Analyse der und Ausblick auf die Zürcher Ständeratswahlen

Der politische Klimawandel mache sich auch bei den Zürcher Ständeratswahlen bemerkbar, schreibt Peter Moser, Chefanalyst beim kantonalen Statistischen Amt. Denn zweite Wahlgänge für beide Sitze sind in Zürich ungewöhnlich. Umso interessanter sind Analysen des ersten Umgangs wie die gestern veröffentlichte Studie .

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Wenn es um parteitreues Wählen bei den jüngsten Ständeratswahlen geht, ist die SVP unübertroffen. Von den 100 Prozent Stimmen, welche die SVP-Wählenden mit ihren zwei Linien abgeben konnten, gingen 41 Prozent an Christoph Blocher, 41 an niemanden, und 18 Prozent an andere KandidatInnen, die meisten davon an Felix Gutzwiller.

Wer nicht so geübt ist, das zu interpretieren, lese das Ergebnis der Studie vom Statistischen Amt wie folgt: Geschätzte 82 Prozent der SVP-Wählenden (2×41%) haben Christoph Blocher aufgeschrieben. Bei 36 Prozent figurierte ein anderer Namen drauf – zum Teil neben Blocher, zum Teil als Alternative zu Blocher. Ebenfalls 82 Prozent füllten nur eine Linie aus. Diener fand sich auf 30 Prozent der GPS-Wahlzettel, Hardegger indessen fast nicht.

FDP, GLP und GPS wählten sehr treu für ihre KandidatInnen Felix Gutzwiller, Verena Diener und Balthasar Glättli. Leere Linien hatte es aber klar weniger als bei der SVP. Die Studie legt nahe von 12 bis 20 Prozent auszugehen. Bei der SP fand Bewerber Hardegger keine einhellige Zustimmung. Etwa 70 Prozent der SP-Wählenden gaben ihm ihre Stimme. Dafür liessen sie zu 30 Prozent eine Zeile leer.

Bei den Kleinparteien in der Mitte gibt es keine wirkliche Parteitreue. Maja Inglold dürfte sich zu 54 Prozent auf den Zettel befunden haben, die von EVP-Wählenden stammten. Bei Urs Hany weist die Studie eine Werte von 38 Prozent für die CVP-Wählenden aus. Nicht bestimmbar ist dieser Koeffizient bei den BDP-Wählenden, die keinen eigenen Ständeratskandidaten zur Verfügung hatten. BDP und CVP wählten am ehesten Gutzwiller und Diener, die EVP votierte überwiegend nur für letztere.

Natürlich, das alles sind “nur” Schätzungen. Schätzungen allerdings, die Politikwissenschafter Peter Moser beherrscht wie kein anderer. Sie überzeugen nicht nur Statistiker, auch für die Theorie geben sie etwas her. Ueber den Bericht des Statistischen Amtes hinaus interpretiere ich das wie folgt:

Die Parteiwählerschaften der grossen Parteien stimmen zuerst aus Ueberzeugung. Sie geben ihre erste Stimme der Partei-eigenen Kandidatur. Bei der FDP, der GP und GLP war das annähernd geschlossen der Fall. Bei der SVP und der SP überwiegend. Nicht belegen lässt sich das für EVP und CVP, allenfalls weil die Aussichten der eigenen Bewerbungen, gewählt zu werden, gering waren.

Mit der zweiten Linie wird taktiert. Bei der SVP in dem Sinne, dass man sie leer lässt, um die Konkurrenz nicht zu fördern. Bei allen anderen Parteien, um die Chancen der verschiedenen KandidatInnen zu befördern. Dabei gibt es zwei Muster: entweder die Bisherigen zu stärken, oder die Wahl der parteinahen zu befördern. Allenfalls überlagert sich beides. So gab es bei der SP eine taktische Unterstützung für die GPS, bei der aber für die GLP, genauso wie bei der FDP, während diese für die GLP optierte.

