Der Schweiz mangelt es an einer ausgebauten politischen Partizipationskultur

“Politische Kultur und Wahlbeteiligung” war das Thema meiner jüngsten Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich. Ein Plädoyer für mehr Partizipationskultur, gerade zugunsten kommender Generationen.


Quelle: Gabriel/Plasser (Hg.): Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa. Bürger und Politik. Studien zur Wahl- und Einstellungsforschung, Baden-Baden 2010, eigene Darstellung

“Musterhafte Einstellung, wie Politik und Staat geführt werden sollen”, ist eine der gängigen Definitionen von politischer Kultur. Relevant ist, was dem politischen Handeln vorausgeht, ohne dass dieses selbst zur politischen Kultur gehört.

Es zählt zu den Eigenheiten des Kulturellen, dass man nur im Vergleich über die eigene Kultur differenziert genug sprechen kann. Denn ohne das tappt man gerne in der Falle der Selbstbilder, ohne die Fremdbilder zu gehen, hält man das Selbstverständliche für unumgänglich, ohne es als Möglichkeit zu durchschauen.

So sind wir in der Schweiz gewohnt, uns als Musterdemokratie zu sehen, was nicht ganz falsch, aber auch nicht einfach richtig ist. Denn die politische Kultur der Schweiz ist, gerade im internationalen Vergleich, stark auf Fragen der Demokratie in Verfassungs- und Gesetzesrevisionen ausgerichtet, die den Staat betreffen, was uns geläufig ist. Dagegen übersehen wir gerne, dass es Bereiche wie die Demokratie in der Wirtschaft gibt, die bei uns fast ganz ausgeblendet werden.

Ein Projekt zur politischen Kultur Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz im Vergleich, an dem ich vor wenigen Jahren mitgewirkt habe, stellt der Schweiz eine durchaus etablierte und gereifte demokratische politische Kultur aus. Sie ist, im oben definierten Sinne entwickelter und, besser ausgebaut als in vielen Nachbarstaaten.

Indes, sie ist mit einem deftigen Mangel behaftet. Denn die politische Involvierung in die Breite bleibt in der Schweiz zurück: Das gilt nicht nur für das Stimmrecht von AusländerIn, beispielsweise auf lokaler Ebene. Die Einschätzung trifft auch nicht einfach, wegen dem Frauen-Stimm- und Wahlrecht, Nein, zur dieser Einschätzung kommt man insbesondere, wenn man sich die Wahlbeteiligungswerte nach Alter ansieht.

Wenn die allgemeine Wahlbeteiligung mit knapp 50 Prozent international tief ist, gilt das ganz besonders für die Teilnahme an nationalen Wahlen in den jüngeren Gesellschaftsgruppen. Werte von drei Viertel Abwesenden sind keine Seltenheit. Typisch dafür, bis jetzt fehlt es an einer gesamtschweizerischen Statistik, die uns sagen würde, wie tief der Wert bei den Parlamentswahlen 2011 gewesen ist.

Was der Schweiz fehlt, ist eine Kultur der politischen Involvierung junger Menschen in die Politik. Klar, es gibt Jugendparteien, die etwas mehr Zulauf haben als auch schon. Sicher, in den Medien findet man Jugendkulte, sei es im Sport, der Unterhaltung oder der Mode. Doch bleibt das alles ohne grosse Wirkung auf die Politik. Selbst der Staatskunde-Unterricht, vielerorts versorgt in Gesellschaftsfächern, befördert die politische Partizipation Jugendlicher kaum.

Vor einem Viertel Jahrhundert galt es, ähnliche Defizite bei der politischen Aktivierung der Frauen in der Schweiz zu machen. Da ist seither einiges in Gang gekommen. Der Wertwandel hat die Aufteilung in Männeröffentlichkeit und Frauenprivatraum fraglich erscheinen lassen. Der Frauenstreik von 1991 hat Ansprüche der Frauen auf gelebte Gleichstellung erhoben. Zahlreiche Programme in Städte und Kantonen, die Zahl politisierender Frauen zu erhöhen, haben einiges in Veränderung gebracht. Diesbezüglich ranigert die Schweiz heute im oberen Mittelfeld moderner Demokratien.

Genau eine solche Kultur fehlt uns aber, wenn es um den politischen Nachwuchs insgesamt geht. Es scheint, als verteidigten die Inhaber der politischen Pfründe diese so heftig, dass sie selbst die Probleme, die dabei entstehen, übersehen.

Dem sollte etwas gegenüber gestellt werden: Als Erstes müssten wir uns bewusster werden, dass die Schweizer Demorkatie hier gefodert ist, und dass es ohne regelmässige Programme in diesem Bereich keine Besserung gibt. Als Zweites bräucht es auch ein klares Signal der jungen Menschen, dass sie in die Politik wollen. Und drittens wäre eine breite Debatte angezeigt, wie etablierte und neuen Vorstellungen politischer Partizipation in Uebereinstimmung gebracht werden können.

Natürlich, man kann auch einfach warten, bis sich die politischen Beteiligung als Gewohnheit einstellt. Erfahrungsgemäss nimmt das ab dem 30. Altersjahr in der Schweiz zu, und erreicht es mit 70 den Höhepunkt. Doch nur darauf zu zählen heisst, Rekrutierungsprobleme in lokalen Behörden, in Parteivorständen und Vereinsgremien, wie sie heute verbreitet vorkommen, als gegeben in die Zukunft zu verlängern. Gerade angesichts der ausgebauten Mitsprachemöglichkeiten darf man solche Defizite nicht einfach übersehen und hinnehmen.

