Politische Kommunikation in direktdemokratischen Kampagnen exemplarisch untersucht

Hanspeter Kriesi, eben von der Uni Zürich an die von Florenz gegangen, hat sein letztes in der Schweiz entstandenes Buch vorgelegt. Konzeptionell markiert es einen Meilenstein in der Abstimmungsforschung, datenmässig bleibt es bescheiden, sodass man auch einige Folgerungen anders sehen kann.

Kampagnen zu Volksabstimmungen sind umstrittener geworden, denn es steht immer häufiger im Raum, Abstimmungsentscheidungen könnten durch Eliten bestimmt werden. Genau diese Polarität zwischen Aufklärung und Manipulation greift Hanspeter Kriesi, weiland Professor für Politikwissenschaft an der Uni Zürich, in seinem jüngst erschienen Sammelband zur politischen Kommunikation in direktdemokratischen Kampagnen auf, um sie, unterstützt von einem Forschungsteam an der Uni Zürich, einer vorläufigen Antwort der Wissenschaft zuzuführen.

Die generelle These lautet, dass man Kampagneneffekte in direktdemokratischen Entscheidungen nicht an sich bestimmen kann. Denn sie hängen von Verschiedenem ab: dem Kontext, dem Thema und den Kampagnen selber. Um das einzugrenzen, schlägt Kriesi neuerdings vor, zwischen dem Wettbewerbscharakter von Entscheidungssituationen, die Medienausstattung in der Demokratie und die BürgerInnen-Kompetenzen für differenzieren.

Basis des breit angelegten Lesebuches sind drei vertieft untersuchte Fallbeispiele von Kampagnen vor Volksentscheidungen in der Schweiz: die Aslygesetzgebung, die Einbürgerungsfrage und die Unternehmenssteuerreform. Die Beispiele wurden typologisch ausgewählt: Das erste gilt als einfache und alltagsnahe Entscheidung, das zweite als einfaches, aber nicht alltägliches Exempel, und das dritte erfüllt keines dieser beiden Kriterien. Damit entsteht eine simple Rangierung für Vorlagen, die den Test von Hypothesen zur Wirksamkeit von Kampagnen hinsichtlich der Komplexität Abstimmungsthemen und der Familiarität der BürgerInnen zu erlauben soll. Generell gilt, je anschaulicher und einfacher das Thema, desto klarer dominieren BürgerInnen-Präferenzen.

Zusammengefasst wird die Vielzahl an Untersuchungsergebnissen im 260 seitigen Buch in einem vorbildlich gegliederten Schlusskapitel. Hier meine Learnings:

Erstens, die Strategien der PolitikerInnen werden zunächst durch die Logik der direkten Demokratie selber bestimmt, die ist auf Mehrheitsbildung aus. Sie trifft, mindestens in der Schweiz, auf eine Parteiensystem, das durch ganz andere Determinanten wie Konkordanz und Föderalismus geformt wurde und eher schwachen Minderheitsparteien führte. Deshalb kommt hierzulande der Koalitionsbildung vor einer Volksentscheidung die erste grosse Bedeutung zu. Kriesis Schluss ist, dass die gemässige Rechte – gemeint sind wohl FDP und CVP – die Schlüsselposition einnehmen, denn sie können sowohl mit der populistischen Rechten (der SVP) wie auch der Linke (der SP, GPS) Allianzen eingehen. In der Regel gelinge es so die binäre Logik von Volksabstimmungen zu durchbrechen. Was die Orientierung von Kampagnen betrifft, spricht Kriesi von einer erheblichen Ausrichtung an der Substanz. In der Regel seien die Kampagnen beider Seiten inhaltlich, denn es gelinge ihnen mindestens eine relevante Botschaft zu platzieren. Indes, die Bewertung dieser fällt gespalten aus, weil es nicht mehr eindeutig sei, ob es sich um eine Begründung oder um eine Rahmung der Entscheidung handle. Genau letzteres mache es schwer, den Effekt von Kampagnen zu bestimmen. Denn in der traditionellen Analyselogik stelle man auf die Fähigkeit von Botschaften ab, Reaktionen der anderen Seite zu erzeugen. Wenn es jedoch gar keine Reaktionen mehr gäbe, versage diese Definition. Wirkungen von Kampagnen könnten dann nur noch anhand des Impacts auf Stimmabsichten gemessen werden. Das wiederum lasse sich nur formal messen, beispielsweise aufgrund der Dauer von Kampagnen oder dem Mitteleinsatz der Akteure. Ersteres sei in der Schweiz auch ohne gesetzliche Regelungen stark routinisiert: Entscheidend sei die Hauptphase, in der Regel die letzten drei Wochen vor dem Abstimmungstag, erweitert durch eine Vorphase, die 4 bis 5 Wochen vorgelagert sei. Sich dabei ein Plus zu verschaffen, hänge in erster Linie von den finanziellen Mitteln ab, denn diese determierten den relevanten Inserate- und Plakateeinsatz. Ob es dabei einen engen Zusammenhang zwischen Ressourcen und Ergebnissen gäbe, lasse sich bezweifeln, resümiert Kriesi. Richtig sei, dass die Rechte in der Regel über mehr Geld verfüge, aber keine Garantie für Abstimmungssiege habe. Eine höhere Wirkung vermutet er einzig bei knappen Ergebnissen, wo die Mobilisierung durch Geld jene durch Botschaften übertreffen könne.

Damit leitet die Buchbilanz zu den Medienstrategien über. Der zweite Schluss Kriesis ist, auch Medienkampagnen seien routinisiert, bisweilen sogar auch ritualisiert. Insgesamt attestiert er den Schweizer Medien jedoch, einen hohen Aufwand zugunsten der direkten Demokratie zu betreiben, welcher primär der journalistischen Logik folge. Zudem glaubt er genügend Belege für die spitze Folgerung gefunden zu haben, in Abstimmungskämpfen agiere die Politik, während die Medien nur reagierten. Auch hinsichtlich der vielfach diskutierten Personalisierung von Abstimmungskämpfen fällt die denkbare Kritik zurückhaltend aus: Ausnahme machten letztlich nur die BundesrätInnen, die stark medialisiert, von ihrer Funktion her aber zur sachorientierten Vermittlung verpflichtet seien. Zugenommen habe dabei die Zuschreibung von individueller Verantwortung bei Niederlagen, was mit dem Kollegialsystem kollidiere, ohne aber zu erheblichen Problemen geführt zu haben. Negative Veränderungen im Mediensystem sieht Kriesi vor allem in der Boulevard-Presse, aber auch den Gratismedien. Deren aufklärungskritische Medienkultur werde aber dadurch relativiert, dass es keine substanziellen Hinweise dafür gäbe, dass man sich ausschliesslich über diese Medium infomriere, um sich bei einer Abstimmung zu entscheiden.

