Blau und rot stehen für Politik und Kommunikation als Schwerpunkte meiner Forschung

Meinen Vortrag von heute morgen kündigte ich als dreifach exklusiv an: denn es war der erste, einzige und damit auch der letzte mit (roter) Krawatte statt (blauer) Fliege. Das kam so.

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Bewusst ungewohnt: Claude Longchamp mit Krawatte

MIKA hiess die Organisation, vor der ich heute sprach. Das sind die Kommunikationsfachleute der Schweizer Armee, die bestrebt sind, Erfahrungen aus der Privatwirtschaft in die Armee zu transferieren, wobei die so Ausgebildeten ihre Erfahrungen wieder in die Zivilgesellschaft tragen.

Mir ging es um die Armee in der Mediengesellschaft: “Krisen, Köpfe und Kommunikation”, lautete der Titel meines Referates. Dabei ging es mir um die Weiterentwicklungen des Sozialen, das gegenwärtig um das Mediale erweitert wird. Ich sprach über Images, Gesamteindrücke, die nahe bei der Emotion sind, und Reputation, welche als Verhaltenserwartung einer Person oder Organisation gerade in der Mediengesellschaft vermehrt vorausgeht.

Das Material schöpfte ich aus systematischen Beobachtungen über die Armee aus den Jahren 2006 bis 2009, dem ereignisreichen Fenster, das mit dem Jungfrau-Unfall begann, durch die Tragödie auf der Kander beschleunigt wurde, zwischendurch vom Schiessunfall in Zürich-Höngg überschattet war, und im Fall Nef, dann Schmid endete. Zur Sprache kamen Medienanalysen wie auch Bevölkerungsbefragungen. Meinen Schluss widmete ich den Erkenntnissen für die Kommunikationswissenschaft aus dem Projekt einerseits, den Lehren für die PraktikerInnen, die Medienkampagnen ausgesetzt sind anderseits.

Zentrale These war, dass die Aktualität in der Mediengesellschaft volatiler denn je sei, und diese Aktualität die Reputation stresse. Diese könne so zwar gestärkt werden, aber auch Schaden nehmen. Ob sich das auf das basale Image mit seinen ziemlich festgefahrenen Stereotypen und bildhaften Vorstellungen auswirke, hänge vom Alltagsimage ab. Sei dies schwach ausgeprägt, wirkten sich Reputationsveränderungen direkt auf das Image aus, im Guten wie im Schlechten. Wenn es stark ausgeprägt sei, funktioniere es wie ein Trampolin, dass Schläge ausgleiche, Gegenschwünge mobilisiere und das Kurzfristige gegenüber dem Langfristigen ausbalanciere.

Die Diskussion dazu, vor allem, was das im Konkreten bedeute, war ganz anregend. Noch anregender war indes die Auseinandersetzung mit meinem verfremdeten Bild. Um nach einem intensiven Wahljahr zu zeigen, dass gfs.bern nebst Politanalysen auch Kommunikationsanalyse leistet, habe ich die Institutssymbole für beide Schwerpunktebereiche vertauscht. Statt blau, unserer Farbe für Politik, wählte ich Rot, das Signal für Kommunikation. Und statt der erwarteten Fliege trug ich eine Krawatte, wie das meine Nachfolger in der übergeordenten Projektleitung tun.

Für diese Irritation erhielt ich schon nach den ersten erklärenden Worten tosendem Appplaus.

Claude Lonbgchamp

Dem Sturm aufs Stöckli ist die Luft ausgegangen

Die SP ist die Wahlsiegerin bei den diesjährigen Ständeratswahlen. Ganz anders als es die SVP anfangs Jahr prophezeit hatte. Eine ausgebaute Version meiner Instant-Analyse.

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Die 3B der SVP: Brunner, Blocher, Baader, Spitzenkandidaten bei den Ständeratswahlen 2011, sind in der Volkswahl alle gescheitert.

Es war nicht Christoph Blochers Tag. Zuerst scheiterte seine zweite Kandidatur für den Ständerat im Kanton Zürich grandios. Damit war er indes nicht allein. Nach Bern verlor seine SVP auch den Ständeratssitz im Aargau, und neben Zürich hatte die SVP auch in St. Gallen keinen Erfolg. Noch schlimmer: Vor laufender Kamera negierte der SVP-Stratege, es habe je einen Generalangriff auf den Ständerat, den Sturm auf Stöckli, gegeben. So verärgert war er.
Die Fakten jedenfalls zeigen, dass die kleine Kammer nicht die Dunkelkammer der Nation ist, wie es im Wahljahr von der SVP beklagt worden ist. Sicher, Namensabstimmungen werden, anders als im Nationalrat, im Ständerat nicht elektronisch dokumentiert. Doch heisst das nicht, dass man nichts über das Stimmverhalten der Standesvertretungen und die Präferenzen der kleinen Kammer wüsste. Ueberhaupt, seit der jüngst erfolgten Renovation des Ständeratssaals könnte man die zweite Parlamentsabteilung auch die chambre de lumière nennen.

Der neu erleuchtete Saal wird, bei der Eröffnung der neuen Legislatur, neu besetzt sein. Bis auf den zweiten Sitz in Solothurn ist zwischenzeitlich alles klar: Der neue Ständerat wird 12 oder 13 CVP-VertreterInnen haben, 11 bis 12 Abgeordnete mit FDP-Parteibuch, 11 von der SP, 5 aus den SVP-Reihen, je 2 der GPS und GLP und 1 der BDP. Hinzu kommt der parteilose Thomas Minder, der sich einer Fraktion anschliessen will, ohne schon zu wissen welcher.
Insgesamt ist der neue Ständerat nicht rechter, sondern linker bestückt sein. Verglichen mit 2007 hat die SP zwei Mandate mehr, die GLP, die BDP und die Parteilosen je eines. Die CVP verliert 2 oder 3, die SVP 2, die FDP allenfalls 1. Da während den letzten 4 Jahren je ein Sitz von der SVP zur BDP, von der CVP zur GLP und von der SP zur SVP verschob, sind die kurzfristigen Veränderungen quantitativ recht gering.
Stellt man dagegen auf den Ueberblick der letzten 20 Jahre ab, hat sich die SP von 3 auf 11 Sitz gesteigert, und ihren Rekordstand erreicht. Die SVP legte von 4 auf 5 zu, war vorübergehend einmal bei 8. Neu im Ständerat sind die GPS und die GLP. Zugenommen hat damit die Pluralisierung der vertretenen politischen Richtungen, etwas höher ist auch die Polarisierung. Bezahlt haben diesen Wandel weitgehend die FDP, die von 18 auf 11 oder 12 sinken wird, und die CVP deren Vertretung sich von 16 auf 12 oder 13 verringern könnte. Für beide Parteien ist dies ein historischer Tiefststand.

