Buchpreisbindung: Noch hat keine Seite ein Mehrheit hinter sich

Die Meinungsbildung zur Buchpreisbindung schreitet zügig voran. Die in Umfragen bekundeten Gegnerschaft ist zwischenzeitlich stärker als die BefürworterInnen. Doch hat keine Seite eine gesicherte Mehrheit. Hier eine Auslegeordnung.

Vor vier Wochen lagen die die BefürworterInnen der Buchpreisbindung bei 49 Prozent; ihre WidersacherInnen bei 39 Prozent. Zwischenzeitlich haben sich die (relativen) Mehrheitsverhältnisse umgekehrt. Die Nein-Seite umfasst nun 47 Prozent; das Ja liegt bei 40 Prozent.
Der Nein-Trend ist in erster Linie in der deutschsprachigen Schweiz markant; in der Romandie und im Tessin findet er sich kaum.

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Was ist der Grund? – Die Buchpreise sind bei den “Lateinern” kein parteipolitisches Thema, bei den “Alemannen” schon. Bei den Deutschsprachigen die stimmen wollen, kippte die Tendenz, auf 53:37 für das Nein.

Die Opposition startete bei den bürgerlichen Jungparteien. Das zeigte bei den bürgerlichen Parteien Wirkung. Je rechter sie stehen, um so mehr. Bei der SVP sind zwischenzeitlich 60 Prozent gegen die Buchpreisbindung, bei der FDP 52 Prozent. Dafür sind noch 27 resp. 36 Prozent. Am wenigsten merkt man davon bei den Wählenden der CVP; hier lauten das aktuelle Verhältnis 48 zu 39 – ohne klare zeitliche Entwicklung.
Das alleine reicht nicht, damit die Zustimmung zur Vorlage kippt. Denn die linken WählerInnen halten ihr die Stange. Doch ist ihre Ausstrahlung schwächer als sonst. Denn die urbanen WählerInnen, auch die mit höherer Schulbildung sind nicht eindeutig dafür. Sie, die am meisten Bücher lesen und kaufen dürften, wissen um die Vorteile des Büchereinkaufs auf Internet – eine offensichtliche Schwäche der Vorlage.

Der Konflikt ossziliert zwischen dem Schutz eines Kulturgutes und neuen Realitäten. Ersteres hat etwas Konservierendes an sich; setzt auf Föderalismus, breite Versorgungsdichte und faire Preise. Zweiteres ruft zum Kampf gegen die Hochpreisinsel Schweiz auf, nährt sich von der Angst, mit der Buchpreisbindung in der Schweiz noch mehr für ein Buch bezahlen zu müssen, und verweist die ersten Erfahrungen mit der Liberalisierung, die so schlimm nicht seien. Das vereint ein Potpurri aus Liberalen, KonsumentInnen und PragmatikerInnen gegen Konservative, ProtektionistInnen und Buchliebhaber!

Gelaufen ist die Sache noch nicht: Zwar ist die Meinungsbildung in dieser Frage fortgeschritten, doch hat keines der beiden Lager eine Mehrheit auf sicher. Der Trend im bisherigen Abstimmungskampf verläuft Richtung nein, doch ist er vor allem ein Phänomen der deutschsprachigen Schweiz, bisher ohne Ausstrahlung auf das ganze Land.
Bei Behördenvorlagen gilt zudem: Unschlüssige verteilen sich auf beide Seiten; es kommt vor allem auf das Ausmass an – auch in diesem Fall!

Claude Longchamp

Von der Lüge als gerechtfertigtes Mittel der Aussenpolitik

Ein Prominenter unter den amerikanischen Politikwissenschaftern rechtfertigt die Lüge als Mittel der Aussenpolitik – genau das, was George W. Bush tat, um den Irak-Krieg zu beginnen. Nun regt sich Widerspruch unter den Kollegen.

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„Mearsheimer gilt als Begründer des sogenannten offensiven Neorealismus. Meines Erachtens ist diese nationalegoistische Staatsräson-Ideologie einer moralfreien utilitaristischen Erfolgsethik für Frieden und Gerechtigkeit auf Erden verheerend.“

Der das schreibt, ist kein billiger Amerika-Feind. Auch kein Postmodernist wider das Wissenschaftliche. Vielmehr ist es Alois Riklin, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen, der sich hier pointiert äussert.

Abgesehen hat es Riklin auf das neueste Buch von John J. Mearsheimer, mit „Lüge“ betitelt, was sich immer gut macht, indessen, ein Werk, das sich mit dem nachgeschobenen Untertitel „Vom Wert der Unwahrheit“, von Beginn an auf Provokation aus ist.