Womit wir, drittens, bei den Bedingungen der BürgerInnen-Entscheidungen angelangt sind. Um diese zu analysieren, verwenden die ForscherInnen den Begriff der Prädisposition, genau genommen der generellen politischen Erfahrung einerseits, der themenspezifsichen Involvierung anderseits. Wenn das gegeben sei, komme es zu frühen Entscheidungen, die Bestand hätten; ohne das seien situative Entscheidungen aber verbreitet – mit eigenen Bestimmungsfaktoren. Kriesi spricht dabei von drei Kampagnen-Prozessen: der Verstärkung anfänglicher Stimmabsichten, der Mobilisierung von allgemeinen Prädispositionen und der Bildung von neuen Meinungen durch Kampagnen. Generell sieht er zahlreiche Belege, dass Kampagnen individuelle Lernprozesse auslösen würden. Wie sie sich auf Entscheidungen auswirkten, hänge von der anfänglich postulierten Typologie ab: Verstärkung finde sich vor allem bei eingeführten Abstimmungsthemen, Aktivierung bei wenig bekannten, und Meinungswechsel komme namentlich bei Themen mit hoher Alltagsferne und beträchtlicher Komplexität vor.

Was heisst das alles für die Kardinalsfrage? Der Chef des Forschungsteams entscheidet sich ganz am Schluss des Buches eindeutig für “Aufklärung”. Das sei nicht nur die zentrale Aufgabe der politische Kommunikation in direktdemokratieschen Kampagnen, sondern auch die effektive Wirkung. Die überwiegende Zahl der bisher untersuchten Fälle spräche für diese Vision der Abstimmungsdemokratie. Die exitierenden Abweichungen kämen vor, wenn die Komplexität hoch und die Vertrautheit der BürgerInnen gering sei, schreibt Kriesi. Dann überwiege der Einfluss der Eliteentscheidungen, derweil diese sonst auf die Präferenzen der Stimmberechtigten aufbauen müssten, um Erfolg zu haben.

An diesem Buch überzeugt zunächst die Gesamtsicht der untersuchten Einflussgrössen. Dabei hat die konzeptionelle Erörtung von Abstimmungsentscheidungen in den letzten 20 Jahren beträchtliche Fortschritte erzielt, und sie hat sich von den Konzepten der Wahlforschung vorteilhafterweise gelöst. Es bleibt aber das Problem von Verallgemeinerungen. Letztlich basiert alles hier Beschriebene auf drei Fallbeispielen aus einem politischen System und in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum. Es kommt hinzu, dass eine, vielleicht massgebliche Unterscheidung für die Analyse von Schweizer Volksabstimmungen gar nicht diskutiert wird: der Unterschied in der Logik von Oppositionsvorlagen und der von Behördenvorlagen. Bestimmend ist dabei die umgekehrte Beweislast von Kampagnen: Bei Referenden entstehen Vorlagen im Parlament, und sie wissen eine repräsentative Mehrheit hinter sich, während dies bei Volksinitiativen in aller Regel nicht der Fall ist. Genau das bestimmt die sehr unterschiedlichen Annahmechancen, die mit den herausgearbeiteten Faktoren wie Koalitionsbildung, Medienwirkungen und BürgerInnen-Heuristiken für Initiativen und Referenden separat erklärt werden sollten.

Meine Erfahrungen mit der dynamischen Betrachtung von Volksentscheidungen – bei zwischenzeitlich rund 100 Fallbeispielen aus 25 Jahren – lehrt mich, dass das der fundamentale Unterschied ist, auf dem man das Ganze nochmals durchspielen sollte. So könnte es denn auch sein, dass die eine oder andere der sehr positiven Wertungen der politischen Kommunikation in direktdemokratischen Entscheidungen etwas kritischer ausfallen würde.

Claude Longchamp

Mein Vortragsherbst – (fast) ganz im Zeichen von Volksabstimmungen

Ich bin in diesem Jahr stark belastet mit meinen eigentlichen beruflichen Beanspruchungen, weshalb ich bei Vorträgen etwas reduziert habe. Immerhin, bis Ende 2012 noch einiges zusammen. Hier die Uebersicht.

25.10.2012
Tischgespräche im Müllerhaus Lenzburg: Meinungsbildung in der direkten Demokratie. Stand der Dinge und Ausblick aufgrund der Schweizer Erfahrungen.

Weitherum sind Volksabstimmungen im Kommen, und vielerorts fragt man sich, wie sich Meinungen in der direkten Demokratie bilden. Ich habe hierzu eine Uebersicht verfasst, teste das Referat dieses Jahr bei verschidenen Exponenten der Schweiz, und will es ab 2013 gesamteuropäisch einsetzen.

26.10.2012
Tagung Angestellte Schweiz, Olten: Hoffnungen und Aengste der Mittelschichten in der Schweiz

Die Mittelschichten sind in Bewegung – sie vermehren sind, und gleichzeit zeigen sich verschiedenste Trend mit Auf- und Abstiegsorientierungen. Angestellte Schweiz will sich als neue Interessenvertretung der Mittelschichten platzieren und widmet sich einen Tag dem Thema mit einer ganzheitlichen Perspektive.

6.11.2012
Politische Soziologie, Universität Bern (Gastvortrag im Rahmen der Vorlesung von Prof. Dr. Markus Freitag): VOX-Analyse eidg. Volksabstimmung – das bestetablierte Instrument der Abstimmungsanalyse in der Schweiz

Seit 1977 wurden in der Schweiz alle eidgenössischen Volksabstimmungen mittels Nachbefragungen eines repräsentativen Querschnitts der Stimmberechtigten befragt – weltweit eine einmalige Datenquelle. Den Stand der VOX-Analysen, aber auch denkbare Weiterentwicklungen beschreibe ich mit diesem Referat vor Studierenden der Politikwissenschaft und angehenden ForscherInnen.

15.11.2012
Kundenanlass Postauto Schweiz: Volksabstimmung zu Verkehrsfragen: Gefahr oder Chancen für den öffentlichen Verkehr

Täglich fahre ich Postauto – und die Anfrage, vor den Kunden von Postauto Schweiz sprechen zu können, konnte ich nicht ablehnen! Meine Analyse geht vom der Tatsache aus, dass die direkte Demokratie in der Schweiz substanziell um Fragen des Oeffentlichen Verkehrs herum entstanden ist, dieser zwischenzeitlich gelernt hat, mit Volksentscheidungen erfolgsversprechend umzugehen.