Hauptgrund für diese Entwicklungen sind die Veränderungen in der Allianzbildung. Majorzwahl gewinnt man als Minderheitspartei jedweder Grösse nur mit überparteilichen Absprachen. Im zweiten Wahlgang mögen diese rein taktisch sein, im ersten sind sie strategisch. Genau das hat sich in den letzten zwei Dekaden verändert. Gewachsen ist die Zahl der KandidatInnen im ersten Wahlgang, was das parteiegoistische Stimmen vermehrt hat; das hat die Abwahlchancen selbst Bisheriger erhöht, und den direkten Einzug in den Ständerat erschwert. Dabei hat sich der vormals entscheidende bürgerliche Schulterschluss Stück für Stück verringert, was insgesamt allen Parteien rechts der Mitte geschadet hat. Gleichzeitig ist insbesondere im zweiten Wahlgang einiges mehr möglich geworden, vor allem die Abgrenzung gegenüber Polparteien.

Was lange links geschadet hat, wirkt sich heute gegen rechts aus. Konnte die SVP bis 2003 ihre Ständeratsvertretung schrittweise verstärken, wird diese seither ebenso von Mal zu Mal geringer. Warum? Hier meine Hypothesen:
Erstens, die SVP hat sich zusehends parteipolitisch isoliert. Sie hat das Profil der Partei bei der Benennung von Missständen über alles gestellt. Das hilft in polarisierten Wahlen neue Wählende zu mobilisieren, was im Proporzwahlrecht ein Erfolgsgarant ist. Bei Majorzwahlen kann dies jedoch genau den gegenteiligen Effekt haben. Den nötigen Sprung zur staatstragenden Partei hat sie definitiv nicht geschafft.
Zweitens, die SVP setzte insbesondere bei diesen Ständeratswahlen auf ihre schwergewichtigen Nationalräte. Das ist angesichts der Funktion des Ständerates, die Kantonsvertretung im Bund zu sein, aber auch der Kultur des überparteilichen aufeinander Zugehens, kein Erfolgsrezept. Zu gut weiss man: zu profilierten Köpfen versagt man im Ständerat gerne die Unterstützung bei ihren Vorstössen.
Drittens, die SVP lancierte ihren Ständerats-Angriff 2011 zentralisiert mit der übergeordneten Botschaft, Licht in die Dunkelkammer zu bringen. Das alleine war ein Anspruch voller Despektierlichkeit, die in einem rechtspopulistischen Umfeld gehen mag, für eine Kantonsvertretung indessen keine gültige Basis abgibt.
Viertens, die SVP übertrieb es mit ihrer Wahlwerbung. Was 2007 wegen den Inhalten schon Thema war, wurden 2011 schlicht als Versuch gewertet, politischen Erfolg erkaufen zu wollen. Das ruft bei der Konkurrenz Nein hervor, und es hinterlässt bei den Wählenden den Eindruck, dass mehr vor und weniger hinter der Aktion steckt.

So war das Rezept falsch, auch wenn die Diagnose der SVP nicht einfach von der Hand zu weisen ist. Der Ständerat hat sich nach strukturell nach links bewegt, für rote und grüne Parteien geöffnet. Das hat mit der Neudefinition der politischen Lager zu tun, vor allem zwischen Stadt und Land. Auf dem Land mag der Rechtskurs gehen. Die Doppelvertretung der SVP im Kanton Schwyz ist Ausdruck davon. In den Städten ticken die BürgerInnen jedoch anders: nicht mehr nur in der Romandie, auch in beiden Basel, Bern, Aargau und St. Gallen schicken lieber (parteipolitisch)gemischte Doppel nach Bern, die unter sich ausmachen sollen, was wohin das Pendel der ungeteilten Standesstimme in wichtigen Fragen ausschlagen soll, als dass ungeschaut das bürgerliche Lager, das es immer weniger gibt, stimmen würden.

Auch das ist ein Teil der neuen Abstimmung, Harmonisierung oder Zentrumsbildung, von der man seit diesen Wahlen wieder vermehrt spricht. Wahrlich, kein Tag für Alt-Bundesrat Blocher, der so vieles erreicht hat, wohl aber nie Zürcher Ständerat werden wird.

Claude Longchamp

Von der Allianzbildung im neuen Parlament

Die neue Legislatur rückt näher, die Fraktionen bilden sich und die letzten Stichwahlen in den Ständerat finden demnächst statt. Ein guter Moment, über Allianzbildung im neuen Parlament nachzudenken.

Noch kennt man die definitive Zusammensetzung des Ständerats nicht. Unterstellt man aber, dass an diesem Wochenende Verena Diener und Felix Gutzwiller im Kanton Zürich, Bruno Frick in Schwyz, Markus Stadler in Uri sowie Toni Brunner oder Paul Rechsteiner in St. Gallen gewählt werden und sich in einer Woche Pirmin Bischof in Solothurn durchsetzt, wird die SVP unverändert die grösste Fraktion stellen, neu die SP folgen, dann die vergemeinschaftteten CVP/EVP kommen und die FDP die viertgrösste Gruppe im Bundeshaus sein. Dahinter reihen sich GPS, GLP und BDP ein. Keine eigene Fraktion bilden können die Lega und das MCR; das gilt auch für den Schaffhauser Ständerat Thomas Minder.

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Die von links geforderte Mitte-Fraktion aus CVP und kommt offenbar nicht zustande. Das liessen CVP und BDP gestern von sich hören. Damit tauschen die SP und die CVP ihre Positionen in der Fraktionsgrösse definitiv. Die CVP, aufgestockt durch CSP und EVP, rangiert indessen unverändert vor der FDP-Fraktion.