Das kann meines Erachtens nicht die Absicht einer zukunftsträchtigen Demokratie sein, maximal ein Missverständnis, dessen man sich kulturell zu wenig bewusst ist und es deshalb auch nicht aktiv beseitigt.

Claude Longchamp

20 Jahre Institutsleiter am gfs.bern

Genau genommen ist es erst am Sonntag soweit; dennoch erlaube ich mir bereits jetzt eine Anzeige in eigener Sache: Denn vor 20 Jahren eröffnete ich das gfs.bern resp. das Büro Bern des gfs-Forschungsinstituts, wie es damals hiess. Ein kleiner Rückblick.

Eine Volksabstimmung zum EWR rückte anfangs 1992 ins Blickfeld. Der Bund, die Wirtschaftsförderung, die Gewerkschaften, aber auch Fernsehen und Radio zeigten Interesse, sich angemessen auf das Ereignis einzustellen. Alle gelangten sie an mich, damals schon Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Uni Bern, und im Nebenamt Projektleiter der VOX-Analyse eidgenössischer Volksabstimmungen beim GfS-Forschungsinstitut. Einzig der Kanton Bern und einige Kollegen am Institut schauten mit kritischen Augen zu, denn die mehr und mehr praxisorientierte Politikwissenschaft, die ich seit den 80er Jahren entwickelt hatte, passte nicht unbedingt ins damalige Konzept der Universität resp. der Politikwissenschaft. So begriff ich rasch, an der Alma Mater keine Zukunft zu haben und entschloss ich mich, auf meine eigenen Beine zu stehen und eine Berner Filiale von GfS zu gründen.

Am 1. April war es soweit. Nicht bloss scherzeshalber, nein, mit vollem Ernst eröffnete ich mit Unterstützung der Schweizerischen Gesellschaft für praktische Sozialforschung im Dachstock eines ehrwürdigen Hauses am Bärenplatz mein eigenes Büro. Es kamen wohl 100 Personen an die Party, stauend, ob der Innovation, hoffend, angesichts der sich abzeichnenden Möglichkeiten, aber auch argwöhnend, weil die Politologie ihre Unschuld zu verlieren schien. Selbst das Regi Bern berichtete über den gelungenen Anlass und bot mit Gelegenheit zu sagen, was da komme.

Was da effektiv kam, ist nicht an mir zu beurteilen. Dafür stand ich in den letzten 20 Jahren zu stark im Zentrum. Entscheidender als meine Meinung ist, was unsere Kundschaft denkt, wo wir für sie einen Nutzen erbracht haben, und was die Oeffentlichkeit sagt, für die wir dauerhaft gearbeitet haben. Massgeblich ist auch, was meine ehemaligen und heutigen MitarbeiterInnen denken, die einen Teil ihres (Arbeits)Lebens am gfs.bern verbracht und dabei hoffentlich auch etwas gelernt haben. Wichtig ist mir auch, was unsere Partner an den Unis, in der Verwaltung, den Verbänden und den Medien denken, die uns auch ausserhalb von Mandaten immer wieder kritisch begleitet haben. Schliesslich habe ich meinen KollegInnen am gfs-Zürich und am gfs-Befragungsdienst zu danken, welche die Entstehung der Berner GfS überhaupt erst ermöglicht haben. Last but not least, gebührt meiner Partnerin, Barbora Neversil ein volles Lob, weil sie mich durch alle Höhen und Tiefes des Wirkens als öffentliche Person, als Unternehmer und als Wissenschafter begleitet und mustergültig unterstützt hat.

Meinerseits kann ich sagen: Es war eine tolle Zeit, ja ein zeitgeschichtlicher Moment, den ich als Politikwissenschafter, Historiker, Sozialforscher, TV-Mann, Blogger und Stadtwanderer begleiten durfte. Denn die Ablehnung des EWR-Beitritts am 6. Dezember 1992 provozierte in der Schweiz eine Welle von Veränderungen, mit denen niemand gerechnet hatte: die parteipolitische Polarisierung mit dem exemplarischen Aufstieg der SVP, die wirtschaftliche Oeffnung mit verschiedenen Liberalisierungsprojekten, die neue Urbanität mit einer wachsenden Bedeutung der Städte in der Schweiz, der kulturelle Wandel, der sowohl die Moderne als auch die Tradition im Inneren des Landes stärkte. Das alles bedeutete für uns am gfs.bern stets auch Arbeit. An die 1000 Forschungsprojekte haben wir in diesem Umfeld machen dürften – ein Privileg, das ich zu schätzen weiss und das ich gerne noch einige Jahre in Anspruch und geniesen werde.

Claude Longchamp

Neue Parteistärken – in Wahlbefragungen und Wahlen

Gestern veröffentlichte die Sonntagszeitung erstmals seit den Nationalratswahlen 2011 Umfrage-Ergebnisse zu Parteistärken. Zudem wählte mit St. Gallen jüngst ein Kanton, der gross genug ist, um nationale Trends reflektieren zu können. Ein Kommentar zu den aktuellsten Veränderungen in der Parteienlandschaft.

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Quelle: Sonntagszeitung

Man erinnert sich sicherlich: BDP und GLP gewannen die Wahlen in die Volksvertretung im letzten Oktober. Alle anderen mussten, bei leicht steigender Wahlbeteiligung, Wählerverluste in kleinerer oder grösseren Zahl hinnehmen.