16.11.2012
Historischer Verein Zofingen: 20 Jahre Volksabstimmungen zu Europa-Fragen in der Schweiz – eine Bilanz

Am 6. Dezember 2012 sagte die Schweiz Nein zum EWR-Beitritt, 2001 wurde zudem der sofortige EU-Beitritt in einer Volksabstimmung verworfen. Angenommen wurden vom Souverän dagegen alle Vorlagen zum Bilateralismus zwischen der EU und der Schweiz. Was man daraus für die europapolitischen Mentalitäten in der Sprachregionen, entlang des Stadt/Land-Gegensatz, in den Parteilagern, sozialen Schichten und Generationen lernen kann, behandle ich in diesem Referat.

Hinzu kommen diverse Kurse an (Fach)Hochschulen:

14./15.9.2012
Fachhochschule Winterthur: BürgerInnen-Meinungen und Demoskopie

Mein bewährtes Kursmodul im Rahmen der Ausbildung zur politischen Kommunikation

ab 20.9.2012
Universität St. Gallen, MIA Master: Analyse des Lobbyings in der Schweiz und der EU

Neuartiger Praxiskurs an der HSG, der renomierten Wirtschaftshochschule

ab 21.9.2012
Universität Bern, SVP Master: Weiterentwicklungen zur Abstimmungsforschung

Forschungsseminar, das angehende ForscherInnen mit dem Stand der Abstimmungsanalyse in der Schweiz vertraut macht

5.11.2012
MAZ – Die Schweizer Journalistenschule, Luzern: Lobbyismus – Interessenvertretung in der Demokratie

Praxisorientierte Einfühung in die Welt des Lobbyings, speziell für VertreterInnen der Organisationskommunikation

Claude Longchamp

Weiter an der Referendumsfähigkeit arbeiten

Meine Kurzanalyse der grössten Einzelgewerkschaft in der Schweiz für die Zeitung “work”.

Mit der Fusion zur Unia entstand die mit Abstand grösste branchenübergreifende Gewerkschaft, deren erklärtes Ziel es ist, die Kräfteverhältnisse innerhalb der Arbeitswelt zugunsten der Arbeitnehmenden zu verändern. Dazu gehört auch, sich für eine soziale und gerechte Gesellschaft politisch zu engagieren.

Wenn die Politikwissenschaft die Macht politischer Akteure zu beurteilen hat, greift sie in der Schweiz gerne auf die Referendumsfähigkeit zurück. Gemeint ist damit, in der Lage zu sein, in Kürze 50 000 Unterschriften zu sammeln, öffentliche Kampagnen zu führen und Volksabstimmungen zu gewinnen.
Das Herzstück der Referendumsfähigkeit ist das Veto gegen Parlamentsbeschlüsse. Wer das mit Erfolg demonstrieren kann, hat seine Verweigerungsmacht bewiesen und kann damit an anderen Orten drohen. Denn kein Parlament will nach Jahren der Gesetzesarbeit eine Volksabstimmung verlieren. Also besteht die Tendenz, sich mit referendumsfähigen Organisationen frühzeitig zu arrangieren.
Seit der Gründung der Unia haben die Gewerkschaften ihre Referendumsfähigkeit zwei Mal eindrücklich bewiesen: 2004 bei der 11. AHVRevision, 2010 bei der BVG-Revision. Die AHV-Revision scheiterte mit 68 Prozent Nein, die BVG-Reform mit rekordverdächtigen 73 Prozent. Ähnlich beurteilt werden kann die Mietrechtsrevision 2004, wo sich die Gewerkschaften Seite an Seite mit den MieterInnenverbänden durchsetzten.
Die Bilanz wäre jedoch unvollständig, würde man es dabei bewenden lassen. Denn in weiteren sechs Referendumsabstimmung versagten die Gewerkschaften mit ihrem Aufruf zum Widerspruch. 2006 bei der Arbeitsgesetzrevision, dem Ausländer- und dem Asylgesetz, 2008 bei der 5. IV-Revision und der Unternehmenssteuerreform und 2010 bei der Arbeitslosenrevision. Das alles relativiert die Referendumsfähigkeit der Schweizer Gewerkschaften erheblich. Auf den Punkt gebracht: Das Veto in sozialpolitischen Kernfragen gelingt in der Hälfte der Fälle. In wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen ist die Bilanz indes negativer.
Mein Schluss: Die Gewerkschaften – und damit die Unia – müssen an ihrer Fähigkeit, Referendumsabstimmungen zu gewinnen, weiterarbeiten. Was in zentralen Fragen gelingt, lässt sich jedoch nicht einfach verallgemeinern. Weniger häufiger Widerstand, dann jedoch mit vehementem Einsatz, scheint mir die richtige Folgerung aus dieser Übersicht zu sein. So könnte die Unia ihre politische Macht stärken, und zum Vorteil bei den Anliegen der Arbeitnehmenden einsetzen.

Claude Longchamp

Forschungsseminar: “Volksabstimmungen in der Schweiz” (Meine Lehrveranstaltung im Herbstssemester 2012 an der Uni Bern)

In einem Monat ist es soweit. Es beginnt das Herbstsemester 2012. Meine Lehrveranstaltung im Master “Schweizerische und vergleichende Politik” ist der Abstimmungsforschung gewidmet. Hier die Uebersicht.

Die Lehrveranstaltung ist als Forschungsseminar auf der Masterstufe konzipiert. Erwartet werden ein abgeschlossenes Bachelor-Studium, vorzugsweise in Politikwissenschaft, Interesse für das politische System der Schweiz, namentlich das Funktionieren der direkten Demokratie und gute Basiskenntnisse der empirischen Politikforschung.

Stand der Dinge

Generell ist der Stand der Abstimmungsforschung durch ein geringeres Niveau als etwas die Wahlforschung, aber auch die Partizipationsforschung gekennzeichnet. Namentlich die Entwicklung spezifischer Theorie blieb bisher zurück. Genau das ist für die Politikwissenschaft der Schweiz eine Chance: Denn ausser in Kalifornien hat sich praktisch nur hierzulande eine kontinuierliche Abstimmungsforschung entwickelt, die sich auf die zahlreichen Volksentscheidungen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene bezieht

Dabei sind in jüngster Zeit auf verschiedenen Gebieten Fortschritte erzielt worden, so beispielsweise bei der visuellen Darstellung von Abstimmungsergebnissen im Vergleich, bei der Prüfung von Auswirkungen der Konkordanz auf Konflikte in der direkten Demokratie, bei der Bestimmung von Elite/Basis-Konflikten bei der Untersuchung des Einflusses von Akteure auf Abstimmungsentscheidungen, bei der Messung von Kampagneneffekten und bei der Skizze der Autonomie und Determination von Entscheidungen der Bürger und Bürgerinnen.