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Was heisst das für die anstehenden Bundesratswahlen? – Relativ wenig, ist meine erste Antwort. Bezogen auf die Parteistärke ist die FDP vor der CVP, wenn man auf die Parlamentssitze abstellt, ist es umgekehrt. Ohne starke Zentrumsfraktion bleibt das numerische und politische Gewicht der neuen Mitte zurück. Die Arithmetik spricht für je 2 SVP- und SP-Regierungsitze, während es auf die verwendete Kennzahl ankommt, ob FDP, CVP auf zwei Sitze kommen. Rechnerisch nicht begründen lässt sich der BDP-Sitz, denn die GPS ist stärker. Eveline Widmer-Schlumpf wird man also nur aus der Konstellation heraus für den neuen Bundesrat empfehlen können: im Sinne des Status Quo, zur personellen Stabilisierung des Gremiums oder als Beitrag zur parteipolitischen Sicherhung der Ausstiegsmehrheit im Bundesrat.

Sachpolitisch sind im kommenden Parlament mehrere Zusammenschlüsse mehrheitsfähig. Reduziert man das auf zwei Parteien, erfüllen SVP und SP das Kriterium im Nationalrat, nicht aber im Ständerat. Politisch macht das aber am wenigsten Sinne, allenfalls als Blockiermehrheit in der grossen Kammer. Numerisch über keine Mehrheit verfügen SVP und FDP, die beide damit liebäugeln, im Bundesrat eine Mehrheit stellen zu können. Diese wäre aber in keiner der beiden Kammer abgestützt, sodass es einen weiteren Partner bräuchte.

Treten Links und Mitte geeint auf, verfügen sie sowohl im National- wie auch im Ständerat über eine Mehrheit. Einfach ist das indessen nicht, denn es braucht eine Koordination von GPS, SP, GLP, CVP/EVP und BDP. Das stärkt die Position der CVP. Denn kann auch nach rechts Mehrheiten beschaffen. Im Ständerat reicht es wohl ganz knapp mit FDP und BDP, im Nationalrat indessen nicht. Da braucht es entweder ein Zusammengehen mit der SVP, zumindest mit einer Minderheit deren Fraktion. Generell wird auch die FDP die Möglichkeit haben, eine Scharnierfunktion einzunehmen. Kooperiert sie mit den linken neuen Mitte-Parteien, reicht es ebenfalls für Mehrheiten in beiden Kammern, selbst wenn die CVP dagegen hält. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Allianz ist aber gering. Mehrheitsfähig ist schliesslich auch die bürgerliche Allianz, zusammengesetzt aus SVP, CVP/EVP und FDP. Da braucht es die BDP nicht.

Oder anders gesagt: Sichere Allianzen ergeben sich nur aus drei Fraktionen: Das ist der Fall, wenn sich SVP, FDP und CVP absprechen oder wenn dies zwischen SP, CVP und FDP der Fall ist. Denkbar sind aber Allianzen aus SP und CVP, erweitert durch die kleinen Fraktionen von GPS, GLP und BDP, und à la Limit funktioniert dies auch mit der FDP- statt der CVP-Fraktion.

Das ist nicht ganz anders als im alten Parlament, aber auch nicht mehr ganz gleich. Gestärkt wurde auf jeden die Mitte/Links-Variante in beiden Kammer, geschwächt die Allianzbildung der FDP nach links. Bei einer Fusion oder Fraktionsgemeinschaft von CVP und BDP würde alles klarer. Denn nur die neue Mitte hätte die Möglichkeit, sowohl nach rechts wie auch nach links Mehrheiten herzustellen. Die FDP wäre dieser Möglichkeit beraubt.

Claude Longchamp

Das bürgerliche Lager ist nicht mehr

Seit Wochen umtreibt mich ein Thema, das sich in der jüngsten Ständeratswahl im Kanton Bern so klar gezeigt hat: Das bürgerliche Lager gehört der Geschichte an.

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Orlando im heutigen Bund, als Illustration zur Berner Ständeratswahl, die ich in einem ausführlichen Interview analysierte.

Im Vorfeld der Berner Ständeratswahlen war viel vom bürgerlichen Schulterschluss die Rede. Nahmhafte Wirtschaftsverbände empfahlen ihn, und die SVP strebte ihn nach dem ersten Wahlgang an. Die ungeteilte Standesstimme diente als Begründung, dass sich an der Zusammensetzung – 1 SVP, 1 BDP – nichts ändern sollte.
Die faktische Szenerie war in dessen anders. Alles begann mit der Ankündigung der Ständeratskandidatur der FDP – gegen zwei Bürgerliche. Um sich Vorteile bei den Nationalratswahlen zu verschaffen, zogen auch verschiedene Kleinparteien mit eigenen Bewerbungen nach. Selbstredend nominierte auch die Linke, um, wie zu Zeiten Sommarugas, wieder im Ständerat vertreten zu.
Man weiss es, wie es kam: Im ersten Wahlgang setzten sich Amstutz, Luginbühl und Stöckli an die Spitze der BewerberInnen und markierten so ihre Favoritenrollen für die rechte Wählerschafte, jene der Mitte und für das linke Elektorat. Im zweiten Umgang zogen Luginbühl und Stöckli an Amstutz vorbei, womit sich die Berner Standesvertretung erstmals aus einem BDP- und ein SP-Mitglied zusammensetzt.

In der Erstanalyse habe ich die Behauptung aufgestellt, dass es das bürgerliche Lager in Bern, wohl auch anderswo nicht mehr geben würde. Sicher, im Grossen Rat zu Bern, wo SVP, BDP und FDP die Mehrheit haben und einer rotgrün beherrschten Regierung gegenüber stehen, stimmt man häufig gemeinsam. Nicht vergessen darf man indessen, dass die gleichen Parteien 2010 angetreten waren, eine Wende im Regierungsrat herbeizuführen – und grandios scheiterten, nicht zuletzt, weil die Zusammenarbeit nicht klappte, welche der SVP zwei Sitze und damit die Führungsrolle hätte bringen sollen.
Man kann das alles als Phänomen nach einer konkreten Parteispaltung aus der traditionellen SVP heraus abtun, mit der eine gemässigte Zentrumspartei à la bernoise, und eine rechtskonservative Partei mit Spuren des Zürcher Vorbilds entstanden sind. Es ist aber auch möglich, das als Symptom zu nehmen, dass sich mehr als nur vordergründiges verändert.

Was meine ich damit?

Die politische Soziologie lehrt, dass die europäischen Parteien aus der Verarbeitung grundlegender gesellschaftlichen Spaltungen, wie sie die Reformation, die französische, bürgerliche, industrielle und russische Reformation hervor gebracht haben, entstanden sind. Formiert wird dies seither durch den Rechts/Links-Gegensatz, wobei bürgerlich die Abgrenzung gegen links bezeichnete, egal aus welcher historischen Konstellation oder sozialen Schicht die Wähler kamen.