Riklin ist in der Besprechung des Buches nicht unfair. Er zitiert, als innovative Leistung, die fünf herausgearbeiteten Hauptarten staatlicher Lügen:
. die zwischenstaatliche Lüge (wie Bismarcks Frisierung der Emser Depesche)
. die Angstmache (wie die Lüge der Bush-Administration zur Begründung des Irak-Krieges)
. die strategische Vertuschung (wie jenes Verschweigen von US-Atomwaffen-Lagerungen 1969 in japanischen Häfen)
. die nationalistische Lüge (wie die Vertreibung von Palästinensern aus Israel 1948, die als Flucht dargestellt wurde)
. die Völkerrechtslüge (wie das Verschweigen der zivilen Opfer als Folge der Wirtschaftssanktionen gegen den Irak nach 1990).

Immerhin, der Emeritus aus der Klosterstadt in der Ostschweiz, wirft dem Autor vor, bei nicht alle bekannten Lügen der Staaten (wie die Verstrickungen der Nixon-Administration in der Allende-Affäre 1970 oder den Meineide in der Iran-Contra-affäre 1984-6) beigezogen zu haben. Nicht einmal die, welche die Harvard Universität dokumentiert hat, fänden sich im Buch von Maersheimer wieder.

Doch das ist gar der Punkt seiner ernsthaften Kritik. Vielmehr geht es ihm um die gebotene Rechtfertigung von Lügen. Gar nicht einverstanden ist Riklin mit Mearsheimer, Regierungen aller Art würden aussenpolitische Lügen (im Gegensatz zur innenpolitischen) als nützliche Mittel der Staatskunst betrachten. Denn das nationale Interesse sei keine vernünftige Grundlage, Lügen zu rechtfertigen. Nicht einmal ihr Erfolg mache sie erträglich. Konsequent zu Ende gedacht, mache, dann nur der Misserfolg Lügen (wie die zum Vietnam- oder Irakkrieg) unentschuldbar.

Das Problem, so der Kritiker, liege tiefer. Die Reduktion der Staatskunst auf das Ueberleben in einer feindlichen Umgebung negiere, das es so etwas wie eine weiterentwickelte Moral der Staaten gäbe – beispielsweise die, dass eine Demokratie keinen Krieg gegen eine andere führe.

Ich habe dem nichts mehr beizufügen.

Claude Longchamp

Was ich mit der Vorlesung zur Wahlforschung erreichen will

Die Vorlesungszeit hat begonnen: In Zürich unterrichte ich im Bachelor-Programm der Politikwissenschaft erneut Wahlforschung – in Theorie und Praxis. Hier meine Absichtserklärung.

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Ort des Geschehens: Das neue Gebäude des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Zürich

Fünf Ziele hat die Wissenschaft, will ich meinen Studierenden der Politikwissenschaft an der Universität Zürich während der Vorlesung zur Wahlforschung beibringen:

. die Beschreibung der Wirklichkeiten bei Wahlen
. die Erlärung von Ursache-/WirkungsZusammenhängen
. die theoretische Begründung von
. die Prognose von Ereignissen und
. das Handeln als Wissenschafter.

Jede dieser Zielsetzungen ist anspruchsvoll, wie mit nicht zuletzt bei der Vorbereitung wieder einmal klar geworden ist.

Denn Medien beschreiben einem, was ist, doch machen sie das nach ihrer eigenen Logik, der die Wissenschaft nicht folgen muss. Ursache- und Wirkungszusammenhänge scheinen Berater besser zu kennen als Forscher, was auf die Akteure ausstrahlt und die Aufgabe der Wissenschaft nicht erleichtert. Theorien wiederum hat die Wissenschaftsgemeinschaft entwickelt, doch stammen die meisten aus den USA – und sind durch das politische System geprägt, genauso wie in vielem amerikanischen Kultur mitschwingt. Bei den Schwierigkeiten, welche der Prognose von Ereignisse innen wohnen, muss man gar nicht so weit ausholen; die eigenen Erfahrungen reichen da. Und last but not least, wird das Handeln als Wissenschafter schnell missverstanden.

Letzteres war auch schon in den ersten Diskussionen während der Lehrveranstaltung der Fall. Das hat wohl damit zu tun, dass Politikwissenschaft – gerade während dem Studium – kontemplativ ist. Der zentrale Studienmodus ist der des Schauen, bisweilen der Beschaulichkeit. Erklärungen, die man dazu anbringt, haben überwiegend den Charakter der ex-post-Erklärung. Häufig sind die induktiver Natur, eher selten deduktiver. Vorhersagen muss man während der ganzen Ausbildung zur PolitikwissenschafterIn allermeistens nichts – und ist vielleicht genau deshalb erfolgreich.