Den Schluss Mosers, Ständeratswahlen würden zunehmend durch Parteiüberlegungen geprägt, ist an sich richtig. Seine Studie lässt aber einen prägnanteren Schluss zu: Zuerst wird gemäss Parteiraison gestimmt, dann nach Wahlchancen. Bisherigen haben einen Vorteil vor allem im Zentrum, während an den Polen die Block- oder Parteiwahl im Vordergrund steht.

Was nun heisst das für den zweiten Wahlgang? FDP und GLP werden wieder das Rückgrat für Diener und Gutzwiller bilden. CVP, BDP und EVP dürften sich dem mehr oder minder anschliessen. Bei den linken hat Diener klar besserer Chancen Stimmen zu machen. Gutzwiller wiederum wird bei der SVP sehr klar vor Diener liegen. Aufsummiert sind die Wahlchancen für Verena Diener die besten, während Gutzwiller vor Blocher sein dürfte.

Claude Longchamp

Wo die SVP verliert, wo sie gewinnt – und was man daraus schliessen kann

Die SVP verlor bei dieser Nationalratswahl erstmals wieder ein Wahl. Was könnten die Gründe sein? Hier meine ersten Arbeitshypothesen.

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Beginnen wir mit dem Kanton Baselland. Da erreichte die SVP 2011 26.9 Prozent WählerInnen-Anteil. Das ist praktisch der gleiche Wert wie für die SVP Schweiz. Denn der ist neu bei 26.6 Prozent. Das ist nicht zufällig. Denn die Trends in diesem Kanton war in den letzten 12 Jahren ein zuverlässiger Indikator für die Entwicklung der Gesamtpartei.

Ueberblickt man alle Kantone, wird die Analyse diesmal komplizierter als auch schon. Denn es stehen neutralisieren sich Trends und Gegentrends.

Im Tessin, im Jura und im Wallis legte die SVP auch 2007 an WählerInnen-Stärke zu. Wachsen konnte sie diesmal auch in Obwalden. In Nidwalden machte sie einen grossen Sprung nach vorne, da sie 2007 nicht kandidierte. In den Kantonen Freiburg, Waadt, Luzern und Schaffhausen hielt die Partei. Teils herbe Verluste gab es für die SVP gab es in den übrigen Kantonen.

Was sind die Gründe für das Ueberwiegen des Rückgangs? Ich wage hier mal drei Arbeitshypothesen:

Erstens, gerade in den neuen Hochburgen wie Schwyz, Thurgau, Aargau, St. Gallen und Zürich entwickelte sich die Mobilisierungsfähigkeit der SVP zurück. Das löste insgesamt einen Rückgang von gut 1.5 Prozentpunkte aus.
Zweitens, markante Verluste kannte die SVP vor allem dort, wo die BDP aus der Abspaltung von der SVP entstanden ist. In Glarus kandidierte die SVP gar nicht mehr. In Graubünden erstand sie zwar neu auf, aber nicht mehr in der alten Grösse, und auch in Bern verlor sie, wenn auch etwas weniger krass. Zusammen bringt das gut 1 Prozent Verlust.
Drittens, eindeutig ist der Rückgang auch in Genf, wo sich rechts der SVP mit dem Mouvement Citoyen Genevois eine neue Bewegungspartei platzieren konnte. Der Effekt auf das nationale Ergebnis bleibt mit rund einem Promille eher unwichtig.

Geringer als von der SVP erwartet, fielen die Verschiebungen in der Innerschweiz und in der Romandie aus. Plus und Minus halten sich in etwa die Waage. Das hat seinen Grund: Die Attraktivität der SVP für Wechselwählende ist weitgehend rückläufig. Nur rund um aussichtsreiche Kandidaturen kann die Partei da noch hinzugewinnen.

Was davon war im Voraus absehbar? Ausser dem ersten Punkt war es. Denn die lokalen Konkurrenzsituationen mit neuen Parteien zeigten sich bereits in den kantonalen Wahlen. Zudem wurde in verschiedenen Wahlbarometer-Befragungen deutlich, dass die Wechsler-Attraktivität rückläufig war; Kleinparteien, die man hätte beerben können, gibt es nicht mehr, und enttäuschte FDP- und CVP, die hätten gewonnen werden können, sind kaum mehr zu finden.

