Das alles ist jedoch keine Prognose, sondern eine Bestandesaufnahme zu Beginn des Abstimmungskampfes. Worauf es ankommt, sei hier in geraffter Form zusammengefasst.

Am einfachsten ist die Lage beim Bundesbeschluss über die Familienpolitik, bei dem es sich um ein obligatorisches Referendum handelt. Der Konflikt unter den Parteien und Interessenorganisationen ist beschränkt. Das merken auch die BürgerInnen. Der Stand der Meinungsbildung ist vergleichsweise mittelstark oder mittelschwach. 44 Prozent unserer repräsentativ ausgewählten Befragten haben eine feste Stimmabsicht dafür oder dagegen; nur 11 Prozent sind noch gar nicht vorentschieden. Theoretisch sind die entscheidend, die eher dafür sind. Da sie mit 31 Prozent zahlreich sind, ist dieses Segment praktisch nicht zu unterschätzen. Indes, der Vorsprung ist der BefürworterInnen ist gross. Unsere Erfahrung mit solchen Ausgangslagen spricht dafür, dass hier wenig geschieht, denn die zu erwartenden Polarisierung von rechts gegen die Vorlage dürfte vor allem Unschlüssige ansprechen, womit sich der Nein-Anteil erhöht, nicht aber der Ja-Anteil verringert.
Grafik Familienpolitik
Etwas anspruchsvoller ist die Interpretation der Befragungsergebnisse zum teilrevidierte Raumplanungsgesetz, gegen das der Schweizerische Gewerbeverband erfolgreich das Referendum ergriffen hat, weshalb wir darüber abstimmen. Zwar blieb auch hier der Konflikt vergleichsweise gering, doch stösst die Debatte bevölkerungsseitig auf einen anderen Hintergrund als bei der Familienpolitik. Denn die Raumplanung ist für viele alltagsferner, und so bestehen weniger ausgeprägte Prädispositionen. In unserer Befragung manifestiert sich dies, dass nur 37 Prozent eine bestimmte Stimmabsicht haben, sei dies dafür oder dagegen. Dafür machen die, die gar keine Stimmabsicht haben, sich aber beteiligen wollen, 28 Prozent aus. Anders als beim Familienartikel sind sie nicht nur theoretisch die massgeblichen StimmbürgerInnen. Namentlich dann, wenn unter dem Eindruck des Referendums die parlamentarische Allianz im Abstimmungskampf zerfällt, ist eine Meinungswandel in der stimmberechtigten Bevölkerung nicht auszuschliessen. Die Augen sind dabei nicht nur auf die opponierende SVP gerichtet, vielmehr auf die CVP. Mit ihrer Ja-Parole hat die Partei einiges der denkbaren Brisanz gekappt; immerhin ist es nicht auszuschliessen, dass sich ausgehend vom Wallis eine Opposition gegen die Raumplanung in konservativen Mitte-Kreise ausdehnt, was die heutige Zustimmungsbereitschaft verringern könnte.
Grafik Raumplanung
Vordergründung am überraschendsten ist meine Analyse der Ausgangslage zur Abzocker-Initiative. Doch ist sie empirisch gut begründet. Denn es ist fast schon eine Binsenwahrheit, dass die anfängliche Zustimmungsbereitschaft zu Initiativen mit der Dauer des Abstimmungskampfes sinkt. Das hat mein der Logik der Meinungsbildung zu tun. Anders als bei Referenden, nehmen Initiativen fast immer mehr oder weniger breit getragene Themen aus der Bevölkerung, die von der Politik vernachlässigt werden. Das ist denn auch ihre Stärke. Ihre Schwäche ist, dass sie meist radikale Lösungen vorschlagen, denen in der Volksabstimmung Opposition erwächst. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Initiative klar der linken oder rechten Seite zugeordnet werden kann. Praktisch sicher ist, dass der jetzige Nein-Wert zur Initiative noch steigt; wahrscheinlich ist auch, dass sich der aktuelle Ja-Wert verringert. So gut das aus der Erfahrung heraus belegt ist, so wenig Gesichertes wissen wir aus der Vergangenheit über das Ausmass der Veränderung. Denn die folgt nicht einer fixen Mechanik, sondern ergibt sich aus der Interaktion der Kampagnen Pro und Kontra, die im Voraus schwer abschätzbar ist. Bekannt sind Bespiele, wo der Meinungswandel gerade mal 5 Prozentpunkte umfasste und damit nur eine Minderheit der BefürworterInnen, die anfänglich eher dafür waren. Es lassen sich aber auch Fälle zitieren, wo der Meinungswandel 25 Prozentpunkte ausmacht, und damit weitgehend alle, die zu Beginn der Meinungsbildung eher für die Initiative stimmen wollten. Bei der Abzocker-Initiative ergibt unsere Umfrage 26 Prozent, die zur fraglichen Kategorie zählen. Mit anderen Worten: Das Potenzial für einen erheblichen Meinungsumschwung ist gegeben. Jetzt kommt es auf die Wirkungen der beiden Kampagnen an!
Grafik Abzocker
Die grösste Unsicherheit in diesen Überlegungen betrifft übrigens die Beteiligung. Aktuell wollen sich 39 Prozent äussern – ein mittlerer Wert. Er steigt erfahrungsgemäss mit dem Abstimmungskampf an; 5 Prozentpunkte sind die Regel. Das alleine ändert die politische Zusammensetzung des Elektorates nicht entscheidend. Bei populistischen Themen und Kampagnen ist indessen nicht auszuschliessen, dass der Wert einiges höher ausfallen kann. Von den 3 Vorlagen, über die wir am 3. März entscheiden, eröffnet die Abstimmung über die Abzocker-Initiative die grössten Chancen, dass es dazu kommen könnte: mit dem Effekt, dass das Protestpotenzial unter den Stimmenden steigt, was wohl die Nein-Anteile rundum ansteigen lassen würde.