Nun hat die Entwicklung von Gesellschaft und Politik der letzten 30 Jahre gezeigt, dass einiges davon nicht mehr stimmt. Neue Konfliktlinien sind entstanden; Werthaltungen, die bisher unbekannt waren, sind mit nachrückenden Generationen von Bedeutung geworden. Der Fächer der Parteien hat sich so verändert. Weltanschaulich mach das Wort “bürgerlich” kaum mehr Sinn, eher spricht man von nationalkonservativen Strömungen, vom liberalen Pol, von christlicher Fundierung von Parteien, oder von Wertesynthesen, die als einzige die Ueberlebensfähigkeit sichern.

Die Wahlen 2011 haben das eindrücklich bestätigt. Selbst im Nationalrat gewinnen die Polparteien nicht mehr. Vielmehr zeichnen sich drei, allenfalls sogar vier Lager an: die hegemoniale SVP im rechten, die rotgrünen Parteien links, das neu aufgemischte Zentrum, allenfalls eine Position Mitte/Rechts. Begründet wird dies damit, dass die bisherigen Parteien ihren Standort nicht mehr in der übergeordneten Gemeinsamkeit suchen, sondern in der Eigenprofilierung, die, durch Abgrenzung am besten markiert werden. Die Polarisierung der letzten Jahre hat nicht nur die ideologische Distanz zwischen den Parteien an den Polen erhöht, sie hat auch das traditionelle Zentrum ausgezehrt, bis es, mit neuen Parteien und neuen Inhalten, in diesem Wahlherbst neu entstanden ist.

Schliesst man sich der Analyse politischer Soziologen, wie der meines St. Galler Kollegen Daniele Caramani an, dann ist das alles nicht einfach so geschehen, sondern Ausdruck der neuen Konfliktlinien, welche die Parteiensysteme prägen: Zu diesen zählt er einmal die Oekologisierung, welche die Grünen als Pioniere entstehen liess, aber auch gemässigte Parteien wie die Grünliberalen hervor gebracht hat und innerhalb verschiedener bestehender Parteien zu einer Neuausrichtung geführt hat. In der aktuellen Diskussion markiert der Ausstieg aus der Kernenergie diese Konfliklinie, welche die Parteienlandschaft neu aufteilt. Damit nicht genug, auch die Europäisierung der Politik ist für den St. Galler Professor eine neue Spannungslinie, die zur Neudefinition der Parteien geführt hat. Der Wandel der SVP als konsequentester Partei gegen die EU zählt dazu, aber auch die Neupositionierung der FDP, die für die wirtschaftliche Offenheit, zunehmend aber gegen das gesellschaftliche Pendant ist, lässt sich hier nennen.

Rekapituliert man das alles, um den Blick auf die aktuellen Parteienlandschaft zu richten, kann man, ganz anders als es die Wahlkampf-Rhetorik der letzten Wochen suggerierte, wohl begründet zum Schluss kommen, dass es das bürgerliche Lager nicht mehr gibt, dass die Schweizer Parteilandschaft aufbricht, und das wir unterwegs zu neuen Ordnungsmustern des Politischen sind, wie die Nationalratswahlen 2011 zeigten, wie aber auch aus dem Wandel der Berner Ständeratsvertretung abgeleitet werden kann. Denn da stimmte das Zentrum mit links, was der Definition von bürgerlich zu tiefst widerspricht.

Claude Longchamp

Stöckli ins Stöckli: Bern entsendet eine Mitte/Links-Allianz in den Ständerat

Das Endergebnis der Berner Ständeratswahlen ist klar: Werner Luginbühl wird mit einem Glanzergebnis als Berner Ständerat bestätigt. Drei Viertel aller gültigen Stimmen entfielen auf ihn. Neu ins Stöckli zieht Hans Stöckli ein. Er erreicht rund 60 Prozent der Stimmen. Damit liegt er klar vor Adrian Amstutz, der bei rund 52 Prozent Stimmenanteil kommt.

Die Spannung vor der Stichwahl zur Berner Ständeratswahl war gross. Allgemein rechnete man damit, dass Werner Luginbühl, bisheriger Standesherr der BDP, als Kandidat der Mitte gewählt würde. Offen war indes, ob der Bisherige Adrian Amstutz von der SVP oder Hans Stöckli, neu der SP-Kandidat, an zweiter Stelle stehen würde.

Im ersten Wahlgang lag Adrian Amstutz noch an der Spitze, knapp von Werner Luginbühl und einiges vor Hans Stöckli. Im zweiten war alles anders, der der Zwei- und Drittplatzierte zogen am Vizepräsidenten der SVP, der erst vor einem halb Jahr Ständerat wurde, vorbei.

Tabelle: Stimmenanteil der zentralen Kandidaten im ersten und zweiten Wahlgang (Hochrechnung) nach Gemeindetypen
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Lesebeispiel: In SVP Hochburgen machten Amstutz im 1. Wahlgang rund 79 Prozent der Stimmen, im zweiten zirka 85; das entspricht einem Wachstum von 6 Prozentpunkten.

Die Wahlbeteiligung war zwar nicht mehr ganz so hoch wie im ersten Wahlgang. Mit 45 Prozent bleibt aber nur ein Schluss: Das Rennen um die Berner Ständeratswahlen hat breit mobilisiert. Mit Beteiligungsunterschieden lassen sich die Unterschiede im Wahlresultat nicht erklären.

Der Vergleich von der ersten zur zweiten Runde zeigt, was an Stimmen geblieben ist und was sich verändert hat. Am wenigsten Unterschiede gibt es bei Adrian Amstutz. Er hatte im ersten Wahlgang seinen Plafond bereits weitgehend erreicht gehabt, derweil die beiden anderen Kandidaten das Rennen machten, weil sich ihre WählerInnen vor allem in den agglomerierten Gebieten die Stimmen gegenseitig gaben. Werner Luginbühl legte am meisten zu, weil er von links und auch von rechts etwas mehr holte als im ersten Wahlgang. Dabei ist der Zuwachs links klar wichtiger als rechts. Stöckli wurde zweiter, weil er von der bürgerlichen Mitte klar häufiger bevorzugt wurde als Amstutz. Der bleibt zwar der Favorit der Landbevölkerung, vor allem wo die SVP unverändert unangefochten das Sagen hat. Doch erscheinen seine SVP und auch er als Person immer mehr isoliert, sodass es bei Majorzwahlen nicht mehr für Erfolge reicht.