Weitere Fortschritte kann man insbesondere dann erwarten, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Es gibt ausreichend Daten; es werden gegenstandsspezifische Theorien entwickelt, die auf die historischen Voraussetzung des Gegenstanden Bezug nehmen, und es gibt eine vergleichende Einordnung in die allgemeinen Entwicklungen des Fachs.

Material zur und Vorgehen während der Lehrveranstaltung

Ausgangspunkt des Forschungsseminars sind die amtlichen Statistiken zu Abstimmungsergebnissen, die namentlich in der Datenbank SwissVotes übersichtlich aufgearbeitet sind. Im Weiteren gibt es eine Datenbank zu den VOX-Analysen eidg. Volksabstimmungen, die Volksentscheidungen auf Befragungsbasis analysieren. Seit Neuestem kommt PolitnetzCH hinzu, mit dem das Abstimmungsverhalten der Parlamentsmitglieder (vorerst nur Nationalrat) vertieft untersucht werden kann. Verweisen sei schliesslich sei auf Bestrebungen, systematische Kampagnenanalysen in die Untersuchungen einzubeziehen.

Das Forschungsseminar hat mehrere Teile: eine Einleitung, während der die Fragestellung entwickelt wird, einen theoretischen Teil, der nach dem Stand der Erkenntnisse fragt, und einen praktischen Teil, bei dem es um Probleme bei der Durchführung sozialwissenschaftlicher Projekte geht. Diese Teile werden mit Kurzreferaten der Studierenden vorbereitet und im Plenum besprochen. Selbstredend hat das Seminar auch einen empirischen Teil, mit dem neue und gesicherte Befunde zur Abstimmungsforschung in der Schweiz erarbeitet werden sollen. Hierzu werden im Verlaufe des Forschungsseminars maximal 4 studentische Arbeitsgruppen gebildet, die über die Planung resp. ausgewählte Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit zuhanden der anderen Teilnehmenden berichten.

Programm des Forschungsseminars

Das Forschungsseminar umfasst 14 doppelstündige Sitzungen, die jeweils am Freitag zwischen 10 und 12 Uhr im Institut für Politikwissenschaft stattfinden. Das vorläufige Programm findet sich nachstehend:

1. Einleitung (2 Sitzungen)
. Entwicklung der übergeordneten Fragestellung / Einordnung von Projektideen in Makro-, Meso-, und Mikro-Ebene der Forschung.
. Logik der Forschung: Hypothesenentwicklung, -prüfung, Gütekriterien
. Präsentation der Datenbanken (BfS, SwissVotes, VOX-Analysen, PolitnetzCH)

2. Stand der Abstimmungsforschung (in der Schweiz) (2 Sitzungen, Kurzreferate)
. Synthetische Ergebnisdarstellungen, Abstimmungsanalysen im Konkordanzsystem. Einflüsse der Akteure auf Abstimmungsentscheidungen, Kampagnen-Effekte auf Abstimmungsergebnisse resp. Information und Beteiligung

3. Skizzierung studentischer Forschungsprojekte (3 Sitzungen, Plenumsdiskussion. Gruppenreferate)
. Diskussion von Forschungsvorhaben, Entscheidung für maximal 4 Arbeitsgruppen
. Präsentationen der Arbeitspläne durch die Arbeitsgruppen (verteilt auf 2 Sitzungen)

4. Ausgewählte Probleme der Forschung (3 Sitzungen, Kurzreferate)
. Probleme im Entdeckungszusammenhang (bei der Entstehung von Forschungsprojekten)
. Probleme im Begründungszusammenhang (während der eigentlichen Forschungsarbeit)
. Probleme im Verwertungszusammenhang (bei der Vermittlung und Umsetzung von Forschungsergebnissen)

5. Diskussion erster Hauptergebnisse (2 Sitzungen, Gruppenreferate)
. Präsentation/Kritik aufschlussreicher Ergebnisse aus der Arbeitsgruppen (verteilt auf 2 Sitzungen)

6. Schlussdiskussionen (2 Sitzungen)
. Erträge des Forschungsseminars
. Weiteres Vorgehen bei Abschlussarbeit

Leistungsbewertung

Der erfolgreiche Abschluss setzt zudem die regelmässige Präsenz in den Plenumsveranstaltungen, die aktive Mitarbeit im Seminar durch die Uebernahme von Kurzreferaten und die Beteiligung an einem studentischen Forschungsprojekt voraus. Eine Literaturliste, verbunden mit Kurzreferatsthemen, wird zu Beginn des Semesters abgegeben.

Jede Forschungsgruppe muss bis zum 31. Januar 2013 eine gemeinsam abgefasste Seminararbeit abliefern, die zusammen mit dem persönlichen Engagement als Leistungsbewertung dient; eine eigentliche Schlussprüfung gibt es nicht.

Claude Longchamp

Ziggy Zaugg’s Dekonstruktion

Mit schrägem Witz und schwarzem Humor ist Dr. Marcel Zaugg zum ersten Helden des angelaufenen Abstimmungskampfes zum Nichtraucherschutz avanciert. Das könnte sich ändern, denn seine Kampagne hat auch Schwächen!


Dr. Marcel Zaugg, der vermeintliche Kampagnenleiter gegen Volksinitiative der Lungenliga, heute auf der Redaktion des “Sonntagsblick”

Am 23. September 2012 stimmt die Schweiz über den „Schutz vor Passivrauchen“ ab. Das Volksbegehren hierzu verlangt eine schweizweit einheitliche Regelung des Rauchverbots, welche die bestehende Gesetzgebung manchenorts verschärfen würde. Erwartbar war, dass es zu einer Frontstellung zwischen Gesundheitsorganisationen und Tabakindustrie je mit ihren Supportern kommt.

Nicht erwartet wurde dagegen Dr. Marcel Zaugg. „Be free!“ ist seine offen vorgetragene Aufforderung, Rauchen sei der Lebensstil der Genussmenschen, seine frohe Botschaft. Alles andere hätten Gesundheitstalibans rund um die Lügenliga erfunden, rüppelt er gegen die Lungenliga und ihre Verbündeten. Damit spricht Zaugg jedem Raucher aus dem Herzen, aber auch ihren Propagandisten, die sich über die schleichende, aber anhaltende Vermehrung von public health Kampagnen ärgern, mit denen der Staat die Freiheit des Einzelnen systematisch einschränke.

Indes, der Vorzeigeraucher ist gar kein Paffer, gar kein Lobbyist und auch gar kein Kampfhund, wie es manchem erscheinen mag. Denn Marcel Zaugg ist, wie ein erster Blick hinter die Kulisse zeigt, Schauspieler! Ein erfundener Lobbyistendarsteller! Eine Persiflage auf den politischen Gegner.