Mir geht es, mit der Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis, um mehr: Zum Beispiel um die rasche Vermehrung von Politologen in der Wahlpraxis.

Nicht nur, weil zahlreiche Kandidierende ein politikwissenschaftliches Studium hinter sich haben. Auch, weil PolitologInnen heute GeneralsekretärInnen von Regierungsparteien sind, in Wahlausschüssen arbeiten, die Wahlkämpfe durchziehen, in grosser Zahl in Medien darüber berichten oder als ExpertInnen für Medien arbeiten. Dafür werden sie kaum vorbereitet. Mehr noch, auch PolitikwissenschafterInnen, die sich nicht so nahe an die Aktualität wagen, handeln heute zunehmend in Anwendungsfeldern: beileibe nicht nur als PraktikantInnen in Wahlstäben amerikanischer PräsidentschaftskandidatInnen, immer mehr auch als WahlhelferInnen in neuen Demokratien, wo sie daran beteiligt sind, eine vernünftige Wahlpraxis auszubauen. Nicht zuletzt werden PolitikwissenschafterInnen, gerade auch aus der Schweiz, an vielen Orten um Rat gefragt, wie Wahlen konzipiert sein sollten, damit sie ihrer vornehmsten Aufgabe, dem friedlichen Machtwechsel gerecht werden, und nicht selber zum Anlass für Gewalt werden. Daran zu arbeiten, ist eine der anspruchsvollsten Herausforderungen, auf die man sich frühzeitig einstellen sollte.

Oder um noch deutlicher zu sagen: WahlforscherInnen, aber auch WahlexpertInnenen sollen zurecht ein politikwissenschaftlichen Studium machen können, dass nicht ideologisch geformt ist, indem nicht nur die Aktualität den Takt angibt. Meines Erachtens braucht es indessen keine Hyper-Spezialisten, die theoretisch alles kennen, von der Praxis aber keine Ahnung haben, die fast alles wissen, aber über fast nichts. Nebst dem Können in der Forschung geht es mir auch um Fragen der Relevanz von wissenschaftlichem Wissen, das sich nicht scheut, bisweilen mitten im Geschehen zu stehen, ohne zu glauben, man sei bloss Techniker und ohne zu meinen, man sei der Guru, indes, wie es Jürgen Habermas formulierte, ihren eigenen Diskurs im Dialog mit der Politik führen, wobei Ziel und Mittel des politischen Handelns zum Vorteil beider Seiten aktiv verhandelt werden.

Claude Longchamp

Wie wir uns selber täuschen, wenn wir unsicher sind, was ist.

Ein kleiner Gedanke zu den Reaktionen, die ich bekomme, wenn wir abstimmungsbezogene Umfragen publizieren. Keine Kritik an niemanden, aber ein Experiment, das sich lohnt, bei sich selber zu machen, um sich zu durchschauen.

Die meisten Reaktionen sind typisch. Von einem meiner Auftritte im Fernsehen zu Umfragen bleibt am häufigsten Aeusserliches. Zum Beispiel die neue Umgebung der Präsentation. Die Bücherwand mit dem Asterix-Band im Hintergrund. Oder das ich mich am Morgen beim Rasieren geschnitten hatte, und man das Stunden später noch sah – in der Grossauflösung.

Aufgrund der übrigen Reaktionen schliesse ich: Geblieben sind auch wenige Zahlen. Beispielswseise jene zum zustimmenden Anteil bei der Zweitwohnungsinitiative, die zahlreiche Gegner in den betroffenen Gebieten schockierte.

Die Kognitionswissenschaft vergleicht das schon mal mit einem ausgeworfenen Ankern. Je unübersichtlicher die Verhältnisse seien, umso eher bleibe ein möglichst konkreter Befund haften, lautet die entsprechende Analyse.

Was meint man damit? Mit der Problematik von Zweitwohnungen haben wir, in der politischen Oeffentlichkeit, wenig Erfahrungen. Eine vergleichbare Abstimmung, die uns gut in Erinnerung wäre, gibt es nicht. So schiessen die Spekulationen ohne Grundlage ins Kraut. Deshalb bezieht man sich zum Beispiel auf einfache Verhaltensannahmen. In den betroffenen Gebieten sei man geschlossen dagegen, und in den übrigen Regionen beurteile man das aufgrund des Wunsches, eine Zweitwohnung zu erwerben.