Nicht wirklich vorhersehbar war der Einbruch in der Mobilisierung in den Hochburgen, denn der entsteht immer erst aus der Dynamik einer Kampagne selber. Diese funktionierte, wenn auch abgeschwächt, kantonal noch. Erstes, aber auch einziges Zeichen einer Wende waren die Zürcher Wahlen im Frühling, wo die Partei erstmals in einer der neuen Hochburgen eine Niederlage einfuhr.

Nicht alles, aber einiges spricht dafür, dass mit der Wahl 2011 der Wendepunkt national erreicht ist. Partei(ab)spaltungen sind immer ein Indiz dafür, dass die inneren Erfolgsfaktoren auslaufen. Denn wenn Teile der Parteieliten eigene Wege gehen, statt auf einer allgemeinen Erfolgswelle reiten, bricht das die Dynamik, die aus einer Partei selber herauswächst. Das hat die SVP selber unterschätzt, nicht zuletzt wegen der Erfolgen auf kantonaler Ebene in Bern, die aber nicht einfach wiederholbar sind.

Umgekehrt kann man sagen, dass eine verringerte Mobilisierung auf hohem Niveau auf eine Stagnation äusserer Erfolgsfaktoren verweist, etwa, dass die Grossereignisse in einer Kampagne nicht mehr dominant von der SVP gesetzt werden können. Der Punkt bleibt meines Erachtens weich. Denn da müssen sich nur wenige Parameter ändern, und die Entwicklung geht in die eine oder andere Richtung. Aus der Erfahrung heraus hängt diesbezüglich vieles vom Geschick eines überragenden Kommunikators ab.

Claude Longchamp

Bilanz zum neuen Parteiensystem aus der Wahltagsbefragung

Die neue Mitte ist das Hauptphänomen der Nationalratswahlen 2011. Gebildet wird sie aktuell durch CVP, GLP und BDP. Zusammen sind die drei Parteien von 16 auf 23 Prozent Wähleranteil angestiegen. Verringert hat sich das Gewicht links von ihr um rund 2 Prozentpunkte, rechts von ihr um rund 5 Prozentpunkte.

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Vor allem im Langfristvergleich fällt die Neuerung auf. Waren alle nationalen Wahlen seit der “historischen” EWR-Entscheidung vom 6.12.1992 durch die Polarisierung, seit 2003 auch durch eine Rechtsentwicklung gekennzeichnet, hat das Pendel diesmal umgeschlagen: Die Rezentrierung ist das aktuelle
Kennzeichen.

Dafür spricht nicht nur das Wahlergebnis. Auch die Wahltagsbefragung charakterisiert die meisten Wählerströme durch die neue Tendenz. BDP und GLP sind Magnete für WechselwählerInnen geworden. Je unvoreingenommener der Parteientscheid 2011 gefällt wurde, desto grösser ist die Chance, dass man sich für eine der beiden Parteien entschied. Beide Parteien waren auch für Wechselwählende attraktiv. Das alleine erklärt die Veränderungen der Parteistärken noch nicht. Hinzugerechnet werden müssen auch die Mobilisierungseffekte. Diese zeigen, dass vor allem die GLP für die Neumobilisierten attraktiv war.

Der Wandel der Grosswetterlage von der Polarisierung zur Harmonisierung lässt sich auch anhand der Position der Parteien auf der Links/Rechts-Achse ablesen. Erstmals ist die Distanz zwischen SVP einerseits, SP und GPS anderseits nicht mehr gewachsen; sie hat aber auch nicht abgenommen. Die neuen Parteien entstanden nicht durch die Wählenden der klaren Pole, eher durch jene mit gemässigten Positionen leicht links oder rechts der Mitte, die sich von diesen Polen abwandten.

Die Themen- und Werteausrichtung der GLP überzeugt die neue Wählerschaft der Partei am meisten: Mit der Kernenergiedebatte nach dem Unfall in Fukushima hat die Partei nicht nur ihr Thema gefunden, sondern auch ihre Rolle als Vermittlerin im Parteiensystem. Das wirkte namentlich auf bisherige WählerInnen von FDP und SP anziehend aus. Besonders attraktiv ist dies für Wählende aus dem urbanen Gebiet, für Angehörige der oberen Mittelschichten und für jüngere Wählende.