Teilweise ähnliches wiederholte sich im Kanton St. Gallen, dem grössten Kanton, der seither gewählt hat. Die Wahlbeteiligung stieg, und die grössten Gewinne gingen an GLP und BDP. Anders als auf nationaler Ebene konnten auch SP und GP zulegen, und es hielt sich die FDP. Verluste setzte es bei der CVP und namentlich der SVP ab.

Nun veröffentlichte die Sonntagszeitung erstmals auch ihre Parteienbarometer. Erstellt wird es quartalsweise, aufgrund von Isopublic Erhebungen. Akutell basiert die Auswertung auf 1009 Befragten, interviewt um die Monatswende vom Februar zum März.

Erneut gehören die GLP und die BDP zu den klaren Gewinnerinnen. Etwas zugelegt haben SP und FDP, während die CVP stabil ist. Minimale Verluste ergeben sich für die GP, deutliche für die SVP. Angaben zur Wahlbeteiligung, wäre denn auch gewählt worden, macht die Sonntgszeitung nicht.

Was heisst das alles? – Bestätigung findet der Haupttrend von 2011. Die neuen Parteien im Zentrum, die mässigend auf die Polparteien, sind (unverändert) im Schwang. Schaden genommen hat vor allem die SVP, ohne dass die Partei ihre Position als wählerstärkste Kraft in der schweizerischen Parteienlandschaft eingebüsst hätte. Der Rest ist etwas uneinheitlich. Am ehesten noch gilt, dass die SP von den Monaten seit den Nationalratswahlen etwas profitiert hätte. Stabilisiert hätte sich die FDP. Etwas unsicherer ist diese Aussage in Bezug auf CVP und GPS.

Oder anders gesagt: Die Polarisierung der Parteienlandschaft scheint überwunden. Dafür sprechen alle Werte für die neuen Parteien im Zentrum. Bezahlt wird dieser Wandel in erster Linie von der SVP, die am klarsten und längsten von der Polarisierung der Parteienlandschaft profitiert hatte. Der Rest hat sich lagermässig stabilisiert. Bei den Parteien gilt, das für die SP, wohl auch für die FDP. Unsicher ist das namentlich bei der CVP.

Am auffälligsten ist der Wandel zwischen steigender Wahlbeteiligung und Gewinnen für die SVP. Was jahrelang galt, ist seit 2011 ausser Kraft gesetzt. Vieles spricht dafür dass die rechtspopulistische Mobilisierungskraft der SVP nachgelassen hat, nicht zuletzt seit sie fast durchwegs eine negative Presse hat. Denn genau die Focusierung der Medienaufmerksamkeit auf die SVP hatte ihr immer wieder geholfen, selbst wenn die Kommentierung schwanken war.

Die neue BürgerInnen, die sich einbringen (wollen) gehen zu den neuen Parteien, die von Vorschusslorbeeren profitieren können. Vermehrte Kritik an ihrer Kampagnenfähigkeit (GLP im Zusammenhang mit der Zweitwohnungsinitiative) und Politik der SpitzenrepräsentantInnen (BDP mit Bundesrätin Widmer-Schlumpf) dürfen ihnen nicht egal sein. Mindestens in St. Gallen haben die Trends in der Beteiligung auch der in der Minderheit stehenden Linken geholfen, die durch ihren unerwarteten Wahlerfolg bei den Ständeratswahlen beflügelt ist.

Claude Longchamp

Meine Vorträge

Ich bin, von meinen neuen Twitter-Gefolgsleuten, diese Woche gefragt worden, ob ich auch Vorträge halte. Die Antwort lautet: selbstverständlich.

Um etwas präzisere zu sein: zu meinen Angeboten gehören öffentliche, in Gesellschaften, an Tagungen und für Seminarien. Hinzu kommen selbstverständlich die Präsentationen von Projekten, die wir am Forschungsinstitut gfs.bern für Mandaten oder die Allgemeinheit realisieren (worüber hier berichtet wird) sowie meine Lehrveranstaltungen an den Universitäten St. Gallen, Zürich, Bern und Kurse an den Universitäten Freiburg, Lausanne sowie an der Fachhochschule Winterthur und am Medienausbildungszentrum.

Oeffentliche Vorträge sind für jedermann zugänglich. Gesellschaftliche finden in einer Club-Umgebung statt; geladen sind die Mitglieder, gelegentlich auch die Medien. Bei Seminarien oder Tagungen gibt es meist einen themenzenrierte Einladungsliste; an Tagung können meist Interessierte teilnehmen, bei Seminarien in der Regel nicht.

Nachstehend eine Uebersicht, was für Vorträge ich in den kommenden Monaten (teil)öffentlich halte; am häufigsten geht es um Wahlen, Parteien, Abstimmungen und Volksrechte, aber auch Umfrageforschung und Politikwissenschaft generell sind nachgefragte Themen.

18.4.2012 Zofingia Basel
Das Parteiensystem der Schweiz im Umbruch – warum und wohin?

24.4.2012 Rotary Club Muttenz
Wahlanalyse 2011 und ein Blick darüber hinaus

3.5.2012 Swiss-American Society Zürich
Meinungsbildung in der direkten Demokratie – Erfahrungen aus der Schweiz

15.5.2012 ecopolitics Bern
Erfolgsfaktoren von Volksinitiativen

25.5.2012 Diplomlehrgang für GemeindepolitikerInnen Kanton Bern
Politische Theorie für die Praxis

Interessenten, die mich einladen möchten, melden sich am besten per mail bei mir direkt. So können wir Termine, Themen und Konditionen direkt besprechen. Es lohnt sich, sich frühzeitig zu melden. Denn ich bin regelmässig 3 bis 6 Monate im Voraus ausgebucht.