Ich will die Richtigkeit solcher Ueberlegung ein wenig bezweifeln. Denn solche Interessendefinitionen sind häufig wunschgeleitet sind. Wer möchte, dass die Initiative scheitert, sammelt alles, was dagegen spricht und formuliert so seine Erwartungen. Besser wäre esallerdings, auch das Gegenteil zu machen, das heisst alles zu sichten, was zugunsten der Initiative erwähnt werden kann, und zu überlegen, wer dann alles dafür stimmen müsste.
Allein das würde zu mehr selbstkritischer Reflexion führen. Denn diese ist nötig, will man sich nicht selber täuschen. Die gleiche Kognitionswissenschaft kennt nebst der genannten Ankerheuristik zahlreiche andere Mechanismus, die unsere Wahrnehmungen leiten. Sechs weitere Beispiele mögen meinen Gedankengang verstärken:

der übertriebene Optimismus: Je parteiischer wir sind, umso optimistischer sind wir, Recht zu haben oder zu bekommen.
die Selbstüberschätzung: Je parteiischer wir sind, umso eher überschätzen wir uns selber.
die Bestätigungs-Tendenz: Je früher wir uns festgelegt haben, desto eher suchen wir nach Bestätigung, und blenden wird Zwischentöne aus.
die Konservatismus-Tendenz: Je früher wir uns festgelegt haben, desto resistenter sind wir einer Neubeurteilung.
die Verallgemeinerungs-Heuristik: Ein paar Bestätigungen unserer Annahmen reichen, und wir sind sicher, richtig zu liegen.
die Verfügbarkeits-Heuristik: Je greifbarer Informationen sind, desto eher halten wir sie für richtig.

Um eines klar zu sagen: Das alles macht unseren Messwert weder schlechter noch besser. Er ist, in engen Grenzen, für den Moment der Erhebung richtig. Was daraus bis zum Abstimmungstag wird, ist eine Sache, die auf einem späteren Blatt beschrieben werden wird.

Mit meinem Beitrag wollte ich indessen Hinweise geben, warum wir solche Zahlen zu Unrecht für richtig oder falsch halten.
Weil wir uns von ganz bestimmten Tendenzen, Routinen und Selbstbildern bestimmen lassen. Die haben mit allgemeinen menschlichen Schwächen zu tun, aber auch mit unserem Standpunkt in der Sache und der vorläufigen Entscheidung.

Vielleicht ist es ganz ratsam, nicht einfach bei Hintergründen oder einzelnen Zahlen stehen zu bleiben. Dafür ein paar Mechanismen zu durchschauen, die unser über Gebühr optimistisch oder pessimistisch stimmen – bevor wir effektiv stimmen!

Claude Longchamp

Warum die Schweiz mehr Ferien gegenüber skeptisch ist. Ein Erklärungsversuch.

“Erklären Sie einem Menschen ausserhalb der Schweiz, warum die Einheimischen nicht mehr Ferien wollen?” So versuchte gestern ein Journalist mich aus meiner Zurückhaltung zu locken. Spontan fiel meine Antwort vielleicht etwas kurz aus, hier kann ich etwas ausholen.

Erfolgreich sind Volksinitiativen, die massive Defizite der behördlichen Politik aufgreifen und/oder breit geteilte Interessen vertreten. Dazu gehören in Zeiten der Inflationen Forderungen aus dem KonsumentInnen-Schutz. Es zählen auch neuralgische Stellen zwischen Einheimischen und AusländerInnen dazu, namentlich dann, wenn sie Minderheiten treffen, die man nicht gerne unter sich weiss. PolitologInnen sprechen denn auch von der Ventilfunktion von Volksabstimmungen. Sie sind nicht nur da, um ein Problem zu lösen, sondern auch politischen Missmut abzubauen.

Ob die Stimmenden nicht mehr Ferien wollen oder, wissen wir letztlich erst am 11. März 2012 nachmittags. Heute kann man analyiseren, zum Beispiel aufgrund der Ergebnisse der SRG-Abstimmungsbefragungen von gestern. Demnach sind 55 Prozent bestimt oder eher gegen 6 Wochen Ferien für alle, 39 Prozent bestimmt oder ehere dafür. Beteiligen würden sich rund 4 von 10 StimmbürgerInnen.

Psychologisierung, nicht Politisierung ist bei den InitiantInnen angesagt: “Timeout gegen Burnout” ist ihr Slogan. Damit greifen sie ein Thema auf, das man individuell vielerorts kennt: am Arbeitsplatz, in der Freizeit und des Nachts; überall klagt man über die negative Auswirkungen der Arbeitswelt. Vemehrt Ferien, vermehrt individuelle Zeit- und Ortsbudget und vermehrt Erfüllung in der Arbeit sind durch aus verbreitete Wünsche.