Was Oesterreich aus der Beteiligung bei Sachabstimmung in der Schweiz lernen kann

Oesterreich stimmt an diesem Wochenende ab. Nebst dem Ausgang in der Sache, der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, interessiert die Beteiligung. Gerechnet wird mit einer Teilnahmequote leicht über 40 Prozent. Was weiss man dazu aus Schweizer Sicht?

Die mittlere Stimmbeteiligung bei eidgenössischen Volksabstimmungen liegt gegenwärtig bei 43-44 Prozent. Sie ist damit tiefer als die Wahlbeteiligung der letzten 10 Jahren. Wahlen, die seltener stattfinden, für die Parteien entscheidend sind, mobilisieren generell mehr BürgerInnen als Sachentscheidungen von unterschiedlichem Stellenwert.

Diskussionen zur Stimmbeteiligung haben in der Schweiz stark nachgelassen. In den 70er Jahren sank die Stimmbeteiligung, und manche interpretierten das als Folge des spät eingeführten Frauenstimmrechts. Vordergründig war das nicht falsch, denn die politische Partizipation der Frauen ist etwas weniger ausgeprägt als die der Männer. Hintergründig ist das aber keine gute Erklärung: Weder für die Höhe, denn die wird in erster Linie durch die Schulbildung bestimmt, denn es gilt, je höher diese ist, desto eher kommt es zu Stimm- und Wahlbeteiligung und der mittlere Schulabschluss ist bei Frauen etwas tiefer als bei Männer; noch für den Trend, denn nach 1971 entwickelte sich auch die Stimmbeteiligung der Männer zurück. Mit der Repolitisierung der Schweiz angesichts der EU- und Ausländerfragen sind diese Trends in den 90er Jahren allerdings weitgehend gestoppt worden. Die mittlere Stimmbeteiligung ist seither wieder steigend und hat sich zwischen 40 und 45 Prozent eingependelt.

Wichtiger als die rein quantitativen Aspekte der Stimmbeteiligung sind die qualitativen. Die Forschung konnte ausführlich belegen, dass zwischen generellem politischen Interesse, Informiertheit bei Sachentscheidungen und Beteiligung ein relevanter Zusammenhang besteht. Mit anderen Worten: Wer sich in der Schweiz an Sachabstimmungen beteiligt, ist besser informiert als Abwesende, und dies erfolgt auf einem vergleichsweise höheren politischen Interesse. Damit reguliert die Politisierung die Meinungsbildung in erheblichem Masse und diese bestimmt die Beteiligung massgeblich. Auf die Qualität der Entscheidung hat dieser Mechanismus nur Vorteile.