Damit wird der Kanton Bern im Ständerat von einer Allianz aus Mitte/Links vertreten, die bei allen Unterschieden im Standort auch Gemeinsamkeiten hat. Die viel beschworene ungeteilte Standesstimme hätte es bei einem Duo Luginbühl/Amstutz weder in der Personenfreizügigkeitsfrage gegeben noch beim Atomausstieg. Ersteres ist schon länger ein Zankapfel zwischen den Nationalkonservativen nach Zürcher Art und der gemässigten bürgerliche Mitte. Zweiteres ist im Wahljahr dazu gekommen, vor allem durch den Schwenker der BDP in Sachen Kernenergie nach den Unfall im japanischen Fukushima.

Für die SVP ist es eine herbe Niederlage. Im Frühling eroberte sie bei der Ersatzwahl für Simonetta Sommaruga, die in den Bundesrat gewählt wurde, den Sitz zurück, den sie an die 2008 durch den Wechsel von Werner Luginbühl ohne Abwahl an die BDP verloren hatte. Einige Kommentatoren dachten damals, das sei der Startschuss für die Hardliner der SVP im Ständerat. Auf die Nominationen in der SVP für die Ständeratswahlen wirkte sich dies verherrend. Fraktionspräsident Caspar Baader wurde klar nicht gewählt, auch die denkbaren Bundesratsanwärter wie Guy Parmelin und Jean-Francois Rime scheiterten in der Volkswahl. Der heutige Tag lehrt uns, dass die Wahl vom 6. März eher die Ausnahme als die Regel war. Bei Majorzwahlen bleibt entscheidend, wie die Allianzen spielen. Das war diesmal zwischen rotgrün auf der einen und dem Zentrum, in dem im Kanton Bern neuerdings die BDP das Sagen hat, klarer der Fall. Vom bürgerlichen Schulterschluss, der jahrlang den Ausgang der Ständeratswahlen bestimmt hat, war in Bern kaum mehr etwas zu merken.

Mit der heute gefällten Entscheidung steht Bern nicht alleine. Im Ständerat der kommenden Legislatur hat die CVP nicht nur mit der FDP eine mehrheitsfähige Allianzmöglichkeit. So wie es jetzt aussieht besteht diese neu auch mit der SP.

Claude Longchamp

Ständeratswahlen: Börsianer erwarten Links-Rutsch

Erst in zwei Wochen wird der Ständerat komplett sein. Jetzt schon zeichnen sich auf Wahlbörse die Favoriten für die im ersten Wahlgang offen geblieben Sitze ab. Das spricht für einen Linksrutsch im Ständerat.

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Wir der Ständerat neu von einer Mehrheit von CVP und SP geführt? – Das wenigstens suggeriert eine Uebersicht über die Wahlbörsen in den Kantonen mit anstehenden zweiten Wahlgängen.

Ginge es nur das der Wahlbörse, verteilten sich die noch offenen 11 Sitze für den Ständerat wie folgt.

Noch 2 Sitze zu vergeben:

BE: Luginbühl (BDP, bisher), Stöckli (SP, neu)
TI: Lombardi (CVP, bisher), Cavalli (SP, neu)
ZH: Diener (GLP, bisher), Gutzwiller (FDP, bisher)

Noch 1 Sitz zu vergeben:

AG: Egerszegi (FDP, bisher)
SO: Bischof (CVP, neu)
SG: Rechsteiner (SP, neu)
SZ: Frick (CVP, bisher)
UR: Stadler (GLP, bisher)

Damit würde die SP noch drei Sitz (BE, TI, SG) machen gewinnen, während die FDP (TI, SO) zwei, die SVP (AG) einen verlieren würde.

Die CVP käme in der Endabrechnung auf 14 Sitze (-1), die SP auf 12 (+3), die FDP auf 10 (-2), während die SVP bei 4 (-2) stehen bliebe, vor GPS und GLP mit je 2 und BDP resp. (vorläufig) Parteilose mit je 1 Mandat (je 1 plus). Eigentliche Wahlsiegerin wäre die SP, die neu mit der CVP zusammen im Stöckli eine Mehrheit bilden könnte, ohne auf Stimmen der kleinen Parteien angewiesen zu sein.

Sicher, einige der Tipps sind überraschend, so der zum Kanton St. Gallen, wonach der Präsident des Gewerkschaftsbundes, Paul Rechtsteiner, den Chef der SVP Schweiz, Toni Brunner, bezwingen würde. Recht kanpp sind die Verhältnisse insbesondere in den Kantonen Tessin, wohl aber auch Bern. In beiden Fällen könnte der prognostizierte Sitz von links nach rechts wandern.

Nimmt man die jetzige Vorhersage zum vorläufigen Massstab, hätte das Ergebnis der Ständeratswahlen Konsequenzen: Denn die SVP kame neu auf 58 Sitze, genau gleich viele wie die SP. An dritter Stelle läge die CVP/EVP, gefolgt von der FDP. Wegen den Gewinnen der SP und der Abspaltung der GLP von der Zentrumsfraktion würden diese die Plätze tauschen, ja, die SP wäre gleich auf mit der SVP. Selbst wenn sich die BDP der CVP/EVP-Fraktion anschliessen würde, kam man in der Mitte auf 54 Sitze und würde man auf dem dritten Rang bleiben, allerdings sehr klar vor den FDP.Liberalen. Das wäre mit Blick auf die anstehende Bundesratswahl nicht ohne!

Wie gesagt: Das sind die Ergebnisse, welche die Wahlbörse gegenwärtig suggeriert. Ganz sicher sind sich selbst die Börsianer nicht. Stellt man nämlich nicht auf ihre kantonalen Wetten ab, sondern auf die nationale zu allen Ständeratswahlen 2011, resultiert ein leicht differenter Ausgang. Die Verluste für die FDP wären noch etwas grösser, jene für die SVP etwa kleiner und die SP würde weniger gewinnen. Allerdings halte ich das eher für eine Schwäche der Wahlbörsen, denn die direkte Schätzung des Ausgangs der Ständeratswahlen ist selber für ExpertInnen ausgesprochen schwieriger. Etwas zuverlässiger sind das die Annahmen pro Kanton.