Volksabstimmungen, indes, sind nicht einfache Hitparaden der Alltagssorgen- und wünsche, sondern Entscheidungen über vorgeschlagene Lösungen. Und da gehen die Meinungen über das Richtige schon unter den ArbeitsnehmerInnen auseinander: Für die Einen brauchte es mehr Erholungszeit; denn sie sehen, dass die Dichte während des Arbeitens grösser wird – was mehr Distanzierungsmöglichkeiten bedingt. Andere wiederum sind der Auffassung, mehr Ferien erhöhten das Beklagte nur. Wenn alle Arbeitsnehmer 6 Wochen Ferien haben, leisten auch alle ArbeitsnehmerInnen 6 Wochen Stellvertretungen.

Dieses Dilemma belegt auch die gestern veröffentlichte Umfrage. Teilzeiarbeitende stehen mehr Ferien positiver gegenüber, denn sie suchen individuelle Lösungen für ihre Work/Life-Balance. Vollzeiterwerbstätige lehnen sie indessen verstärkt ab. Sie haben sich mit den vorgeschriebenen Arbeitsrhythmus arrangiert. Selbstredend sind Nicht-Erwerbstätige am meisten dagegen; die Hälfte von ihnen gehört zur Rentnerschaft, sagt sich wohl, das hatte ich auch nicht, und die andere Hälfte hätte möglicherweise lieber ein Job als mehr Ferien.

Bei Volksabstimmungen schwingen darüber hinaus politischen Ueberzeugungen mit. Wenn es um die Neuverteilung von Rechten am Arbeitsplatz oder in der Wirtschaft geht, werden die BürgerInnen entlang der Parteibindungen polarisiert. Das ist auch aktuell der Fall – und zwar recht exemplarisch: Bürgerliche Parteiwählerschaft sind (heute schon) zu zwei Dritteln gegen das Anliegen, linke mindestens gleich geschlossen für mehr Ferien. Mehr noch als mit den Gewerkschaften hat das mit dem Weltbild der bürgerlichen Schweiz zu tun: Zentral ist die Vorstellung, durch den Arbeitsethos, geboren im Protestantismus der frühen Neuzeit, hochgehalten in der Phase der Industrialisierung, zum eigenen Wohlstand beigetragen zu haben. Aller Kritik in der Gegenwart zum Trotz, gilt das, auch bei den säkularisierten KatholikInnen, als Begründung, bei solchen Themen nicht nur zweckrationale Entscheidungen zu treffen, sondern auch wertrationale zu fällen. Hochgehaltene Prinzipien sind da wichtiger als eigene Interessen.

Ich weiss, das sehen linke und rechte BürgerInnen diametral anders: Denn für Linke haben die Arbeitnehmer längst ihren Beitrag zur Produktivitätssteigerung erbracht, um jetzt Kasse machen zu können. Für rechte SchweizerInnen ist das ganz einfach nicht die Ebene, auf der sie sich entscheiden. Denn ihnen ist die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz wichtiger, gerade in einer umstrittenen Umwelt.

Damit bin ich beim meinem letzten Argument: dem gegenwärtigen Klima. Nein, ich meine nicht die Kälte draussen! Vielmehr geht es mit um das Wirtschafts-Klima, ausgelöst durch die Weltwirtschaftskrise, von der die Schweiz bis jetzt einigermassen verschont blieb – wenn auch ohne Sicherheit für die Zukunft. Es geht mir auch um das Gesellschafts-Klima mit Abstiegsängsten angesichts offener Gesellschaften und daraus entstehender Probleme, und ich meine auch das politischen Klima: Denn seit den Wahlen 2011, die über die Umwelt- und Energieproblematik ein beträchtliches Zerwürfnis unter den bürgerlichen Parteien hervorgebracht hat, wird im Abstimmungskampf zur Ferien-Initiative Gegenteiliges sichtbar: SVP, FDP, CVP und BDP ziehen am gleichen Strick gegen mehr Ferien, und sie wissen sogar die GLP auf ihrer Seite. Die Linke, im letzten Wahlherbst mit ihren KandidatInnen in den Ständerat punktuell durchaus für Ueberraschungen gut, muss sich damit auseinandersetzen, dass nur für SP, GPS und kleine Linksparteien die Ferien-Initiative von Travail.Suisse prioritär ist, zusammen aber keine 30 Prozent der schweizerischen Wählerschaft repräsentieren.

Eine Prognose für den 11. März 2011 ist auch das nicht. Aber ein Erklärungsversuch, der nicht nur auf politökonomischen Interessenlagen basiert, sondern das allgemeine Klima, die politische Willensbildung in der genannten Sache, die bisherigen Kampagnen, die Erfahrungen aus Vergleichsabstimmungen und das Bewusstsein der SchweizerInnen miteinbezieht. Das ist nach meiner Erfahrung angemessener, auch wenn die Gewichtigung der hier vorgeschlagenen Elemente nicht unabhängig von einer bestimmten Situation existieren.