Entsprechend verzichtet die Schweiz heute weitestgehend aus Zwangsmassnahmen wie Bussen oder Anreize wie Vorteile für BürgerInnen, die sich beteiligen. Strafen wären kaum mehr durchsetzbar, und die Absicht, politische Beteiligung mit ökonomischen Privilegien heben zu können, hat kaum Wirkungen gezeigt. Vorteilhaft auf die Stimmbeteiligung wirkt sich dagegen die Einfachheit der Stimmabgabe aus. Der Uebergang vom Urnen- zum Postgang hat die Beteiligung etwas erhöht, denn es ist für die meisten einfacher, in den letzten 20 Tagen vor dem Abstimmungssonntag ihre Stimme brieflich abzugeben, als sich zu bestimmten Urnenöffnungszeiten zu amtlichen Stellen zu gehen. Die Erfahrungen mit der e-voting sind noch zu gering, um gesicherte Aussagen machen zu können, ob auch diese Neuerung zur Steigerung der Stimmbeteiligung beitragen wird.

Ueberhaupt, man muss Abschied nehmen von der Vorstellung, es würden sich immer die gleichen BürgerInnen bei Volksabstimmungen beteiligen. In viel höherem Masse als bei Wahlen variiert die individuelle Stimmbeteiligung von den Umständen wie dem Thema der Vorlage, der medialen Thematisierung während des Abstimmungskampfes, aber auch der Politisierung in den Wochen vor der Abstimmung. Schliesslich trägt auch die Spannung über den Ausgang einer Sachentscheidung zur Mobilisierung des Elektorates etwas bei.

Das hat mit folgender Verhaltensdisposition zu tun: Rund ein Viertel der Stimmberechtigten beteiligt sich auf eidgenössischer Ebene immer, sprich unabhängig von den Entscheidungsgegenständen. Rund die Hälfte macht ihre Teilnehme genau davon abhängig. Knapp ein Viertel nimmt nie teil. Entsprechend variiert die Stimmbeteiligung von Abstimmungstag zu Abstimmungstag massiv. Bei der EWR-Entscheidung im Jahre 1992 gab es mit 79 die höchste Stimmbeteiligung seit Einführung des Frauenstimmrechts. Die tiefste lag, im Jahre 1972 bei 26 Prozent.

Die geringsten Beteiligungswerte resultieren immer dann, wenn man über Vorlagen abstimmt, die wenig Betroffenheit auslösen und das spezifische Interesse an der Entscheidung gering bleibt. Das potenziert sich, wenn über nur eine Vorlage abgestimmt wird. Wird gleichzeitig über mehrere entschieden, steigt die Beteiligung im Mittel an, denn es summieren sich verschiedene spezifische Teilnahmegründe. Allerdings, gleichzeitig steigen die materiellen Anforderungen an die BürgerInnen, was die Teilnahme wiederum erschwert, sodass sich die Effekte bei 4-5 gleichzeitigen Entscheidungen wechselseitig aufheben. Kampagnen der Komitees erhöhen die Beteiligungsabsicht mit näher rückendem Abstimmungstermin. Meist stellt sich eine ungefähre Beteiligungshöhe mit Beginn des Abstimmungskampfes ein; eine zusätzliche Mobilisierung in den letzten 4 bis 6 Wochen von 5-10 Prozent ist die Regel.

Die politischen Dispositionen des Elektorates ändern sich qualitativ nicht wesentlich, wenn die Beteiligung zwischen 30 und 50 Prozent schwankt. ParteisympathisantInnen bilden die Mehrheit die teilnimmt, und die Polarisierung vor einer Entscheidung führt in der Regel zu eine vermehrten Mobilisierung auf linker wie auf rechter Seite. Beteiligungen von mehr 50 Prozent sind eher selten und meist nur mit populistischen Kampagnen erreichbar, was den Anteil misstrauischer BürgerInnen unter den Stimmenden überproportional ansteigen lässt. Die Behörden haben das längst begriffen: Die Forderung, Abstimmungen nur gelten zu lassen, wenn sich mindestens die Hälfte beteiligt, wurde in den frühen 90er Jahren zu letzten Mal erhoben. Denn zwischenzeitlich haben die meisten PolitikerInnen, die etwas realisieren wollen, verstanden, dass bei hoher Beteiligung das Misstrauen unter den EntscheiderInnen steigt. Würden sich in der Schweiz alle Berechtigten beteiligen, wäre das Politisieren erschwert: Die Steuern würden drastisch gesenkt, die Armee würde womöglich abgeschafft und Tempo-Limiten auf Autobahnen würden nur noch stören. Generell trägt die mittlere Stimmbeteiligung in der Schweiz zur Mässigung bei.