Zauggs Bühne sind die neuen sozialen Medien: das Internet, die Blogs, Facebook und Twitter sind die Bretter, auf denen er tanzt. Sein Mittel ist die Direktheit in eigener Sache, die Uebertreibung, die Karikatur, das Stereotyp, wenn es um die der andern geht. Souffleur in diesem Spätsommertheater ist die Agentur Feinheit von Daniel Graf.

Gelungen ist der Eintritt in die politisch-mediale Arena: Im Nu ist Ziggy Zaugg zur Kultfigur des laufenden Abstimmungskampfes geworden. Verschiedene Fernsehstationen haben ihn interviewt, selbst die Tagesschau hat ihn kurz gezeigt, und morgen porträtiert ihn der Sonntagsblick. Kein Neu-Politiker hätte das in 10 Tagen geschafft!

Erste Zielgruppe der Spezialkampagne, mit der die Lungenliga Kampagne führt, sind die JournalistInnen. Schräg, witzig und unerwartet wirkt gerade im Boulevardjournalismus immer gut. Paradoxe Intervention könnte man das auch nennen, denn es folgt dem postmodernen Aufklärungsmotto: Politik ist von A bis Z inszeniert, sodass die Dekonstruktion der falschen Welten die wahre Informationsarbeit ist! Basis hierfür ist, dass viele JournalistInnen nicht mehr an die politischen Akteure glauben, über die sie berichten, sodass sie Freude haben, wenn sich jemand einen unterhaltsamen Spass draus macht. Es kommt hinzu, dass zwischenzeitlich ein relevanter Teil der heutigen Abstimmungskampagnen virtuell stattfindet, mit denen die Grenzen zwischen Gesehenem, Gehörtem und Geprüftem immer mehr verschwindet.

Zweite Zielgruppe der Kampagne ist die Gegnerschaft. Sie soll personalisiert angesprochen und eingeschüchtert werden, denn es droht ein jeder ihrer Schachzüge bis am 23. September 2012 transparent gemacht und damit durchschaubar zu werden. Wenn PR Berater das untereinander wissen, mag das noch knapp angehen; wenn aber die breite Oeffentlichkeit via Medien mitschaut, ist das problematisch. Genau damit spielt Zaugg: den Widersacher durch tägliche Irritation zu lähmen.

Ob die Stimmenden eine sinnvolle Zielgruppe solcher Kampagnen sind, kann man bezweifeln. „Don’t think of an Elephant“ predigt der amerikanische Kommunikationsguru George Lakoff seit langem, um zu sagen: Bediene dich nie der Bilder des Gegners, wenn Du sie bekämpfen willst. Denn selbst wenn Du Dich von ihnen distanzierst, mobilisierst Du ihre emotionale Wirkung. Das ignorieren zwar Komiker mit Erfolg, weshalb viele über sie lachen können. Doch ist politische Kommunikation etwas anderes, womit manchem, der sie falsch betreibt, das Lachen vergeht. Denn was hier als Fantasie erdacht wurde, wird mit solchen Kampagnen zur Realität, der Ulk mutiert Stück für Stück zur Wahrheit, bis das Spiel zur ernsten Sache wird!

Momentan bringt Ziggy Zaugg den Abstimmungskampf in Fahrt. Mit dem überraschenden Auftritt hat die Lungenliga in der fast schon verloren geglaubten Sache das Gesetz des (medialen) Handelns an sich reissen können. Der Knalleffekt dürfte sich aber rasch abnützen. Denn die Kampagne hat Schwöchen: Zum Beispiel sind die Inhalte der Lungenliga noch kaum platziert worden. Man kann sogar skeptisch sein, dass die arg stilisierte Figur dazu noch fähig sein wird. Doch jeder zynische Medienaufritt wird am Schluss der Ja-Kampagne aufgerechnet, was ihr Plätze kostet, die sie während der Ueberzeugungsphase noch brauchen wird. Das wird man spätestens dann merken, wenn es nicht mehr darum geht, Aufmerksamkeit zu erzeugen, sondern die Meinungsbildung zu steuern.

Vielleicht läuft die neue Art von Politikkampagnen auch an einer anderen Schwäche auf, bricht sie doch mit dem tiefsitzenden Tabu, die PR in Kampagnen nicht mit PR in Kampagnen anzugreifen. Denn Ziggy Zauggs Dekonstruktion ruft seinerseits nach Dekonstruktion, was die Spirale der Transparenz zwar weiter befördern, gleichzeitig aber auch die Delegitimation der PR weiter steigern dürfte. Das kann nicht im Sinn der professionelle Oeffentlichkeitsarbeit auf Dauer sein.

Claude Longchamp

Trendbefragungen: zwischen Momentaufnahmen und Prognosen

Ich habe mehrfach kritisch Stellung bezogen, Vorbefragungen zu Abstimmung seien per se Prognosen. Zu recht, ist immer noch meine Überzeugung. Allerdings gibt es zwischen Prognosen und Momentaufnahmen einen Graubereich, indem wir uns meiner Meinung nach mit Trendbefragungen befinden. Eine Klärung, was Sache ist.

Das ist die alte Vorstellung: Man macht zu irgendeinem Zeitpunkt eine Umfrage zu einer Abstimmung, und man weiss, wie sie ausgeht. Das stimmt so mit Sicherheit nicht. Denn es setzt voraus, alle BürgerInnen hätten zu jedem Zeitpunkt in jeder Sachfrage eine ganz genaue Meinung, nach der sie stimmen. An dieser Annahme stimmt in dieser Absolutheit so ziemlich nichts.

Die bisherige Gegenposition lautet: Eine Umfrage zu einer Abstimmung ist eine reine Momentaufnahme – mehr nicht. Die erste Hälfte der Aussage stimmt, während wir die zweite immer mehr relativieren können.

Ausgangslage
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Vorbefragungen im Zeitfenster rund 50 Tage vor einer Abstimmung legen die Ausgangslage für die Pro und Kontra-Seite offen. Das ist schon mal was. Die Vielzahl an Umfragen, die wir seit mehr als 10 Jahren für die SRG realisiert haben, erlaubt es uns, darüber hinaus wahrscheinliche resp. mögliche Verläufe der Meinungsbildung zu formulieren.

Punktgenaue Prognose sind das, ohne vorhergehende Kenntnisse über Kampagnen, Interaktionen der Komitees und Mobilisierungsanstrengungen definitiv nicht. Es lassen sich aber Einschätzungen machen, in welchen Bereichen Ergebnissen höchst wahrscheinlich zu liegen kommen.