Ach ja, darüber hinaus mache ich, vor allem in Bern Stadtwanderungen. Sie dauern zwischen 1,5 Stunden und einem ganzen Tag. Die Führungen sind immer zu einem Thema, meist historisch-polit-kultureller Natur. Es geht um die Raumgeschichte Berns, aber auch um Themen wie Demokratisierung der Oeffentlichkeit oder Wirkungen von Volksrechten. Diese “Vorträge” mache ich nur für Gruppe, zum Beispiel für ausländische Delegationen, Regierungen, Parlamentarische Gruppen, Kommission, Bundeshausredaktionen und Stadtberner Vereine. Mehr dazu hier.

Claude Longchamp

Politikprognosen mit Tücken

Seit den Wahlen 2011 haben die bekannten Wahlbörsen wie “wahlfieber” Konkurrenz bekommen. Mit “Politikprognose” ist ein Vorhersagemarkt neuen Typs hinzu gekommen.

Wahlfieber kennen meinen LeserInnen hinreichend. Ich habe die Leistungen der offenen Wahlbörsen, die Stärken und Schwäche mehrfach beschrieben. Politikprognosen ist nicht einfach ein zusätzliches Beispiel hierzu. Vielmehr handelt es sich um einen Prognosemarkt, der nicht auf die Weisheit der Vielen, sondern die Weisheit der Guten setzt. Anders aber als Expertengruppen (wo man sich untereinander kennt (und damit potenziell beeinflusst), basieren die Politikprognosen auf anonym gemachten Vorhersagen gut informierter Fachleute.

Die Leistungen von Politikprognosen bei den jüngsten eidgenössischen Abstimmungen blieben durchzogen. Vier Tage vor der Abstimmung richtig und präzise waren die Vorhersagen zur Buchpreisbindung einerseits, der Bauspar-Initiative anderseits. Korrekt waren die Prognosen bei der Ferien-Initiative und den Geldspielen; indes, die Abweichungen waren beträchtlich. Das gilt auch für den Ausgang der Zweitwohnungsinitiative – hier kommt erschwerend hinzu, dass die Mehrheit falsch war, ging man doch von einer Ablehnung der Vorlage aus.

In einer kurzen Manöverkritik gehen die Macher von Politikprognosen, die an verschiedenen europäischen Universitäten tätig sind, von zwei Ursachen für die Probleme aus: dem Thema und den Teilnehmern. Alles wird darüber hinaus von der zur Verfügung stehenden Information bestimmt. Ist sie aktuell gering, bleiben Vorhersagen dieser Art erschwert; das gilt zusätzlich, wenn es sich um unübliche Themen und Konfliktkonstellationen handelt. Denn dann versagen auch die beiden wichtigsten, intuitiven Quellen der Expertenvorhersage, ob als Focusgruppe oder als anonymes Panel. Unerwähnt bleibt dabei, dass die Popularbörsen, dort, wo sie eingesetzt wurden, besser als die Expertenbörsen waren.

dispo

Vor über 10 Jahren habe ich erstmals dieses Thema auch aufgriffen, und vorgeschlagen, 4 Quellen der Information systematisch beizuziehen:

. die Empfehlungen der Behörden sowie die Parolen der Parteien
. die Intensitäten und Dynamiken der Kampagnen
. die Problemdeutungen der BürgerInnen und ihre Lösungspräferenzen sowie
. das allgemeine politische Klima

Frei verfügbar sind nur die erste Quelle. Die dritte steht Interessierten mehr oder minder vollständig über die SRG-Umfragen zur Verfügung. Zweiteres wird gelegentlich geleistet, beispielsweise durch das fög der Uni Zürich, oft ist es aber erst im Nachhinein verfügbar, und damit für direkte Prognosen unbrauchbar.
Das allgemeine Klima wiederum können alle bestimmen; indes, es ist nicht einfach zu quantifizieren.

Werte Kollegen, vielleicht hilft euch das weiter, bei den Prognosen für den 17. Juni 2012. Bonne Chance!

Claude Longchamp

Politiker als Eisverkäufer …

Am Dienstag staunte ich nicht schlecht, denn der Blick am Abend behandelte das Medianwählermodell ebenso ausführlich, wie ich es für meine Wochenvorlesung an der Uni Zürich vorgenommen hatte. Anders als ich glauben die Blick-Leute jedoch, damit das taktische Verhalten von Parteien verstehen zu können, während ich die Theorie nur für die strategische Analyse gelten lasse.

Der Ausgangspunkt ist einfach: Ein Strand von beispielsweise 10 m Breite und 100 m Länge sei im Osten und Westen durch Felsen begrenzt, im Norden durch das Meer und im Süden durch eine Uferpromenade. An diesem Strand gibt es genau zwei Eisverkäufer mit je einem mobilen Eisverkaufsstand, der aber nur längs der Uferpromenade bewegt werden kann, nicht im Sand. Der Strand ist gleichmäßig mit Badegästen gefüllt. Beide Eisverkäufer bieten das gleiche Eis zum gleichen Preis an. Gesucht ist die optimale Position beider Eisverkäufer.