Bei der BDP sind die Personenausrichtung und die Grundhaltung der Partei wichtig. Thematisch ist die zweite neue Partei noch weniger profiliert. Gewählt wurde sie wegen den KandidatInnen, die für die „Neue Kraft“ stehen, und selbstredend wegen der Bundesratsfrage. In der Grundhaltung ist man für eine vermittelnde, staatstragende Sicht auf die Dinge aus. Das hat sich auf frühere Wählende von FDP, SVP und SP positiv ausgewirkt. Es hat der Partei vor allem im Segment der RentnerInnen stimmen gebracht, aber auch bei jungen Wählenden ohne bisherige Parteipräferenz. Sie tendiert dazu, in verschiedenen Städten zur Alternative zur FDP zu werden, während sie auf dem Land teilweise die SVP herausfordert.

Die SVP verlor bei dieser Wahl, weil sie den gewohnten Spannungsbogen, den sie in die Politik und die Wahlkämpfe brachte, nicht mehr im gleichen Masse entwickeln konnte. Das zeichnete sich mit der Kontroverse um den Kampf gegen Personenfreizügigkeit ab, die bis in die Partei hinein wirkte. Vernachlässigt hat die SVP auch die Themenarbeit in Wirtschaftsfragen, die gerade mit dem starken Franken von Belang wurden. Entscheidend blieb, dass trotz des Versuchs, den eingespielten Dreh in der Kampagne zu imitieren, die gewohnte Schlussmobilisierung ausblieb. Massgeblich war, dass die Polarisierung von rechts nicht mehr verstärkt werden konnte. Stark zurück entwickelt hat sich auch die Attraktivität der SVP für Wechselwählende, Gegenüber keiner anderen Partei hat die SVP heute eine positive Wanderunsbilanz. Gegenüber der BDP ist diese sogar negativ.

Die FDP hat ein Positionierungsproblem. Die hat die Abwanderung von Wählenden nach rechts zwar stoppen können. Sie konnte indessen nicht verhindern, dass die Front zur Mitte bröckelt. BDP und GLP sind zur Konkurrenz geworden. Der Fukushima-Effekt ist hier von Belang. Vermuten kann man auch, dass die verschiedenen Positionswechsel zur inneren Demobilisierung beigetragen haben.

Dies ist auch bei der CVP das entscheidend. Dank der Mitte-Position konnte die CVP Abwanderungen zu anderen Parteien gering halten, nicht aber die bisherige Wählerschaft mobilisieren. Ihr Problem besteht darin, dass das weltanschauliche Fundament im Christentum kaum mehr trägt, die Stil- und Personenorientierung überhand nehmen, und die Wählenden ohne Probleme auch Kandidaturen anderer Parteien berücksichtigt, selbst wenn das der Partei an Stimmkraft kostet.

Die GPS kann das grüne Potenzial nicht mehr für sich allein beanspruchen, denn die GLP ist zur Konkurrentin geworden. Elektoral ist das nicht einmal das Entscheidende, denn die GPS verlor in erster Linie wegen der inneren Demobilisierung. Unter den Verbliebenen macht der Anteil weltanschaulich gebundener WählerInnen eine Proportion wie in keiner Partei aus, was dafür spricht, die konkrete Themenarbeit künftig wieder mehr zu pflegen, und die Offenheit der Partei zu erhöhen.

Die SP hat ihre Position neu bestimmt, klar auf den linken Pol gezielt, um verbessert mobilisieren zu können. Das scheint ihr auch einigermassen geglückt zu sein, allerdings mit dem Preis verbunden, dass es Abwanderungen zu anderen Parteien gegeben hat, die entweder klar ökologischer oder deutlich moderater positioniert sind. In der Romandie ging das Rezept auf, in der deutschsprachigen Schweiz kaum.