Stärker noch als die Wahlbeteiligung hat sich die Stimmbeteiligung in der Schweiz im Empfinden der Bürgerschaft von der Pflicht zum Recht einer etwas wechselhaft politisch interessierten Bürgerschaft entwickelt: Vorstellungen des Verhaltens eines guten Bürgers sind namentlich in nachrückenden Generationen stark rückläufig, derweil die Beteiligung aus Interesse wichtiger wird. Dank gezielter Massnahmen beispielsweise zur Hebung des politischen Bewusstseins von Frauen konnten die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verringert werden. Heute kennen wir Abstimmung mit ausgeglichener Beteiligung. Bis jetzt ist dies bezüglich des Alters nicht gelungen. Nach wie vor werden politischen Entscheidung in der Schweiz durch BürgerInnen zwischen 50 und 75 Jahren bestimmt, während namentlich jüngeren vermehrt fern bleiben.

Mein grösste Spannung im Vergleich der Stimmbeteiligung in Oesterreich und der Schweiz ist denn auch hier: Ist die Teilnahme der jüngeren Generationen in unserem Nachbarland bei jüngeren Menschen grösser, weil sie den Wandel der Partizipationsmöglichkeiten mehr wollen als die älteren, während dies in etablierten Direktdemokratien kein vergleichbar starkes Bedürfnis mehr zu sein scheint?

Claude Longchamp

Was das Politsystem der Schweiz unterscheidet

“Konkordanzdemokratie” ist in der politikwissenschftlichen Analyse politischer System angekommen. Ein neuer Sammelband hierzu zeigt, was aus vergleichender Perspektive an der Schweiz besonders ist, regt aber auch zu Fragen an, was geschehen könnte, wenn wir uns weiter vom “gütlichen Einvernehmen” als wichtigster polit-kultureller Determinante entfernen würden.

Vom ein- zur mehrdimensionalen Vergleich
Lange konzentrierte sich die politologische Analyse politischer System auf Verfassung und Regierungsform: Konstitutionelle Bedingungen der Spitze von Staat und Exekutive bestimmten die Gegenüberstellung von parlamentarischer und präsidentieller Demokratie. Die angelsächsischen Systeme Grossbritanniens und der USA galten dabei als demokratische Vorbilder, an denen alles gemessen wurde.
Neuerdings ist Bewegung im politologischen Systemvergleich. Eine erste Weiterentwicklung erfuhr die entsprechende Demokratietheorie durch Arend Lijphardt. Ausgangspunkt bildete der Zerfall des niederländischen Regierungssystems, das auf Versäulungen der Gesellschaft basierte und die Teilgesellschaften durch einvernehmliche Elitekooperationen stabilisierte, in denen nicht der Wettbewerb um Stimmen, sondern die Repräsentation in einer gemeinsamen Regierung stilbildend wirkte. Darauf aufbauend stellte Lijphart die Konsensdemokratie der Wettbewerbsdemokratie gegenüber, und er schlug 10 Indikatoren der Unterscheidung vor. Diese verringerte er in der Folge auf zwei Dimensionen des Vergleichs: Das Verhältnis von Parteienherrschaft via Legislative und dem Muster der Regierungsweise. Grossbritannien galt nun als das Musterbeispiel, bei dem eine in Wahlen siegreiche Partei aufgrund von Parlamentarismus und Zentralisierung viel Macht erhält, derweil die Schweiz wegen des teilautonomen Regierungssystems und des Föderalismus den Gegentyp bildete.
Zu Recht hat der Berner Politikwissenschafter Adrian Vatter darauf hingewiesen, dass auch diese Typologisierung nicht frei von Problemen ist. Beispielsweise fehlt die direkte Demokratie als konstituierendes Element des Regierungssystems. Eine Erweiterung legte erstmals eine dreigliedrige Aufteilung nahe. Demnach ist das auf Machtteilung ausgelegte politische System der Schweiz durch Dezentralisierung, BürgerInnen-Mitsprache und Korporatismus bestimmt.