Sprechen sich die beiden Eisverkäufer ab, teilen sie den Strand in zwei gleich grosse Rayons auf. Beide bekommen einen Bezirk exklusiv, wenn sie auf die andern verzichten. Ihr idealer Standort ist jeweils in der Mitte ihres Sektors. Stehen sie jedoch in Konkurrenz zueinander, werden sie sich in die Mitte des gesamten Strandes bewegen, und zwar wechselseitig, weil sie da die grösste Chance haben, alle Besucher anzusprechen. Indes, sie müssen sich bei identischem Eis mit tieferen Preise bekämpfen oder aber die neue Glaces anbieten, auf die möglichst viele Strandbesucher stehen.
Auf die Politik übertragen heisst das: Zwei Parteien sprechen sich entweder untereinander ab, wer welche Wahlkreise bekommt, oder sie wetteifern untereinander in allen Wahlkreisen, wobei, in einem Zweiparteiensystem die Partei gewinnt, welche die Präferenzen der WählerInnen in der Mitte, die Medianwähler eben, besser abbildet.

Das so skizzierte Modell ist ebenso häufig kritisiert wie zitiert worden. Weil Parteien nicht einfach Eisverkäufer sind, die x-beliebig dem Volk folgen. Vielmehr sind sie gewachsene Gebilde, die Teile der Bürger in regionaler, werte- oder interessenmässiger Hinsicht vertreten. Ihren einmal eigenommen Standort können sie nicht einfach ändern, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Anders als am Strand, wo die Leute für einige ausserordentliche Tage hingehen, sie die WählerInnen mehr oder minder permanent da.

Dennoch, die Annahme, dass die Zahl, die Position und das Verhalten der Parteien einen Einfluss hat auf ihre Wahlchancen hat, ist auch politikwissenschaftlich berechtigt.

Bis 1991 funktionierten Schweizer Wahlen weitgehend nach dem Konkordanzmuster, samt Gebietsabsprachen. Dann positionierte sich die SVP neu, als Partei gegen die EU, und liess ihre früheren Hemmungen fallen, zum Beispiel in Gebieten anzugreifen, die der CVP gehörten. Die Folge kennen wir: Die SVP stieg von der 4. Zur Wählerstärksten Partei der Schweiz. Auch die Grünen legten seit den 80er Jahren schrittweise zu, weil sie sich den ökologischen Themen annahmen und so vor allem einen Teil der linken Wählerschaft für sich gewinnen konnten. Aufgelöst wurde so der Zwang der Parteien, sich gegen die Mitte zu bewegen und die Konkurrenz als Partner zu akzeptieren. Zuerst gab es im linken, dann im rechten Lager politischen Wettbewerb. Die Chancen neuer oder neupositionierter Parteien erhöhen sich, gerade in der Schweiz, wenn es ihnen gelingt bisherige Nicht-WählerInnen zu mobilisieren. Die findet man vor allem an den Polen der neuen Konfliktlinie am ehesten: also klar gegen Autos, klar gegen EU. Ihr Erfolg nimmt zu, wenn sie auf diesem Weg auch unzufriedene WählerInnen der bisherigen Parteien für sich gewinnen können.

Einiges spricht dafür, dass sich die Parteienlandschaft der Schweiz seit den 90er Jahren so entwickelt hat. Neuerdings scheinen die Potenziale, welche die Veränderungen bewirkt haben, jedoch ausgereizt. Denn es verlieren heute nicht nur die traditionellen Mitte-Parteien, auch die Polparteien wachsen elektoral nicht mehr. Vielmehr kennen Schweizer Wahlen mit der BDP und GLP zwei neue Angebote. Entstanden sind beide Parteien als Abspaltungen von Polparteien, die sich zu einseitig positioniert haben: die GLP weil die GPS mit ihrem Etatismus nicht mehr alle ökologischen WählerInnen abdeckte, und die BDP, weil die SVP mit ihrer Oppositionsneigung nach der Abwahl Blochers aus dem Bundesrat gemässigte Konservative mit Vertrauen in den Staat bei sich halten konnte. Auch hier gilt: Es sind die nur die Abgespaltenen, die zählen, es werden auch die Neu- und WechselwählerInnen von Belang.

Meines Erachtens ist die Medianwählertheorie gut und schlecht zugleich. Schlecht ist sie, wenn sie, wie vom Blick zitiert, zur Analyse von taktischen Positionsbezügen verwendet wird. Denn wer sich als bestandene Partei positioniert, setzt sich dem Vorwurf aus, opportunistisch zu sein. Gut ist sie hingegen, wenn sie für die strategische (Um)Positionierung von Parteien eingesetzt wird. Das heisst auch, dass es nicht um den Tageserfolg der Eisverkäufer geht, sondern um die mittel- und langfristige Profilierung von Parteien geht. Dabei darf sie sich zwangsläufig nicht auf das Publikum stützen, dass an einem Wochenende die Strände bevölkert, sondern muss sich an den Generationen ausrichtigen, die in 10 bis 20 Jahren die Politik ausmachen werden. Zudem, und da endet die Analogie zum Konsumismus ganz: Es geht in der Politik auch um adäquate Antworten einer Gesellschaft auf neue Herausforderungen, die durch den Parteienwettbewerb entwickelt und durch die WählerInnen-Entscheidungen bewertet werden.

Oder noch klarer: Die einfachen und kurzfristigen Interessen der Strandbesucher und Eisverkäufer erklären und die Politik nicht; es kommt darauf an, sie in einem gegebenen Politsystem, angesichts vorherrschender Demokratiemuster und unter Einbezug des Beteiligungsverhalten und der Generationenfolge zu bestimmen. Denn erst dann wird das Verhalten neuer Parteien oder eines veränderter Auftritt bis Parteien von Belang. Und nur dann machen Wahlanalysen mit Theorie wie der hier beschrieben Sinn, um zu verstehen, was bei einer Wahl geht.