Claude Longchamp

Volksinitiativen: Kürzestfassung der Erkenntnisse zur Meinungsbildung

Nicht nur mit der Meinungsbildung zu Behördenvorlagen, auch mit jener zu Volksinitiativen habe mich in den letzten Wochen nochmals systematisch beschäftigt. Hier meine diesbezüglichen Erkenntnisse in der Kürzestfassung.

Eidgenössische Volksinitiative haben es (unverändert) schwer. 17 von 20 scheitern in der Volksabstimmung; 3 werden angenommen. Ein wesentlicher Grund ist, dass die Nein-Kampagnen mehr Wirkungen zeigen als jene der Ja-Seite.

Tabelle
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Viele Initiativ-Komitees legen mit ihrem Anliegen den Finger auf einen wunden Punkt, indem sie ein politisch vernachlässigtes Problem aufbringen. Das ist der Sinn der Initiative. Die andere Seite der Medaille ist, dass sie sich fast ebenso häufig beim Lösungsansatz täuschen, zu kompromisslos sind, um von einer Mehrheit angenommen werden zu können.

Die Ausschaffungsinitiative war eine der berühmten Ausnahmen. Zwar ging auch hier die Ablehnungsbereitschaft mit dem Abstimmungskampf (von 36 auf 48 Prozent) hoch, und es verringerte sich die Zustimmungstendenz (von 58 auf 52 Prozent). Allein, die Effrekte blieben vergleichsweise gering; und sie bewirkten (für einmal) keinen Mehrheitswechsel.

Bei linken Initiativen, die gut starten, ist der Meinungsumschwung meist stärker. Typisch hierfür steht der Prozess bei der Steuergerechtigkeitsinitiative der SP. Auch sie begann bei 58 Prozent (bestimmt oder eher) Ja; schliesslich waren es genau soviele Nein. Während der vergangenen Legislatur gab es keinen so gründlichen Wechsel der Mehrheit wie in diesem Fall..

Geringer ist der Wandel, wenn die Unterstützung einer Initiative von Beginn weg nur minderheitlich ist. Typisch hierfür die Volksinitiative gegen Behördenpropaganda, die in den Umfragen mit 27 Prozent Zustimmung begann, schliesslich bei 25 Prozent landete.

Das alles macht es einfacher, die Dynamik von Meinungsbildungsprozessen bei Volksinitiativen zu beurteilen, als man das bei Behördenvorlagen mit einer Regel machen könnte: Sicher ist, dass mit dem Abstimmungskampf die Opposition steigt, wahrscheinlich, das parallel dazu den Nein-Anteil sinkt. So gut das bekannt ist, so wenig weiss man im Voraus, wie stark die Effekte ausfallen.

Das kann verschiedene Ursachen haben:
Erstens, es macht einen Unterschied, wer der Initiant ist; die Rechte hat Vorteile gegenüber der Linke, und daselbst führt die SVP die wirkungsvollsten Initiativ-Kampagnen.
Zweitens, es kommt darauf an, ob die Nein-Seite eine Schwachstelle der Initiative findet oder nicht und sie frühzeitig und intensiv kommuniziert,
Drittens, der (wahrgenommene) Problemdruck entscheidet. Je höher er ist, desto geringer bleibt der Meinungswandel, und geringer er ist, umso grösser fällt der Wandel aus.

Mehr Forschung auf diesem Gebiet wäre angezeigt. Leisten kann man sie alleine mit Bevölkerungsumfragen nicht. Nötig wäre es, sie mit eine qualititive und quantitative Analyse der Propaganda mit den Verstärkereffekte in den Medien zu kombinieren. Leider setzt sich dafür niemand spezifisch ein.

Claude Longchamp

Behördenvorlagen: Kürzestfassung der Erkenntnisse zur Meinungsbildung

Eine systematisch Durchsicht aller Vorbefragung zu eidgenössischen Volksabstimmungen der letzten Legislaturperiode legt nahe, von 6 typischen Meinungsbildungsprozessen auszugehen. Ausgangslagen, Prädispositionen, Allianzen und Engagements bestimmen den Abstimmugnsausgang.

Man erinnert sich (wahrscheinlich): Die Vorlage zum BVG-Umwandlungssatz scheiterte 2010 hochkant. Was das Parlament befürwortet hatte, fiel mit 73 Prozent Nein-Stimmen exemplarisch durch. Ganz anderes geschah beim Gegenvorschlag zur Volksinitiative, die Komplementärmedizin betreffend. 67 Prozent befürwortenden dies in der Volksabstimmung.