Eine neue Typologie des Vergleichs politischer Systeme
Den Gedanken Vatters neu aufgenommen hat ein jüngst erschienener Sammelband unter dem Titel „Konkordanzdemokratie. Ein Demokratietyp der Vergangenheit?“, der von den beiden bayrischen Politikwissenschafter Stefan Köppl und Uwe Kranenpohl editiert wurde und im Nomos-Verlag erschienen ist. 8 Länderdarstellungen, 2 Vergleichsaufsätze, 4 Politikfeldanalysen und 5 Fallstudien zur Konfliktlösung, die an einer Fachtagung 2010 präsentiert und diskutiert wurden, haben die Herausgeber inspiriert, eine neue, systematische Typologie für die Klassierung von Demokratien vorzuschlagen. Im Gefolge Lijpharts, aber auch Gerhard Lehmbruchs und Philipp Schmitters differenziert sie zwischen
. der institutionellen Dimension
. der politisch-kulturellen Dimension und
. der intermediären Dimension.
Zwar gibt es noch keine so feine Operationalisierung wie bei Lijphart, doch machen die Autoren erste Vorschläge für sinnvolle Messgrössen: die institutionelle Dimension soll anhand der Anzahl Vetospieler (im Sinne Tsibelis) bestimmt werden, die politisch-kulturelle an der Orientierung am gütlichen Einvernehmen und die intermediäre an der Zentralität des Systems der Interessenvermittlung.
Wie auch bei Lijphart erscheint das politische System der Schweiz als das Gegenbeispiel zu Grossbritannien. Die Eigenheiten sind nun die hohe Zahl an Vetospielern, der geringe Grad an zentralisierte Interessengruppen sowie die Ausrichtung am gütlichen Einvernehmen. In Grossbritannien ist das alles umgekehrt. Die USA gleicht der Schweiz in Sachen Vetoplayer und Dezentralität, doch richtet sich ihr Politikstil nicht am gütlichen Einvernehmen aus. Belgien wiederum hat deutlich weniger Vetoplayer, aber ähnlich dezentrale Interessenvermittlung und kennt eine vergleichbare Ausrichtung am gütlichen Einvernehmen. Chile schliesslich hat viele Vetospieler, ist ebenfalls am Einigung aus, derweil das Elemente der Dezentralität fehlt. Alle anderen ausgewählten Systeme haben im Vergleich nur noch eine Gemeinsamkeit mit der Schweiz: So kennt Kanada ebenfalls eine dezentrale Interessensvermittlung, Mexico viele Vetoplayer und Oesterreich (oder die Niederlande) orientieren sich an der friedlichen Einigung.
Insbesondere die Länderanalysen im Sammelband machen deutlich, dass mit den genannten Politsystemen keine Idealtypen bestehen, sondern nur die vorläufig ausgeprägten Beispiele genannt werden. Dabei kann der Grad der Ausprägung über die Zeit durchaus variieren. So machen gerade die Beispiele mit dem (wohl instabilsten) Muster der gütlichen Einvernehmen deutlich, dass vernachlässigte Probleme in jüngster Zeit zur Entstehung rechtspopulistischer Parteien geführt haben, welche mit ihrem Politikstil von integrativen Lösungsmuster abweichen und damit sehr wohl anhaltenderen Erfolg haben können. Trotz dieser Relativierung von Konkordanz kommen die Autoren zum Schluss, dass sich die Position auf der polit-kulturellen Dimension von Ländern wie der Schweiz, Oesterreich, den Niederlanden und Belgien von denjenigen mit ausgesprochenem Wettbewerbscharakter um Einiges unterscheidet.

M(ein) Beitrag zur Diskussion
Die Lektüre des neuen Buches hat mich dieser Tage angeregt. Einmal wegen der neuen Systematik des Systemvergleichs. Dann wegen den Begründungen relevanter Dimensionen der Unterscheidung. Und schliesslich wegen der bisher umfassendsten Typisierung der schweizerischen Besonderheiten.
Trotzdem die Schweiz unverändert als Realtyp der Konkordanzdemokratie gelten kann, zeigt der Systemvergleich, dass wir in den letzten 20 Jahren Einiges vom Ideal der angelsächsischen Wettbewerbsdemokratien übernommen haben: beginnend mit dem bisweilen konfrontativen Stil in Wahlkämpfen, über die Autonomisierung des Parlaments von der Regierungsagenda bis hin zu national konzentrierten Abstimmungskämpfen unter der Aegide von Spitzenverbänden.
Man kann sich sogar fragen, wohin sich die Schweiz entwickeln würde, wenn sie vom gütlichen Einvernehmen weiter abrücken, wenn die Zahl relevanter Einflussgrössen verringert oder wenn beides passieren würde. Im ersten Fall würden wir uns den USA annähern, im zweiten Belgien und im dritten Kanada, wäre die (theoretische) Antwort. Würden wir zudem die Vermittlung der Gegensätze zentralisieren, wäre Antipode Grossbritannien die Referenz. Ein wirkliches Vorbild ist jedenfalls aus meiner Sicht keines dieser Beispiele.
Mit anderen Worten: Konkordanzdemokratie, wie der Demokratietyp der Schweiz zwischenzeitlich auch in der politikwissenschaftlichen Literatur genannt wird, ist empirisch gesehen weder ein Auslaufmodell, noch sind die Alternativen normativ wirklich wünschenswert.