Am einfachsten zu formulieren ist die Erwartung zur Teilnahmeabsicht. Auf Dauer nicht sie in den letzten 7 Wochen vor einem Abstimmungstag im Schnitt um 5 Prozentpunkte und erreicht sie eine mittleren Teilnahmewert von 44 Prozent. Allerdings gibt es eine Varianz. Die Zusatzmobilisierung kann bisweilen auch ausbleiben; sie kann auch bis zu 10 Prozentpunkte ausmachen.

Bei Initiativen kennen wir den Verlauf der Stimmabsichten während dieser Frist ebenfalls recht gut. Die Ablehnung nimmt fast immer zu, die Zustimmung fast immer ab. Im Mittel steigt Ersteres um 24 Prozentpunkte, während sich zweiteres um 10 Punkte verringert. Auch hier gibt es eine Varianz, die vom Mass der Unschlüssigkeit resp. der tendenziellen Befürwortung abhängt. So kann der Nein-Anteil im Extremfall auch mal 35 Prozentpunkte zunehmen, und der Ja-Wert kann sich bis zu 20 Prozentpunkten verringert. Über die Gründe hierfür muss im Moment spekuliert werden.

Am schwierigsten bleibt es, Trenderwartungen bei Behördenvorlagen zu formulieren. Im Normalfall lautet das wahrscheinlichste Szenario: Unschlüssige verteilen sich auf Ja- und Nein-Seite, wobei es keine im Voraus festlegbare Regel gibt, im welchem Verhältnis das geschieht. Im Ausnahmefall kann Ein Szenario eintreffen, wie wir es üblicherweise von Initiativen kennen; nämlich dass die Zustimmungsbereitschaft sinkt. Der Grund ist hier gut bekannt. Diesen Trend erwarten wir immer dann, wenn die parlamentarische Allianz im Abstimmungskampf durch Umpositionierungen von Parteien zerfällt. Über das Ausmass aber kann man nur spekulieren.

Das alles hat eine Konsequenz. Der Ja-Anteil in (frühen) Vorbefragungen ist der geeignetere Wert, um richtige Trenderwartungen zu formulieren.

Die Tabelle in diesem Beitrag ist entsprechend aufgebaut. Sie unterscheidet zwischen Initiativen und Behördenvorlagen, und sie zeigt, in welchem Masse Meinungswandel zwischen der ersten Vorbefragung und dem Abstimmungstag stattgefunden hat. Sie beschränkt sich auf unsere SRG-Befragungen aus dem laufenden Jahr – und ist dennoch etwas vom besten, wie man mittels Trendbefragungen falsche Erwartungen einschränken und richtige für die Zukunft vermehren kann!

> Dispositionsansatz zur Analyse von Vorbefragungen zu Volksabstimmungen

Claude Longchamp

Schutz vor Passivrauchen: Mehrheit der Männer klar dagegen, Mehrheit der Frauen knapp dafür

Warum ich das alles weiss? – Weil die Plattform politnetz seit anfangs dieser Legislatur einen ausgezeichneten Service zum Abstimmungsverhalten im Nationalrat liefert.

Man nehme: die Volksinitiative “Schutz vor Passivrauchen”. Im Parlament scheiterte sie recht klar. Im Nationalrat waren 52 VolksvertreterInnen dafür, 138 dagegen. Im Ständerat lautete das Abstimmungsergebnis 7 zu 28. Die Kantone hätten genügend legiferiert, und die Initiative sei nur schwer umsetzbar, hiess es. Der konsequente Schutz vor Rauchen am Arbeitsplatz, im Extremfall auch an einem Einzelarbeitsplatz gab den Ausschlag Richtung Nein. Zu viel des Guten! Die Polarisierung im Nationalrat erfolgte weitgehend entlang der Parteigrenzen: SVP, FDP, CVP mit samt der BDP und GLP dagegen; SP, GPS und EVP dafür.


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Diese Bilanz überdeckt allerdings eine Besonderheit der Entscheidung im Nationalrat. Es war eine klare Mehrheit der Männer, welche die Vorlage verwarf, derweil eine knappe Mehrheit der Frauen sie annahm. Das belegt die Auswertung der Stimmabgabe nach Geschlecht, welche die Online-Plattform “politnetz” auch in dieser Sache laufend vornimmt.

Der unterschiedliche Entscheid hat mehrere Ursachen: Zunächst sei an den Frauenanteil unter den befürwortenden Parteien erinnert; Mitte-Links hat mehr Frauen im Parlament als Mitte-Rechts. Und diese stimmten weitgehend einheitlich für die Initiative; einzig die Zürcher SP-Vertreterin Chantal Galladé votierte dagegen. Verstärkt wurden die SupporterInnen aus SP, GPS und EVP durch einige CVP-Frauen. Elisabeth Schneider und Christine Bulliard-Marbach drückten ihren Knopf zugunsten des Raucherschutzes, und Lukrezia Meier-Schatz und Barbara Schmid-Federer enthielten sich ihrer Stimme. So waren am Ende nur 4 der 8 CVP-Frauen gegen die Initiative. Bei den 21 CVP-Männern im Nationalrat war alles ganz anders. 19 waren dagegen; Jacques Neirynck und Fabio Regazzi heissen die beiden Befürworter.

In umgekehrter Richtung wirkte eine weitere Konfliktlinie. Die Rechtslage im Herkunftskanton bestimmte das Stimmverhalten der VolksvertreterInnen überwiegend, wenn auch nicht vollständig. So waren in Fribourg, Baselland und der Waadt zwischen 56 und 60 Prozent der stimmenden Nationalräte für die Initiative. Anders als sie verhielten sich jene aus St. Gallen, Wallis, Baselstadt, Neuenburg und Genf, die mehrheitlich ein Nein zur weiterführenden Volksinitiative empfahlen, obwohl auch in ihren Wahlkreisen ein entwickelter Nicht-Raucherschutz gilt.

Ich will damit gar nicht gross Stellung zur Initiative selber nehmen. Es geht mir mehr um eine Verständnis dafür, wie Meinungsbildung im Parlament geschieht, von Fraktion zu Fraktion und von Kanton zu Kanton. Weltanschauliche Positionen stehen im Vordergrund. Namentlich bei Männern, weniger bei Frauen. Kantonale Entwicklungen korrigieren diese Polarisierung nur beschränkt.

Uebrigens: Die tolle Innovation für die Analyse der Entscheidungen im Nationalrat könnte bald schon auch im Ständerat angewandt werden. Der hat nämlich entschieden, weg vom Dunkelkammer-Image kommen zu wollen, und sich selber zu durchleuchten. Die Plattform Politnetz wird bald für noch mehr Transparenz sorgen können!