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Der Vergleich zwischen Vorbefragungen und Abstimmungsergebnissen legt in beiden Fällen nahe, dass Verstärkung vorhandener Prädispositionen die zentrale Wirkung der Kampagne war. Denn sowohl beim BVG Umwandlungssatz als auch bei der Komplementärmedizin standen die Mehrheiten von Beginn weg fest – selbst annähernd im Verhältnis der Volksabstimmung

Beide Entscheidungen nennen wir “prädisponiert”, “stabil positiv resp. vorbestimmt” sind den auch unsere ersten beiden Typen. Die überwiegende Zahl der BürgerInnen haben eine Meinung zum Abstimmungsthema, und sie ändern sie nicht, während der Kampagnen in der Oeffentlichkeit. Das ist allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Es kommt dann vor, wenn eine politische Entscheidung sichtbare Auswirkungen auf den Alltag vieler hat; dann erfolgt die Meinungsbildung aus eben diesem Alltag heraus, und nicht erst während des Abstimmungskampfes. Geht es um handfeste materielle Interesse oder um zentrale Werte, kann man davon ausgehen, dass es selbst aufwendigen Kampagnen nicht gelingt, das Eis zu brechen.

Das pure Gegenteil davon erlebten wir beim Verzicht auf die allgemeine Volksinitiative. Diese Neuerung der Volksrechte, vom Parlament eingeführt, wurde von eben diesem Parlament wieder zurückgezogen, bevor sie auch nur einmal zur Anwendung gelangt war. Die Bevölkerung war in diese Prozesse kaum involviert, doch waren zur Einführung und zur Abschaffung je eine Volksabstimmung nötig.

Wie noch nie zuvor, ergab die Umfrageserie von den Abstimmungen hier einen gründlichen Meinungswandel. Vor der Kampagne war eine Mehrheit negativ eingestellt. 66 Prozent wollten 6 Wochen vor der Abstimmung noch Nein sagen Das hatte nicht mit vertiefter Beschäftigung zu tun, dafür viel mit dem Reizwort Verzicht auf ein Volksrecht. Am Abstimmungstag war dann alles ganz anders. 68 Prozent sagten Ja zur Vorlage. Die Auseinandersetzung mit dem Inhalt, der Einsatz der Politik und der Medien und die Einsicht, nichts zu verlieren, bewirkten dies.

Dieser Fall heisst bei uns “nicht prädisponiert”, verbunden mit einer eindeutig von der Ja-Seite beherrschten Willensbildung. Auch er ist insgesamt recht selten, aber unser dritte Typ.

Denn mehrheitlich haben wir es bei Behördenvorlagen damit zu tun, dass die Vorbestimmtheit eher positiv ausgerichtet, aber nicht stabil ist. Die Meinunsbildung im Parlament führt zu einem Kompromiss, und die Parolen der Parteien im Abstimmungskampf verstärken den mainstream. Doch hängt das Ergebnis der Volksabstimmung essenziell vom Engagement in den Kampagnen ab, und so gibt es zwei Varianten: Eine Zustimmungsmehrheit von 50-60 Prozent ist immer dann zu erwarten, wenn die Behördenseit die Themenführung übernimmt und im Abstimmungskampf von sich aus kommuniziert. Wir nennen das den “labil (positiv) vorbestimmten Typ mit offensiver Ja-Kommunikation “. Ohne das Engagement von Bundesrat und befürwortenden Parteien wäre beispielsweise die Unternehmenssteuerreform wohl nicht angenommen worden, vielleicht auch der Biometrische Pass gescheitert.

Krass ist das Gegenbeispiel beim Gegenvorschlag zur Gesundheitsinitiative der SVP gewesen. Im Parlament formierte sich eine bürgerlichen Mehrheit dafür, und die Initianten zogen ihr Begehren vor der Abstimmung zurück. Während des Abstimmungskampfes zerfiel die befürwortenden Allianz indessen, was den StimmbürgerInnen nicht entging, sodass sich die Meinungsbildung in den letzten Wochen vor der Abstimmung deutlich ins Nein entwickelte und die Vorlage schliesslich scheiterte. Für uns ist das der 5. Typ, der labil vorbestimmte mit einem Zerfall der Ja-Seite. Solche Entscheidungen gehen in der Regel negativ aus.