Claude Longchamp

Von der Macht nationaler Identitäten

Die Grenzen der Schweiz wurden in den Nuller-Jahren des 21. Jahr-hunderts geöffnet, und die Migration ist zum festen Bestandteil geworden. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit der Fremdenfeindlichkeit, deren Ursachen man kennen lernen muss, will man zu geeigneten Massnahmen greifen. Eine neue politikwissenschaftliche Dissertation verspricht Abhilfe.

Die übliche Erklärung der Fremdenfeindlichkeit lautet: Wenn es der Wirtschaft gut geht, gibt es keine Probleme mit AusländerInnen, derweil diese auftauchen, sobald Arbeit zur Mangelware wird.

Deniz Danaci, Projektleiter an der Fachstelle für Integrationsfragen des Kantons Zürich, der jüngst an der Uni Bern zum Doktor in Politkwissenschaft befördert wurde, überzeugt das nicht. Vielmehr empfiehlt er, Fremdenfeindlichkeit aufgrund aktualisierter Identitäten zu erklären. Seine durchaus plausible These lautet: Hauptgrund für Minderheitenfeindlichkeit in der Schweiz ist die Wahrnehmung der Einheimischen, im eigenen Land fremd geworden zu sein. Geprüft hat der Autor dies anhand von Daten aus dem World Value Survey einerseits, den Vox-Analysen anderseits, sodass es im anzuzeigenden Buch nicht nur um Einstellungen, sondern auch um politisches Verhalten geht.

Am aufschlussreichsten sind Danacis Ausführungen zur nationalen Identität, genauer zu den nationalen Identitäten in der Schweiz. Die gängige Annahme, je nationaler eine Person eingestellt sei, desto eher nehme sie Fremde negativ wahr, taugt für ihn nicht wirklich. Vielmehr entwickelt er ein interessantes Konzept verschiedenartiger nationaler Identitäten, die sich danach unterscheiden liessen, ob man sich ausschliesslich national oder aber national und international identifiziere. Als zentrale Determinanten für diese Erweiterung vermutet er im Bildungsstand, nach dem Motto, je höher der Schulabschluss, desto wahrscheinlicher seinen gemischt (inter)nationale Selbstverständnisse.

Die ersten empirische Befunde befügelten den Politikwissenschafter in seiner Annahme. Xenophobie ist umso wahrscheinlicher, belegt er, je eher es an positiven Gefühle gegenüber der Gemeinschaft der Nationen fehle. Zudem, der Ausbau von Rechten für Minderheiten zum Schutz vor Fremdenfeindlichkeit, lasse sich mit Bildung im erwarteten Sinne erklären. Indes, es müssten weitere Faktoren beigezogen werden: Als wichtigsten Grund nennt er den Stadt/Land-Graben, wobei sich die ländliche Schweiz ziemlich geschlossen gegen entsprechende Vorschläge wehre. Das treffe übrigens nicht nur für nationale outgroups zu, wie er unerwünschte MigrantInnen nennt, sondern auf Minderheiten überhaupt, also beispielsweise auch auf Behinderte. Allerdings, es ist eine weitere Unterscheidung nötig: So stehen französischsprachige SchweizerInnen aufgrund gemischter nationaler Selbstverständnisse Einbürgerungen offener gegenüber als deutschsprachige. Diese Bereitschaft zur Aufnahme von Anderen ins Eigene verschwinde aber, wenn man sich nicht an die christlich ausgerichtete Leitkultur anpassen wolle. Wie die Kopftuch-Debatte zeige, spielten hier ganz offensichtlich Einflüsse aus den verschiedenen kulturellen Referenzräumen eine Rolle.