Claude Longchamp

Eine Woche Abstimmungsberichterstattung

Die eidg. Volksabstimmungen vom 23. September 2012 stehen an. Entschieden wird über den Verfassungszusatz zur Jugendmusikförderung, über die Volksinitiative «Sicheres Wohnen im Alter» und die zum «Schutz vor Passivrauchen». Diese Woche bereitet unser Institut die Auswertung der ersten Repräsentativ-Befragung vor, realisiert für die SRG-Medien. Eine Uebersicht über mein Programm.


Wie gross ist das Ja oder Nein und was an Ueberzeugungen steckt dahinter? – Das ist die Frage der Voranalysen zu Volksabstimmungen.

Montag
Die Daten der Befragung während der vergangenen Woche treffen ein. Wenn, wie normal, alles plausibel ist, beginnt sofort die Verarbeitung: die statistische Datenanalyse einerseits, die Visualisierung der Hauptergebnisse anderseits. Martina Imfeld, Stephan Tschöpe und Sarah Deller leisten diese Vorarbeit gemeinsam. Meinerseits kümmere ich mich um eine erste schriftliche Kurzfassung der Ergebnisse, und ich überprüfe meine Arbeitshypothesen zum anfänglichen Stand der Meinungsbildung und zum erwarteten Abstimmungsausgang. Daraus entsteht die Einleitung zum Bericht, verbunden mit einem Anhang zur Theorie und zu den Daten, die der Studie zu Grunde liegen. Im Wesentlichen ist das noch Routine.

Dienstag
Das ist der eigentliche Tag der Berichterstattung. Martina schreibt diesmal die Kapitel zur Beteiligung(sabsicht) und zum Stand der Meinungsbildung beim Schutz vor Passivrauchen. Ich kümmere mich um die beiden anderen Vorlagen. Wir fragen uns jeweils: Wer ist (vorerst) dafür, wer (vorerst) dagegen? Wie gut kommen die Argumente der Kampagnen an? Wenn immer möglich, schauen wir uns auch Vergleichsabstimmungen in der Vergangenheit an, und was da die Analyse ergaben. Beim Eigenmietwert ist das am ehesten möglich; bei Passivrauchen kaum, den gesamtschweizerisch haben wir noch nie darüber entscheiden können. Wenn es reicht, bereiten wir am Abend noch die Präsentationfassung in Grafikform vor. Gestört werden will ich an diesem spannendsten Tag von niemandem!

Mittwoch
Der Morgen beginnt mit Lektüre. Martina und ich lesen die Kapitelentwürfe übers Kreuz; eine kurze kollegiale Rückmeldung wird erwartet. Danach schreibe ich die Synthese; alles Wichtige soll in verdichteter Form nochmals aufgelistet werden. Aufgezeigt werden soll, was noch unsicher ist, und es wird bewertet, was gesichert erscheint. Denn zum Schluss der Analyse geht es darum aufzuzeigen, was man von der kommenden Meinungsbildung im Abstimmungskampf erwarten kann. Martina kümmert sich parallel dazu um das Lektorat und Layout des Medienberichts. Dieser geht am Nachmittag an die SRG-Zentrale, welche allfällige Nachfragen aus journalistischer Sicht stellt. Am Mittwoch Abend löst sich bei uns meist einiges der Arbeitsanspannung in solchen Wochen.

Donnerstag
Das ist der Tag der internen Praesentation. Erwartet werden die JournalistInnen der beteiligten SRG-Unternehmenseinheiten. Am Morgen bin ich meist kurz beim Coiffeur, dann im Büro, um mich einzustimmen. Die Präsentation von MedienvertreterInnen mache ich gemeinsam mit Martina. Diesmal wird sie über den Schutz des Passivrauchens berichten – die Vorlage, welche die Oeffentlichkeit wohl am meisten interessiert. Ich nehme mich der beiden anderen Themen an. Danach gibt es Interviews und Statements, in Deutsch, Französisch und Englisch. Bis am Mittag sollten alle alles im Kasten haben, um an der journalistischen Umsetzung der Studienergebnisse zu arbeiten. Bei uns im Büro werden Medienmitteilung gegengelesen, Blogs aufgesetzt und die Information via Internet vorbereitet. Meist ist am frühen Nachmittag Schluss – Zeit sich all dem zu widmen, was die ganze Woche liegen geblieben ist.

Freitag
Nach Aussen ist der Freitag der entscheidende Tag; nach Innen hoffen wir auf Ruhe. Meist bereiten wir das, was kommt, am Morgen ein wenig via Twitter vor. Mehr ist da nicht! Das wird auch diesmal so sein, denn ich bin den ganzen Tag ausser Haus. Die Spannung steigt nachmittags um 4 Uhr, denn dann verbreitet die sda die Ergebnisse bei ihren Abonnenten. Um 17 Uhr läuft die Sperrfrist aus, und es beginnt die Publikation via Online-Plattformen. Um 18 Uhr sind die ersten Radiosendungen, und um 1930 berichten die Tagesschauen der SRG-Medien. Der Rest hängt von der Brisanz der Ergebnisse ab. Das gilt im Wesentlichen auch für den Samstag, dem Tag, an dem die wichtigsten Ergebnisse auch in den Tageszeitungen nachzulesen sind.

Meine Arbeitshypothesen lauten übrigens: Die Meinungsbildung zur Jugendmusikförderung ist noch kaum erfolgt; dafür fehlt es auch an einer frühen Aufmerksamkeit; mit einer Problematisierung von rechts ist aber noch zu rechnen. Konkreter wird das Ganze voraussichtlich bei den beiden Volksinitiativen sein: Zwar laufen die Kampagnen auch hier erst an; doch ist namentlich das “Raucher”-Thema bei vielen Menschen im Alltag ein Diskussionsgegenstand, was zur frühen (wenn auch nicht abschliessenden) Meinungsbildung beitägt. Eingeschränkt auf Hausbesitzer im mittleren und höeren Alter gilt dies auch für die Vorlage zum Eigenmietwert. In welche Richtung sich das auswirkt, werden wir ja noch sehen!

Claude Longchamp

Ursachenforschung zur abgelehnten Managed-Care-Vorlage

Das ist ausgesprochen selten: Die Wählerschaften einer jeden Regierungsparteien lehnten gemäss VOX-Analyse bei der Gesundheitsreform “Managed Care” eine Parlamentsvorlage mehrheitlich ab. Eine Ursachenklärung.

Heute erscheint die VOX-Analyse eidgenössischer Volksabstimmungen zu den Entscheidungen vom 17. Juni 2012. Verfasst wurde sie vom Institut für Politikwissenschaften an der Uni Bern; Grundlage bildete eine Telefon-Befragung des Forschungsinstitut gfs.bern, nach dem Abstimmungssonntag bei gut 1500 repräsentativ ausgewählten Personen realisiert.