Claude Longchamp

Lernprozesse in der (angewandten) Wahlforschung der Schweiz

Vor einem Jahr hielt ich an den Aarauer Demokratie-Tagen ein Referat zum Stand der Wahlforschung, mit Blick auf die anstehenden Parlamentswahlen. Letzte Woche nun verfasste ich den Rückblick auf eben dieses Ereignis, verbunden mit einer (weiteren) Zwischenbilanz zum Stand der angewandten Wahlforschung. Ein kurzer Vergleich der Einschätzungen, um etwas über Lernprozesse zu erfahren.

Mindestens drei Forschungs- und Umfrageinstitute haben sich daran beteiligt – unseres für die SRG, Isopublic für die Sonntagszeitung und Demoscope für den Sonntagsblick.
Die Ergebnisse, die dabei herausgekommen sind, unterscheiden sich. Weniger hinsichtlich der „Prognosen“, die über alle einigermassen zutrafen, ohne einzelne Schwachstellen vermeiden zu können. Sie differieren vor allem hinsichtlich des Aufwands, den die Medien als Auftraggeber finanziell, zeitlich und platzmässig betrieben; das hat das SRG-Projekt zum eigentlich Marktleader avancieren lassen. Damit verbunden ist die Nachfrage nach spezialisierten Angeboten, die auf dem kleinen Umfrage-Markt zwischenzeitlich zu haben sind.

Mit dem Wahlbarometer haben wir erstmals versucht, Erklärungsansätze der Parteienwahl systematisch in die Befragungsreihe einzubauen. Es ging darum, was die Wahl einer (grösseren) Partei determiniert:

erstens, das Image der Kampagnen, die Taktik mit Blick auf die Bundesratswahlen, was kurzfristige Determinanten sind,
zweitens, die Personen an der Spitze der Parteien, die Themenkompetenz der Parteien aus der Optik der Wählenden und die Beurteilung des Bundesrates, was man als mittelfristig wirksame Faktoren ansehen kann,
und drittens, die Werthaltungen, die Parteien verkörpern, ohne Zweifel ein langfristig angelegter Bestimmungsgrund der Parteienwahl.

Der so gewählte Ansatz der SRG-Befragung (über dessen Ergebnisse exemplarisch hier berichtet wird) hat sich bewährt; er liefert eindeutig mehr als die bekannten Beschreibungen der Parteistärken nach Merkmalsgruppen; er ist auch flexibler als die Messung von Präsidentenimages, um daraus Siege und Niederlagen der Parteien abzuleiten.

Wenn es also offensichtliche Entwicklungen in der Entwicklung von Erklärungen der Parteienwahl gibt, bleiben doch beschränkte Probleme in der Beschreibung der Wahlabsichten. Deren Zuverlässigkeit konnte 2011 erstmals nicht mehr gesteigert werden. Das hängt wohl mit der grösser gewordenen Unsicherheit der Parteienwahl zusammen, ausgelöst mit der wachsenden Kritik an der SVP, welche die Mobilisierungsfähigkeit beeinträchtigte, aber auch mit dem Auftreten neuer Parteien und kurzfristiger Entscheidungen.

Da hat die Umfrageforschung vor allem via Wahlbörsen eine Konkurrenz bekommen. Wenn deren Leistungen bei der Prognose beträchtlich sind, darf jedoch eines nicht übersehen werden: Der Wahlforschung, die darauf ausgerichtet ist zu klären, warum wer wen wählt, sind sie gar nicht dienlich. Denn sie focussieren einzig die Frage, wer gewählt wird. Alles andere, das eigentlich interessiert, behandeln sie gar nicht.

Immerhin, eines zeigten die jüngsten Wahlen auch: Immer mehr zeichnet sich wie in der amerikanischen Wahlberichterstattung ab, dass die zuverlässigsten Prognosen, Diagnosen und Analysen nicht aufgrund eines einzigen datengetriebenen Instrumentes gemacht werden, sondern aus der distanzierten Bewertung der verschiedenen Instrumente durch Wahlexperten insgesamt. Das Panel der Berner Spezialisten am Institut für Politikwissenschaft verweist in diese Richtung. Leider publizierten sie ihre Einschätzungen der Parteien vor der Wahl erst nach der Wahl. Immerhin, ich hatte kurz vor der Wahl Einblick in die Ergebnisse. Wenn ich mir ansehe, was beispielsweise Markus Freitag, seit August 2011 Professor für politische Soziologie an der Berner Uni, ablieferte, kann ich nur den Hut ziehen. Denn besser als er war niemand. Das wird man 2015 zu beachten haben!

Claude Longchamp

siehe auch meinen Artikel “Prognosen, Trends und Bestandesaufnahmen vor Wahlen”, in: Ziegler, Beatrice, Wälti, Nivole (Hg.): Wahl-Probleme der Demokratie. Schriften zur Demokratieforschung 5, Zürich 2012, pp. 61-74

Lazarsfeld vom Kopf auf die Füsse gestellt

111 Follower am ersten Tag, ohne auf Twitter schon aktiv zu sein. Ein spot Ueber die Eigendynamiken der der neuen und alten Medien.

Gestern ging alles schnell. Mein Twitter-Konto war eingerichtet, die Instruktionen zur Funktionsweise waren erfolgt. Dann zwitscherte ich, ich würde ab nun zwitschern. Und hängte mich bei einigen bekannten Leuten als Gefolgsmann an. Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten. Nach nur einer Nacht hatte ich meinerseits 111 Gefolgsleute.