Nur dann, wenn eine Vorlage ganz dem Volksempfinden entspricht und kaum jemand Opposition macht, geht die Sache auch ohne grosse Behördenaktivitäten durch. Das kommt bei fakultativen Referenden kaum vor, denn darüber wir nur abgestimmt, wenn es eine minimal organisierte und verankerte Opposition gibt. Bei obligatorischen Referenden ist das aber sehr wohl möglich, wie das Beispiel der Forschung am Menschen zeigt – somit ist das unser 6. Typ.

Claude Longchamp

Exit, Voice and Loyalty bei Schweizer Volksabstimmungen

Zur Vorbereitung auf die Berichterstattung zu den SRG-Umfragen 2012 bis 2015 haben wir unser Wissen über die Meinungsbildung vor Volksabstimmungen einer systematischen Ueberprüfung unterzogen. Herausgekommen sind dabei einige neue oder konkretisierte Thesen, vor allem zur Mobilisierung. Hier ein erster Einblick.

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Die Beteiligungsabsichten zu Volksabstimmungen steigen in der Regel während Abstimmungskämpfen an. Zwar endet der Wert, am Abstimmungstag, präzise mit der amtlich verkündeten Teilnahme. Er beginnt, mit Einsetzen der Kampagnen aber nicht bei 0.

40 bis 45 Tage vor dem Abstimmungswochenende wissen im Schnitt gegen 40 Prozent der Stimmberechtigten schon, dass sie sich äussern wollen. Der grössere Teil von ihnen 25-30 Prozent, macht das immer, also vorlagenunabhängig; beim kleineren Teil ist das genau umgekehrt, denn er will sich beteiligen, weil ihm (mindestens) eine Vorlage wichtig ist.

Während des Abstimmungskampfes erhöht sich der Anteil, der sich aus einem spezifischen Interesse meldet. Erzielt wird letzteres durch Kontroversen. Dafür braucht es klar gegensätzliche Standpunkte bei einer, besser noch bei mehreren Vorlagen. Und die Gegensätze müssen mediengerecht vorgetragen werden, denn die Involvierung durch sie ist der wichtigste Mobilisierungsfaktor unterwegs. Mit mediengerecht meine ich das dynamische Moment in Kampagnen und Gegenkampagnen, das Ereignishafte und das Unwägsame, das einen Spannungsaufbau zulässt.
5 Prozentpunkte ist der Mittelwert der Beteiligungssteigerung durch einen Abstimmungskampf – ausser es kommt, meist gegen das Ende, zu eigentlichen Wutausbrüchen und/oder Mobilisierungskampagnen. Diese müssen nicht unbedingt über Massenmedien verlaufen. Immer mehr benutzen sie auch die neuen Medien, die sich direkter und emotionaler an Zielgruppen wenden. In solchen Fällen ist die Steigerung der Beteiligung bis zu 10 Prozent der Stimmberechtigten nachweislich möglich.

In der deutschsprachigen Schweiz sind längere Kampagnen, zum Beispiel während 6 bis 8 Wochen, üblicher als in den anderen Sprachregionen. Zuerst beteiligungsbereit sind hier die Parteianhängerschaften, je nach allgemeinem Politklima eher die rechten oder linken, meist die Anhängerschaften grosser Polparteien vor denen der Zentrums und der kleineren Parteien. Die Dynamiken in der Romandie und im Tessin kennen die gleiche Struktur, sind aber meist von kürzerer Dauer. Vor allem im Tessin dauern Kampagnen zu eidgenössischen Volksabstimmung nicht selten nur 3 Wochen, und fallen die Beteiligungsentscheidungen häufig auch erst dann.

Generell sind ältere Menschen früher entschieden, ob sie teilnehmen wollen oder nicht; bei jüngeren entwickelt sich diese Entscheidung häufiger erst themenspezifisch mit dem Abstimmungskampf. Unterschiede kennen wir auch nach dem Schulabschluss. Tiefere Bildungsschichten klinken sich meist später in Kampagnen ein, und sie lassen sich in Opposition zur Regierungspolitik besser mobilisieren, während höhere genau ein gegenteiliges Verhalten zeigen.

Albert O. Hirschman hat für solche Prozesse eine treffende Typologie entwickelt: Politisch konstant Aktive (und Passive) zeigen eine höhere Vertrauen in den Staat und neigen zu Loyalität. Derweil mischt sich die misstrauische Bürgerschaft punktuell ein – oder sie bleibt aussen vor. Macht sie letzteres, wählt sie den politischen exit-Pfad, schreibt der Sozioökonom dazu. Machen sie ersters, nennt er das voice: der eigenen Befindlichkeit eine politische Stimme geben. Was der deutsch-amerikanische Wissenschafter im Grossen fand, kann man auch im Kleinen der Schweizer Politik beobachten.

Claude Longchamp