Claude Longchamp

Berner Ständeratswahlen: Was die Wahlbörse voraussagt

Ginge es nach den 261 HändlerInnen der Wahlbörse, würde am kommenden Sonntag nebst dem Bisherigen Werner Luginbühl von der BDP der neue SP-Bewerber Hans Stöckli von der SP als Berner Vertreter in den Ständerat gewählt. Als Ueberzähliger ausscheiden würde Adrian Amstutz, gegenwärtiger Standesherr der SVP.

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Gross war das Lob an die Adresse der Wahlbörse nach den Nationalratswahlen. Haften blieb ein Mackel, existierten doch zahlreiche andere Tools zum Wahlausgang, an denen sich die Händler auf Wahlbörse orientieren konnten.

Die Evaluierung der Wahlbörse bei den Ständeratswahlen steht noch aus. Aufs Ganze gesehen wird mit Verlusten für die FDP gerechnet, und kleinen Verschiebungen im Minus für die CVP, resp. im Plus für die SP und Parteilose. Kein schlechter Tipp, würde ich sagen.

Die anstehenden Ständeratswahlen im Kanton Bern sind, im zweiten Wahlgang, der erste Bewährungsprobe für die Wahlbörsen. Bei Werner Luginbühl, bisheriger Berner Standesherr von der BDP, wetten die Händler auf einen Unterstützungsanteil von 65 Prozent. Damit erscheint ihnen seine Wahl als gesichert. Spannend wird es danach: Hans Stöckli, neuer Kandidat der SP, kommt auf 60 Prozent geschätzte Zustimmung und liegt 2 Prozentpunkt vor Adrian Amstutz, der es auf 58 Prozent bringt.

Im Wahlkampf für die zweite Runde steigern konnten sich Luginbühl, seit dem 3. November ununterbrochen führend, aber auch Stöckli, der am 13. November Amstutz überholte. Dieser hatte unmittelbar nach dem 1. Wahlgang ein kleines Hoch; sein wahrgenommenen Chancen sinken seither langsam, aber kontinuierlich.

Wie gesagt, es ist ein erster Test für die Wahlbörsen bei der Stichwahl zu Ständeratswahlen. Das Ergebnis stimmt recht gut mit dem überein, was man in den Städten zu Verlauf und Ausgang wahrnimmt: Der Trend verläuft zuungunsten von Amstutz, seit die BDP das Angebot ausschlug, zwischen Luginbühl und Amstutz ein gemeinsames “Päckli” gegen links zu schnüren.

Doch bleibt eine Ungewissheit: Gerade der Kanton Bern besteht nicht nur aus den Städten!

Claude Longchamp

Was die BernerInnen bei den Ständeratswahlen in zweiter Linie wählten

Eine Spezialauswertung der Stimmzettel im Kanton Bern zeigt, was die Wählenden von Amstutz, Luginbühl, Stöckli, von Graffenried und Wasserfallen auf die zweite Linie schrieben. Das hilft, Präferenzen im 1. Wahlgang verbessert einzuschätzen.

Zuerst will ich den Kanton Waadt loben. Bei den Nationalratswahlen kam er wegen der Verzögerungen beim Auszählen schlecht weg. Bei den Ständeratswahlen war der Wahlservice aber super. Das hat mit dem Wahlrecht zu tun. Die WaadländerInnen wählen bei den Ständeratswahlen mit Parteilisten. Alle grossen Parteien haben eine solche. Beim zweiten Wahlgang empfahlen die SP und GPS auf der einen, die FDP.Liberalen und SVP auf der anderen Seite je ein Doppelpack an Bewerbungen. Aus der Wahlstatistik kann man nun ableiten, wieviele Stimmen jede Parteiliste machte und wer von den Vorgeschlagenen bestätigt resp. gestrichen oder ersetzt worden ist.

Abfluss der Zweitstimmen nach Erststimme im 1. Wahlgang bei den Berner Ständeratswahlen
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Im Kanton Bern beispielsweise, wo ein anderes Wahlrecht für Ständeratswahlen gilt, weiss man das alles nicht. Wie die ParteigängerInnen im ersten Umgang gewählt haben, würde man nur mit aufwendigen Umfragen herauskriegen. Wie die Zweitlinie ausgefüllt worden ist, kann man durch Auszählen der Bulletins ersehen. – Leider machen die Wahlbüros das nicht automatisch. Zwei Studenten der Politikwissenschaft an der Uni Bern, Samuel Kullmann und Philipp Koch, haben sich die Mühe genommen, in zehn gut ausgewählten Gemeinden je eine Stichprobe der abgegebenen Zettel zu ziehen und diese auswerten.

Was sind ihre Schlüsse? –

Die Wählenden von Amstutz votierten zu 31 Prozent für Luginbühl, zu 12 Prozent für Wasserfallen und zu 41 Prozent für niemanden sonst.
Wer zuerst für Luginbühl gewählt hatte, schrieb auf der zweiten Linie am häufigsten Wasserfallen (25%) auf, dann Stöckli (22%); der GPS-Kandidat von Graffenried kam auf 12 Prozent. 14 Prozent gaben keine Zweitstimme ab. Oder anders gesagt: Die BDP-nahen Luginbühl-Wählenden waren auf viele Seite offen.
Die Wählenden von Wasserfallen tendierten zu 42 Prozent zu Luginbühl, zu 14 Prozent zu Amstutz und zu 12 Prozent von Graffenried. 19 Prozent liessen die zweite Zeile leer.
Stöcklis WählerInnen aus derm ersten Wahlgang gaben zu 69 Prozent ihre Stimme von Graffenriede, zu 10 Prozent Luginbühl.
Aehnlich strukturiert waren auch die Wählenden von von Graffenried. Sie votierten zu 65 Prozent auch für Stöckli, zu 15 Prozent auf für Luginbühl.

Alle anderen KandidatInnen machten nur wenige Stimmen auf den Wahlzetteln der Grossen.

Die vorliegende Analyse zeigt, dass die Amstutz-Wählenden am stärksten nur aus Ueberzeugung votiert haben. Fast die Hälfte schrieb, ausser ihrem Favorit, keine weitere Kandidatur auf den Wahlzettel, um die Wahlchancen von Amstutz zu optimieren. Nirgends war dieses Denken so verbreitet wie bei den Wählenden des SVP-Standesherren.
Die Kandidatur von Christian Wasserfallen aus den FDP-Reihen verzettelte die bürgerlichen Stimmen offensichtlich. Der Grund liegt in der Abneigung seiner AnhängerInnen gegenüber Amstutz. Die Wasserfallen-Wählenden hatten eine klare Präferenz für den BDP-Kandidaten, nicht aber für jenen der SVP. Am zweitmeisten Stimmen machte hier der grüne Bewerber Alec von Graffenried.
Ganz anders verhielt sich das linke Lager. Es hielt insgesamt gut zusammen. Stöckli-Wählende notierten fleissig von Graffenried, und dessen Supporter votierten ebenso häufig für Stöckli.