Tagesschau vom 10.08.2012

Auffälligstes Ergebnis der Volksabstimmung und der Studie hierzu: Mit 76 Prozent Nein war nicht nur der Nein-Anteil exemplarisch. Sehr selten wird zudem eine Vorlage, die vom Parlament verabschiedet wurde, von der Basis aller Regierungsparteien abgelehnt. Bei der SVP waren 87 Prozent dagegen, bei der 72, bei der CVP 68 und bei der BDP geschätzte 64 von Hundert. Zur Erinnerung: Die Volks- und Ständevertreter aus den Reihen dieser Parteien hatten allesamt die Vorlage mehrheitlich unterstützt. Einzig die SP hatte in der Schlussabstimmung die befürwortende Seite, der sie ursprünglich auch angehört hatte, schon damals verlassen. Ihre Wählerschaft quittierte das mit einem 68prozentigen Nein. Der Zerfall der parlamentatischen Reformallianz verstärkte sich zu Beginn des Abstimmungskampfes, als SVP und BDP das Lager wechselten, und nun legt die VOX-Studie nahe, dass der Support an FDP und CVP Basis bis zum Abstimmungstag weitgehend einknickte.

Eine wichtige Rolle als Entscheidungsgrundlage spielte die Verbreitung von Aerztenetzwerken. Denn wer so ins Gesundheitswesen integriert und damit zufrieden ist, stimmte der Vorlage stärker zu. Indes, auch hier ist der Anteil auf unter die Hälfte eingebrochen. Mit anderen Worten: Für eine weitgehende Verbindlichkeit der Zugehörigkeit zu einem Aerztenetzwerk um mit den bisherigen Prämien rechnen zu können, wollten nicht einmal die etwas wissen, die bevorzugt gewesen wären. Wer mit der Vorlage benachteiligt wurde, lehnte sie, fast selbstredend ab. Mit anderen Worten: Ausgereift war das Projekt trotz jahrelanger Vorarbeiten im Parlament nicht.

Populärste Botschaft dasgegen war die erwartete Einschränkung der freien Arzt- und Spitalwahl. 73 Prozent der Befragten rechneten mit dieser Konsequenz. 64 Prozent gingen davon aus, Managed Care werde einen weiteren Prämienanstieg nicht verhindern können. 62 Prozent befürchteten schliesslich das Entstehen einer Zwei-Klassen-Medizin – mit gut Verdienenden, die sich eine Top-Versorgung leisten können, und dem Rest, der zwangsversorgt werden würde. Einziger mehrheitlich geteilter Punkt der Vorlage war der Risikoausgleich, der das Interesse der Kassen gesenkt hätte, vorwiegend Junge und Gesunde unter ihren Versicherungen zu haben.

Differenziert ist die eben vorgelegte Analyse zum Zusammenhang von Wissen und Entscheidung. Das Fazit lautet hier: Die Vorlagenkenntnisse seien im Vergleich zu anderen,. ähnlich gelagerten Abstimmungen nicht auffällig tief gewesen. Indes, das neue KVG habe eine zu hohe materielle Fuelle enthalten. Das habe dazu geführt, dass der Abstimmungskampf und die AbstimmungsentscheiderInnen eine Reduktion der Komplexität vorgenommen hätten, und die Entscheidung auf wenigen Aspekten der Reform erfolgt sei. Dazu zählte, wie es sich schon im Voraus abzeichnete, die Folgen einer Annahme (resp. Ablehnung) auf die freie Arztwahl.

Thomas Milic, Hauptautor der VOX-Analyse (die auch die beiden anderen abgelehnten eidg. Vorlagen vom 17. Juni untersucht) vermittelte die zentralen Ergebnisse der Studie der “Tagesschau” von heute ausserordentlich klar. Im Beitrag von Adrian Arnold macht er klar, dass die erwaretete Folgen der Vorlage und die Erfahrungen mit dem Gegenstand im Alltag von Belang waren, nicht aber die Parteiparolen. Mit anderen Worten: Zwischen der Diskussion in der Arena “Parlament” und der Arena der StimmbürgerInnen gab es einen eklatanten Unterschied, der die exemplarische Verwerfung der Reform begründet. Ein Forschungsergebnis, dass die Politik zu ihrem Vorteil zu Kenntnis nehmen sollte!

Claude Longchamp

Philosophische Follower der Philosophen

via drunks-and-lampposts

Es gibt einige Stammbäume der Philosophie, neu existiert auch eine Followeranalyse der PhilosophInnen untereinander. Dank Methoden, die sich in Twitter-Analysen bewährt haben.

Man nehme die Wikipedia. Am besten die hochwertigste, englische Ausgabe. Man suche nach Philosophinnen, und man extrahiere den Term “beeinflusst von”. Daraus entsteht … eine Follower-Analyse – unter PhilosophInnen, die manvisualisieren kann, was Simon Raper auf dem Blog “Drunks¬Lampposts” geleistet hat.


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Gelesen wird das riesige Netzwerk wie folgt: Je grösser ein Knoten, desto einflussreicher die Person. Je näher zwei Punkte, desto direkter der Einfluss. Beispielsweise beginne man bei Immanuel Kant, der auf Georg Hegel wirkte, mit Folgen für grosse Denker wie Soren Kirkegaard, aber auch Karl Marx oder Friedrich Nietzsche. Damit nicht genug: Man kann auch bei Platon beginnen, genauso wie bei Achmad Sirhindi, Thomas von Acquin, Rene Descartes, David Hume, Gottfried W. Leibniz oder Jean-Jacques Rousseau. Geeignete Ausgangspunkte mit mehr Gegenwartsbezug sind Ludwig Wittgenstein, Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Noam Chomsky und viele andere.

Sicher, das ganze unterliegt Einschränkungen: Skizziert wird nur, was die englische Wikipedia festhält. Verzeichnet sich wurden auch bloss die direkten Einflüsse, von Philosoph zu Philosoph. Indirekte, beispielsweise von Platon auf die Gegenwart, die nicht über Aristoteles gehen, findet man nicht. Und schliesslich: Feine Verbindungen fallen der Uebersicht zum Opfer. Zudem haben frühe Vertreter der Philosophiegeschichte eine höhre Chancen, “gross raus” zu kommen, denn Gegenwartsphilosophen wie Jürgen Habermas oder Slavoj Zicek können per definitionem die gleiche Gefolgschaft entwickelt haben.

Und dennoch: Eine so komplette Uebersicht der Philosophiegeschichte, die einem rasch weithilft, wo man nicht selber Experte ist, kenne ich jedenfalls nicht.

Ein Fortschritt der visual data science, die mir Kenner und Können Martin Grandjean vermittelt hat! Und so frage ich, wann die erste Netzwerkanalyse der Politikwissenschft erscheint.

Claude Longchamp