Damit ist der Autor definitiv bei der Islamophobie angelangt. Diese interpretiert er als spezifische Form der Xenophobie, und er sieht sie ähnlich strukturiert wie der Antisemitismus. Beide Phänomene seien ähnlich stark verbreitet, schreibt er, würden von den gleichen BürgerInnen geteilt und hätten ein ähnliches Erklärungsprofil, weshalb sie weitgehend deckungsgleich seien. Operationalisiert hat er das aber nicht wie üblich mit einer Analyse von Weltanschauungen, sondern mit einem vagen Distanzmass, mit dem sich soziale Gruppen wechselseitig vertraut fühlen.

Solche (und weitere) Befunde sind für Deniz Danaci Grund genug, sich den Ansichten anderer Analysen namentlich aus dem NFP 58-Programm anzuschliessen, wonach in der Schweiz eine (neue) Konfliktlinie zwischen jenen bestehe, die eine wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Oeffnung gegenüber dem Ausland befürworteten, und jenen, die das ablehnten, wobei dies in unterschiedlichen Identitäten gründe. Angesichts offener Grenzen sei nicht von einem baldigen Verschwinden der Problematik auszugehen, prognostiziert er. Verhandlungs- und Informationsstrategie seien deshalb kein gesicherter Hebel, um die aktuellen Schwierigkeiten zu verringern; eher noch sei eine mittelfristige Abnahme bei schrittweiser Integration von MigrantInnen möglich. Bis dahin seien Polarisierungen zwischen dem Fremden und dem Eigenen auch ausserhalb wirtschaftlicher Krisen nicht auszuschliessen, weshalb es einen besseren Schutz von Minderheiten gerade bei direktdemokratischen Entscheidungen brauche.

Zu den Vorteilen der politikwissenschaftlichen Dissertation gehört es, sich einem aktuellen Phänomen anzunehmen, das Vorgehen auf theoretischer Basis entwickelt und anhand empirischer Daten untersucht zu haben. Die Nachteile liegen bei letzterem. Denn zur eigentlichen Prüfung der grundlegenden Annahme, nicht die sich zyklisch ändernde Wirtschaftslage, sondern dauerhafter angelegte soziale Identitäten seien entscheidend, bräuchte es Zeitreihen, die es für die Schweiz nicht gibt. Der vorliegende Test, der sich verfügbare Informationen auf individueller Ebene aus den Jahren 2007 bis 2009 beschränkt, reicht dazu kaum. Zweifel ergeben sich zudem bei den Ausführungen zu spezifischen Erscheinungsformen der Fremdenfeindlichkeit. Das beginnt im Sprachlichen, wird doch im Zusammenhang mit Muslimen ohne weitere Reflexion konsequent von „Islamophobie“ gesprochen, einem psychologisierenden Begriff, der nicht frei von politischen Kampfpositionen ist und in der vorliegenden Arbeit nur dürftig operationalisiert wurde. Es endet im Konzeptionellen, denn der Autor folgt einer auffälligen Parallelisierung der historisch gewachsenen Judenfeindlichkeit und den gegenwärtigen Erscheinungen von Muslimfeindlichkeit, die in der sozialwissenschaftlichen Literatur umstritten bleibt. Schliesslich hätte man sich angesichts der stark empirisch ausgerichteten Arbeit gewünscht, dass die generelle These in zusammenhängende, explizite Hypothesen gegliedert worden wäre, die es am Schluss erlaubt hätten, mehr als eine bisweilen etwas lose wirkende Zusammenfassung der Befunde zu liefern. Dazu hätte auch gehört, den Titel zu reflektieren, denn dieser spricht von der Macht sozialer, statt der untersuchten nationalen Identitäten.

Am meisten überrascht hat mich, dass in den Schlussfolgerungen keine Vorschläge gemacht wurden, wie die entscheidende, aber offensichtlich schwach ausgebildete Identifizierung der SchweizerInnen mit der internationalen Nationengemeinschaft erhöht werden könnte. Damit hätte möglicherweise die leicht fatalistische Schlussfolgerung, die auch den Autor am Ende seines Werkes befallen hat, durch einen perspektivischer Beitrag zur laufenden Diskussion überwunden werden können.

Claude Longchamp