Auch wenn die Polarisierung mit ihrer positiven Wirkung auf die Wahlbeteiligung an ihre Grenzen gestossen ist, die Wahlbeteiligung ist 2011 erneut gestiegen. Man kann davon ausgehen, dass heute ein Sockel von 42 bis 43 Prozent besteht, der sich mehr oder weniger fest ins Wahlgeschehen eingebunden fühlt. Gegenüber den letzten Wahlen hat er zugenommen. Darüber hinaus kommt es darauf an, wer neu mobilisiert wird und wohin diese Wählenden gehen. In dieser Hinsicht besteht eine Änderung gegenüber 2007. Die Neuwählenden ziehen heute die Mitte vor, während die gewohnte Supermobilisierung der SVP weitgehend ausgeblieben ist.

Claude Longchamp

Der Blick von nah und fern auf die Schweizer Wahlen

Die heutige “Zeit” aus Hamburg nennt uns die beiden wichtigsten Politologen der Schweiz: Michael Hermann und mich. Schon vor der Wahl vom Sonntag bot man uns zu einem Streitgespräch über die Nationalratswahl 2011 auf. Wir sagten beide zu, unwissend, was uns erwartete. Eine Einordnung des Gesprächs zur Zeit.

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Fotos: Die Zeit

Alle Reaktionen aus dem Ausland, die ich zu den vergangenen Wahlen erhielt, waren voll des Lobes. Sie drehten sich ums Grundsätzliche wie den Uebergang von der Polarisierung zur Harmonisierung in der Schweizer Parteienlandschaft. Die Schweiz wurde für ihre neue Mitte beglückwünscht. Und für unsere Analysen hierzu, die im Jahre 2010 einsetzten, erhielten wir rundum Gratulationen.

Ganz anders die Reaktionen in der Schweiz. Zwar spüre ich in der Bevölkerung Begeisterung und Zustimmung. Je politischer und medialer die Leute jedoch verhängt sind, desto gegenteiliger ist das Feedback. Es regiert der Negativismus – auf die Wahltagsberichterstattung. Die Hochrechnung unserer Kollegen von projections wird kritisiert, die Wahlumfragen erfahren teilweise ein vergleichbares Schicksal und der Treffpunkt Bundesplatz wird als reine PR-Uebung der SRG apostrohiert.

Da hat mir das Streitgespräch mit Michael Hermann für die Schweizer Ausgabe der “Zeit” gut getan. Statt Geschäftigkeit herrschte am Dienstag nach der Wahl Entspanntheit. Peer Teuwsen und Matthias Daum empfingen uns im Badener Kornhaus, um darüber zu debattieren, was geschehen. Klar, es ging auch um unsere die Fehleinschätzung der SVP-Macht. Behandelt wurde auch die Schweiz als Insel. Gesprochen würde über die Ursachen der Wahlsiege von BDP und GLP. Und die Verliererinnen wurden wenigstens summarisch analysiert. Zum Schluss wollte man noch etwas Persönliches hören: Was Experten gewählt haben und ob sie das Wahlresultat erfreut.

Toll war die Atmosphäre des Gesprächs: Bisweilen war es kontrovers, dann wieder harmonisch. Manchmal verlief die Trennlinie zwischen Journalisten und Wahlanalytikern, dann wieder zwischen uns beiden. Lohnend ist auch der Leitartikel des Schweizer Zeit-Chefs Teuwsen auf der Front der Zeit, der sich direkt auf unsere Gespräch bezieht – und es noch weiter führt.

Merci an die Herren, die auf der Höhe ihrer Zeit waren, dass uns auch jemand in der Schweiz so schnell nach den Wahlen erinnert hat, das Politische dieser Bevölkerungsentscheidung nebst dem Lärm darum nicht zu übersehen.

Claude Longchamp

Wahlbefragungen und Wahlbörsen im pragmatischen Vergleich

Nun ist sie wieder aufgebrochen, die Polemik zwischen Wahlbefragungen und Wahlbörsen. Indes, es sind nicht die Börsianer, die sie führen. Es sind gewisse Medienschaffende, die der Geschichte ihren Dreh geben. Zu unrecht, denn unter den Wahlanalytiker-Fans herrscht ein deutlich höherer Pragmatismus vor.