Die neuen Ergebnisse präzisieren den Befund, den letzte Woche der “Bund” aufgrund der gleichen Methode, indes nur in einer (unbekannt gebliebenen) Gemeinde ermittelt hatte. Sie decken sich weitgehend mit den Erkenntnissen aus der Studie zum ersten Wahlgang bei den Zürcher Ständeratswahlen. Auch da zeigte sich, dass die SVP-Wählerschaft zwischen Eigenständigkeit und Isolation votierte, moderat bürgerliche Wählende eher zu den grünen als sozialdemokratischen Bewerbungen tendierten, und die rotgrünen Wählenden unter sich Stimmen tauschten. In Zürich wirkte sich das Etikett “Bisherige” stärker aus als in Bern, wo sie zwar auch an der Spitze der Nicht-Gewählten stehen, ihre Abstützung aber nicht so breit ist wie in Zürich.

Schlussfolgerungen auf den zweiten Wahlgang sind nicht direkt möglich; dafür fehlt die Sicherheit mit entsprechenden Ergebnissen. Reevaluierungen werden zeigen, was effektiv spielte. Vorerst bleibt dies Spekulation. Namentlich kann man aus solchen Präferenzanalysen nicht eindeutig ableiten, wie die Mobilisierung im zweiten Umfang sein wird. Ist sie überall gleich anders, ist das egal. Wenn aber beispielsweise das Land besser mobilisiert als die Stadt, hat das Auswirkungen auf das Wahlergebnis. Es kommt hinzu, dass im ersten Wahlgang mehr die Positionierung der bevorzugten Kandidatur wichtig war, das Taktieren namentlich auf der zweiten Zeile erst danach einsetzt. Im Kanton Bern relevant ist, die bekannte Teilung der Präferenzordnungen zwischen Stadt/Land, aber auch, was die FDP-Wählerschaft macht und was im Berner Jura geschieht. Und: wer im ersten Wahlgang eine Linie leer liess, hat im zweiten Umgang am meisten Spielraum!

Claude Longchamp

Hochrechnung der Berner Ständeratswahlen vom Sonntag

Hochrechnungen sind Extrapolationen realer Wahlergebnisse aus Teilen des Kantons auf den ganzen Kanton. Sie haben sich bewährt, wie drei Beispiele aus dem ersten Wahlgang zeigten. Im Kanton Bern wird deshalb auch der zweite Wahlgang vom kommenden Sonntag hochgerechnet.

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Kämpfen am Sonntag um die beiden Berner Ständeratssitze: Adrian Amstutz (SVP, bisher), Hans Stöckli (SP, neu) und Werner Luginbähl (BDP, bisher)


Die Hochrechnungen für Majorzwahlen im Kanton Bern

Stephan Tschöpe, Politikwissenschafter und Mathematiker, hat mit seiner Lizenziatarbeit ein neues Modell für Hochrechnungen zu Majorzwahlen erarbeitet, das 2010 bei den Regierungsratswahlen mit Erfolg eingesetzt wurde.

Für die Hochrechnung wird der Kanton Bern in Untergruppen eingeteilt. Diese Untergruppen repräsentieren die parteipolitisch unterschiedliche Zusammensetzung des Kantons (z.B.: SVP-Hochburgen, SP-Hochburgen, …). Im Vergleich zum gesamten Kanton sind die Untergruppen homogener in Bezug, so dass sich Referenzgemeinden für die Hochrechnung besser und strukturierter finden lassen.

Die Referenzgemeinden werden nach dem Prinzip “beste Gemeinde” ausgewählt, also jene Gemeinden, welche am besten für Kandidat X re-präsentativ sind. Als Referenz für Wahlen gilt die Vorwahl. Somit werden die besten Gemeinden für die Untergruppen pro KandidatIn aus dem 1. Wahlgang der Ständeratswahlen vom 23. Oktober 2011 als Referenz genutzt. Für die kantonale Hochrechnung der Kandidierenden werden die Untergruppen im Verhältnis zu ihrem Stimmen-gewicht im Kanton gewichtet.

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Evaluierung der Hochrechnung zum 1. Wahlgang im Kanton Bern. Der mittlere Schätzfehler betrug um 14 Uhr 30 effektiv nur 0.7 Proezntpunkte; am höchsten war er bei Werner Luginbühl mit 1.1 Prozentpunkten.

Die Kunst dieser Hochrechnung bestand darin, ein Modell für einen BDP-Kandidaten zu finden, da es eine solche noch nie gab. Im zweiten Wahlgang ist das einfacher, denn der schliesst die (guten) Erfahrungen aus dem ersten Wahlgang bereits mitein.

Die Hochrechnung vom kommenden Sonntag

Wir rechnen aus Zeitgründen nur die aussichtsreichen KandidatInnen hoch. Es sind dies Adrian Amstutz (SVP), Werner Luginbühl (BDP) und Hans Stöckli (SP).

Wir werden den prozentuallen Anteil im Verhältnis zum doppelten absoluten Mehr pro KandidatIn publizieren. Das absolute Mehr wird immer mit 50% definiert. Das absolute Mehr ist zwar nicht für den 2. Wahlgang notwendig, dient aber uns zur Berechnung der erhaltenen Stimmen.

Der Streubereich bei der 1. Hochrechnung beträgt geschätzt +/-3%. Liegen die Kandidieren näher als diese drei Prozent zusammen, kann nicht gesagt werden, wer gewählt ist. Ein Beispiel verdeutlicht dies:

– Kandidat 1: 48%
– Kandidat 2: 46%
– Kandidat 3: 44%

Es kann somit gesagt werden, dass Kandidat 1 sicher gewählt ist, weil er mehr als 4% Differenz zu Kandidat 3 hat. Es kann aber nicht gesagt werden, wer als 2. gewählt wird, da die Differenz weniger als 3% beträgt.

Die Hochrechnung werdenab 14 Uhr halbstündlich publiziert:

1. Hochrechnung: etwa 14.00 Uhr (Fehlerbereich: +/-3%)
2. Hochrechnung: etwa 14.30 Uhr (Fehlerbereich: +/-2%)
3. Hochrechnung: etwa 15.00 Uhr (Fehlerbereich: +/-1%)

In allen Fällen sind die Hochrechnungen klar schneller als das erwartbare Endergebnis.