Ein wenig erinnert mich das an Paul Lazarsfelds two-step-flow of communication. Der Oesterreicher, angesichts der nationalsozialistischen
Bedrohung in die USA emigriert, formulierte ein frühes Gesetz der Medienwirkung: Massenmedien, vor allem Zeitungen, verbreiteten Informationen, die von Meinungsführern aufgenommen und ihrem Umkreis kommentiert verbreitet würden. Diese Zweistufigkeit wirke, nicht die Medieninformation an sich. Denn viele denkbare LeserInnen seien überfordert, mit der Information etwas anfangen zu können, weshalb sie sich auf das Urteil von Gewährleuten verlassen würden.

Die sozialwissenschaftliche Literatur seither hat vielfachen Zweifel am Gehalt dieser Theorie angemeldet. Die Bildung der MedienkonsumentInnen habe zugenommen. Sie würden sich zudem jenen Medien zuwenden, deren Grundhaltung sie teilten, sodass es keine Mittelsleute mehr brauche. Die Meinungsführer von damals kämen weiters immer öfter in den Massenmedien selber vor. Namentlich die Personalisierung des Journalismus durch Radio(stimmen), dann durch Fernsehegesichter habe vieles verändert; die Zeitungen hätten reagiert, arbeiteten heute mit zahlreichen eigenen Kommentatoren, die genau die Wertungen vornehmen würden, die Lazarsfeld den Gefolgsleute in den Gesellschaften zugeschrieben habe.

Mit twittern habe ich noch nicht grosse eigene Erfahrungen. Ich verfolge das bunte Treiben seit den letzten Wahlen in der Schweiz – über eine Konto meines Instituts. Das liess den Gedanken in mir reifen, nun selber zu twittern. Ueber meinen Alltag als Politikwissenschafter, über meine Rechercheergebnisse zum Beispiel für meine Lehrveranstaltungen und über das, was ich blogge. Das ist eigentlich genau das, was man (fachspezifische) Meinungsführung nennen könnte.

Wenn ich mit die Gesamtheit der Twitter-Gemeinde ansehe (der Begriff ist tatsächlich berechtigt, wie das Hallo, das ich gestern unter Eingesessenen mit meiner Ankündigung ausgelöst habe, belegt), komme ich zum Schluss, dass Zwitschern zum Mediengeschehen genauso etwas ist, wie es Lazarsfeld mit dem Zwei-Stufen-Gesetz der Medienkommunikation umschrieben hat. Wenn Blocher vom Staatsanwalt heimgesucht wird, äussern sich spin doctors aller Art umgehend auf Twitter, um dem Geschehen ihren Dreh zu geben. Indes, ein Unterschied besteht. Kar mehr als die Meinungführer von damals stellen die Zwitscherer selber eine Art Oeffentlichkeit her, auf die die Massenmedien reagieren. Dafür spricht die hohe Zahl an JournalistInnen, denen ich gestern auf Twitter begegnet bin, ja auch Kommentatoren aus meiner Zunft sind recht zahlreich dabei. Sogar Chefredaktoren scheinen diese Quelle der Informationsschaffung ganz aktiv zu nutzen, um sich auf dem laufenden zu halten, wo sich Geschichten abzeichnen.

Damit wäre Twittern dann nicht die zweite, sondern sogar erste Stufe der massenmedialen Kommunikation. Paul Lazarsfeld Idee wäre nicht nur wiedergeboren, sie wäre durch die Spatzen im Internet vom Kopf auf die Füsse gestellt worden!

Claude Longchamp

Oekokonservatismus ist ein Trumpf

Die gestrige Aktualität hat alles ein wenig überlagert; dennoch newsnetzt publizierte eben ein Interview mit mir, das am Dienstag zur Erstanalyse der angenommenen Initiative “Stopp dem uferlosen Zweitwohnungsbau” geführt wurde. Hier die Einordnung, und hier das ganze Interview.

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Bild: newsnetz

Newsnetz: Es heisst, die Schweizer stimmten keiner Initiative zu, die Wirtschaftsinteressen zuwiderlaufe. Diese Regel muss man nach Annahme der Zweitwohnungsinitiative relativieren, oder?
Claude Longchamp: “Die Aussage stimmt, wenn man sich auf Themen wie Ausschaffung, Unverjährbarkeit und Verwahrung bezieht. Diese Initiativen wurden angenommen, waren wirtschaftlich aber irrelevant. Mehrheitlich sagte man das auch von der Minarettinitiative oder dem UNO-Beitritt. Bei der Gentechinitiative in der Landwirtschaft stimmt das überhaupt nicht. Wohl auch nicht bei der Alpeninitiative. Da geht es mehr um die Frage, welche wirtschaftliche Entwicklung wir wollen, genauso wie bei der Zweitwohnungsinitiative. Und da ist Ökokonservatismus ein Trumpf.”

20 Jahre Hochrechnungen zu Volksabstimmungen

Seit 20 Jahren mache ich Hochrechnungen zu Volksabstimmungen für die SRG Medien. Ein persönlich gehaltener Rückblick.

Ganz am Anfang stand eine Entdeckung. Bei der Abstimmung über die (schon damals abgelehnte) Ferien-Initiative von 1985 bemerkte ich erstmals, dass die Reihenfolge der Kantone in der Zustimmung nicht beliebig war, sondern einem Muster folgte, das man schon im voraus hätte wissen können.