Sobald das hochgerechnete Ergebnis feststeht, werden wir das Ergebnis würdigen und Erstanalyse der Wahlen liefern.

Claude Longchamp

4 Szenarien für die anstehenden Bundesratswahlen

“Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt!”, lautet eine Volksweisheit. Das beherzigend, verzichte ich auf eine Prognose zu den anstehenden Bundesratswahlen. Dafür skizziere ich hier meine vier Szenarien, von denen jedes etwas an sich hat. Konkreter werde ich heute Abend in einem Vortrag vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Bern.

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Erstens, der Status Quo: Der neue Bundesrat wäre demnach, parteipolitisch gesprochen, der alte. Die Vakanz auf dem SP-Sitz von Micheline Calmy-Rey wuürde durch eine Vertretung der SP aus der Romandie ersetzt. Vorteil dieses Szenarios ist die personelle Stabilisierung des Bundesrates, der in den letzten 4 Jahren fast vollständig ausgewechselt worden ist. In vier Jahren kann man besser beurteilen, ob sich auch die BDP weiter etabliert hat und zu einer vergleichbaren Kraft geworden ist wie die FDP oder die CVP, und ob der Taucher der SVP bei der jüngsten Wahl mehr als eine Episode war. Je nachdem kann man dann verbindliche Entscheidungen, etwa im Sinne von Szenario 2 oder 3 treffen. Klar ist, dass die SVP mit diesem Szenario nicht zufrieden sein kann und der Machtkampf zwischen ihr und den anderen Parteien andauern wird. Immerhin, die Partei bekäme so die Chancen, einen oder zwei ausgewiesene und breit akzeptierte Bundesratskandidaturen aufzubauen. Selbstredend hat vor allem die BDP ein Interesse an dieser Perspektive, auch wenn man die neue Regierung nur noch beschränkt nach dem Konkordanzmuster hergestellt kritisieren würde.

Zweitens, die Rückkehr zur Zauberformel: BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf würde dem neuen Bundesrat nicht mehr angehören. Da sie ihre Kandidatur angemeldet hat, wird sie in dieser Perspektive abgewählt. An ihre Stelle tritt sofort ein Politiker der SVP. Der Vorteil dieser Variante ist evident: Die Grösse der Parteien würde zum entscheidenden Kriterium für die Zugehörigkeit im Bundesrat. Indes, die vier Parteien sind nicht mehr die gleichen wie 1959, als man die Formel begründete. Und damals wurde sie eingeführt, um die Vorherrschaft der FDP/SVP von Mitte/Links her zu brechen. Jetzt wäre es ziemlich anders, denn die SVP und FDP erhielten im Bundesrat ein Mehrheit. Das führt zur Schwäche der Variante: Beide Parteien verfügen weder im Parlament noch in der Bevölkerung über eine Mehrheit; sie könnten aber den beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie empfindlich bremsen. Zudem würden ausgerechnet die beiden grössten Wahlverlierer in der Regierung gestärkt. Unzufrieden wären die Linksparteien und die UmweltschützerInnen. Interessiert an dieser Variante sind die SVP und die FDP.

Drittens, die Etablierung der neuen Mitte zwischen den Polen: In diesem Szenario bleibt BDP-Bundesrätin Widmer-Schlumpf in der Bundesregierung. CVP, BDP und GLP treten in eine lockere Fraktionsgemeinschaft ein. Sie bleiben eigenständige Parteien, die je eine Fraktion bilden. Sie bilden aber ein übergeordnetes Gremium, das mit einem qualifizierten Mehr übergeordnete Standpunkte diskutieren und beschliessen kann, die für alle drei Fraktionen Gültigkeit bekommen. Gemeinsam melden sie den Anspruch auf zwei Sitze im Bundesrat an, welche das Zentrum abdecken – und zwar zu Lasten der FDP, die als Mitte/Rechts-Partei eine Sitz verlöre. Zur Hälfte ist dieses Szenario gleich wie das zweite; die SVP erhielte als grösste Partei der Schweiz zwei Sitze. Allerdings würde dies nicht gegen Bundesrätin Widmer-Schlumpf gerichtet sein, sondern gegen Johann Schneider-Ammann. Vorteilhaft wäre, dass die Zusammensetzung den Kräfteverhältnissen unter den Bundeskuppel angepasst würde. Nachteilig selbstredend, dass nach der SVP auch die FDP an der Konkordanz Zweifeln würde. Nutzniesser dieser Variante sind letztlich alle – ausser der FDP.

Viertens, jeder gegen jeden: Auch in diesem Szenario kommt es zur Wiederwahl der BDP-Bundesrätin Widmer-Schlumpf. Danach brechen aber alle Dämme. Die SVP attaktiert erfolgreich die FDP. Johann Schneider-Ammann würde aus dem Amt gedrängt, indes erneut kandidieren, und zwar im letzten Umgang als Nachfolger für SP-Bundesrätin Calmy-Rey. Hier würde er reüssieren. Die so ausgelösten Turbulenzen sind das Ende des Wiederbelebungsversuch der Konkordanz. Die Regierung wäre weniger aus Strategie entstanden, eher als Unfall. Sie würde einzeln zum Parlament passen, gesamthaft aber nicht. Mit einer erhöhten Diskussion über die Wahl des Bundesrates, sei es aus einer Volkswahl heraus oder aber mit einer Listenwahl im Parlament, wäre zu rechnen. Geführt würde die Debatte kaum mehr von der SVP, dafür von der SP und der GPS und vielleicht auch der GLP, welche die Zeche bezahlen würden. Mit Instabilitäten der Regierung wäre zu rechnen, mit Protesthaltungen aus der Romandie aus. Gewinnerin dieser Wahl wäre das bürgerliche Lager, das so vielleicht wieder zusammen finden würde – allerdings zu Lasten eine Variante, die man nicht mehr konkordant bezeichnen könnte.

Und zum Schluss noch dies: Vielleicht kommt es noch mehr anders, als man denkt. Dann zum Beispiel, wenn die Reihe der Wahlen nicht nach der Anciennität erfolgen würde, sondern im offenen Kampf. Das würde mit Sicherheit zu einer neuen Regierung führen. Sie hätte, genau wie das Verfahren, wohl den Mackel, unberechenbar zu sein.

Claude Longchamp