Das liess in mir die Idee aufkommen, darauf aufbauend Hochrechnungen zu Volksabstimmungen zu machen. Denn die funktionieren nach dem Grundsatz: Wenn Du einen Kanton hast, der früh bekannt ist und Du weisst, dass der in systematischer Art und Weise von gesamtschweizerischen Ergebnis abweicht, dann kannst Du bei Vorliegen des Kantonsergebnisses auf das nationale Endresultat schliessen, bevor jemand dieses kennt.

Die Hoffnung, es würden nur ein solches Muster geben, erwies sich als trügerisch. Auch zerschlug sich die Erwartung, dass es einen schnell ausgezählten Kanton geben würde, der sich für die Extrapolation bei allen Abstimmungsthemen eigne. Das machte den ersten Anlauf zunichte, kontinuierliche Hochrechnungen zu eidgenössischen Abstimmungen leisten zu können.

Der zweite Anlauf war erfolgreicher. Abstimmungsergebnisse wurden in der zweiten Hälfe der 80er Jahre immer häufiger elektronisch zugänglich gemacht. Zudem kamen erste Programme zu deren effizienten statistischen Analyse auf den Markt. Seit 1988 arbeitete ich deshalb im Geheimen während meiner Anstellung als Uniassistent am Projekt „Hochrechnungen“.

Den Durchbruch brachten die Wahlen 1991. Das Schweizer Fernsehen wurde auf meine Analyse zu Parteien, Wahlen und Abstimmungen aufmerksam. Die Idee, das in geeigneter Form medial umzusetzen, wurde gemeinsam geboren. Anlass bot die sich immer deutlicher abzeichnende Abstimmung über einen EWR-Beitritt der Schweiz. Bis dann sollte das Projekt „Hochrechnungen“ gereift sein, meinten Werner Vetterli, Toni Schaller und Balz Hosang von der Chefredaktion.

Anschauungsmaterial boten die IWF-Entscheidung im Mai 1992, gefolgt von der Neat-Abstimmung im September des gleichen Jahres. Am 6. Dezember 1992 war es soweit: Der historische Moment in der Schweizer Gegenwartsgeschichte war auch der eigentliche Startschuss für TV- und Radio-Hochrechnungen, die es seither live gibt und die ich lückenlos kommentiert habe.

In den 20 Jahren, in denen ich dieses Geschäft nun betreibe, sind die verwendeten Methoden weiter entwickelt worden. Durchbrüche waren zuerst logistischer Natur, denn heute verfügen wir über eine umfassende Datenbank mit allen Abstimmungsresultaten der Gemeinden, Bezirke und Kantone. Es kamen mapping-Verfahren hinzu, die uns Uebersichten liefern über vergleichbare Abstimmungen liefern. Schliesslich gelang es uns auch, Ergebnisse aus den Vorbefragungen in diese Systematik einzubauen. Das alles macht es uns möglich, routinemässig Referenzabstimmungen für kommende Entscheidungen zu ermitteln, aufgrund derer wir im Vorfeld eines Abstimmungssonntages die Gemeinden auswählen, denen Ergebnisse wir brauchen, kantonale und nationale Extrapolationen machen, die uns Volks- und Ständemehr anzeigen.

Nötig war es auch, ein eigentliches Team aufzubauen, das im entscheidenden Moment extrem leistungsfähig ist. Denn faktisch verfügen wird ab 12 Uhr und einige Minuten über geeignete Resultate, die uns zwischen 13 und 14 Uhr die gewünschten Hochrechnungen erstellen lassen. Dazu sind erfahrene MathematikerInnen nötig, PolitikwissenschafterInnen, die abstrakte Modelle in konkrete Abstimmungsergebnisse übersetzen und Kommunikatoren, die das Ganze beispielsweise auf im Minutentakt Internet verbreiten können.

Am meisten Freude macht mir, dass es uns gelungen ist, aus Prognose auch Erklärungen zu machen. So sind wir heute in der Lage, schon hochgerechnete Kantonsmuster eine Vorlage, deren Ergebnis offiziell noch gar nicht feststeht, hinsichtlich typischer Konfliktlinien wie Sprachräume und Siedlungsart zu analysieren. Und wir können ein erstes Mal abschätzen, welche Parteien geschlossen oder gespalten gestimmt haben. Schliesslich sind wir in der Lage, Einflüsse aus den wirtschaftlichen Verhältnissen, kulturellen Eigenheiten und politischen Präferenzen in den Regionen auf die Stimmentscheidungen zu berechnen. Dies hilft uns seit Jahren, schon am Sonntag Nachmittag, spätestens aber im Verlaufe des Montag, eigentliche Erstanalysen vorzulegen, die einen Einblick geben, welche räumlichen Einheiten wie gestimmt haben, und vor allem was die Gründe dafür sein können.

In den Jahren, in denen ich dazu den Abstimmungssonntag im Fernsehstudio verbringe, habe ich allerlei gesehen: Unvergessen in mein Gedächtnis eingebrannt hat sich Christoph Blochers Einzug beim EWR-Nein. Oder Peter Bodenmanns Nachfrage, ob er sich, ausgerechnet bei mir, dem Fliegenträger, eine Krawatte ausleihen könne, um gesittet vor die Kamera stehen zu können. In guter Erinnerung habe ich auch, wie knapp die Entscheidungen bei der KVG-Revision, der Asylinitiative und dem Uno-Beitritt waren, die wir alle richtig vorausgesagt haben. Beim letzten Thema kam „erschwerend“ hinzu, dass sich ein zentraler Mitarbeiter in unserem Team mitten in den Arbeiten in einen TV-Gast verliebte!

Claude Longchamp