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Drei typische Instrumente: eine Wahlbefragung, das Wahlbarometer, ein geschlossener Expertenkreis, der Prognosemarkt, und eine offene Wahlbörse, jene von SRF.

Zuerst: Herzliche Gratulation an die offene Wahlbörse. Ihr ward hinsichtlich des Wahlausgangs genauer! Die mittlere Abweichung bei den 7 meist diskutierten Parteien beträgt beim Wahlbarometer 1,3 Prozentpunkte im Schnitt, bei den Wahlbörsen mit 0,8 gut die Hälfte davon. Die geschlossene Wahlbörse mit 30 Experten liegt dazwischen, hat eine vergleichbare Abweichung zur Wahlbefragung. In unserer Umfrage ist der Wert für die SVP ausserhalb des Stichprobenfehlers, in der Wahlhörse kann man jenen für die FDP diskutieren. Beim geschlossenen Prognosemarkt rangiert die FDP gar hinter der CVP.

Sodann: Es bestätigen sich zwei Erfahrungen aus ausländischen Vergleichen: Erstens, kein Informationstool, das man zu Vorhersagen einsetzt, ist fehlerfrei. Es kommt darauf an, nicht die Schwächen zu betonen, sondern sie durch einen produktiven MIx zu verringern. Zweitens, die verschiedenen Tools haben ihre typischen Konjunkturen. In den USA sagt man: Makro-ökonomische Prognosemodelle sind für längerfristige Vorhersagen brauchbar, Wahlabsichtsbefragung für mittelfristige, prozessbezogene Einschätzungen, und Wahlbörsen für kurzfristige Prognosen.

In der Schweiz kennt man ersteres nicht. Was den Vergleich von Wahlbefragungen und Wahlbörsen angeht, kommt man zu einer vergleichbaren Einschätzung. Dass BDP und GLP WahlsiegerInnen sein würden – und alle anderen Parteien verlieren könnten, vermeldete das erste Wahlbarometer vor just einem Jahr. Nachher setzte eine Dynamik der Meinungsbildung ein, bestimmt durch Medienthemen, Personendebatten und Bundesratsfragen, deren Wirkungen sich mit Wahlbefragung am besten analysieren liessen. Am Ende ging es um den Ausgang der Wahl, von den Wahlbörsen besser bestimmt als von allem anderen Tools.

Schliesslich: Die Prognose ist die einzige Absicht der Wahlbörsen. Man kann sie in der Schweiz auch bis zum letzten Tag vor der Wahl machen. Das alles ist bei Umfragen nicht der Fall. Sie dürfen 10 Tage vorher nicht mehr publiziert werden. Faktisch waren sie am Wahltag 2011 15-25 Tage alt. Wahlbefragung sind gar auf die Vorhersage im engen Sinne beschränkt. Sie sind aus der Wahlforschung entstanden, gemäss der es drei Fragen zu beantworten gibt: Warum wählt wer wen? Wahlbörsen können das nicht. denn sie beschränken sich auf eine Frage: Wer wird gewählt?

Vielleicht lernt man in der Schweiz, die Stärken der Informationstools vor Wahlen besser einzuschätzen. Mir wär’s recht! Zum Beispiel durch unabhängige Expertenbewertungen, die vom Nutzen der verschiedenen Instrumente überzeugt sind, und das Beste aus dem Möglichen heraus zu holen. Da könnte die Schweiz vom Pragmatismus in der Wahlforschung des Auslands noch einiges lernen.
Statt sich auf die das Eine-gegen-das-Anders-Auszuspielen zu konzentrieren.

Claude Longchamp

Auch der Volatilitätsrekord deutet auch eine Neuformierung des Parteiensystems hin

Die Wahlen in den Nationalrat sind vorbei. Nun folgt die Analyse. Zum Beispiel: Der Volatilitätsindex erreichte beim Nationalrat einen Rekordwert von 11.5 Punkten. Gestiegen ist auch die Zahl relevanter Parteien resp. die Fraktionisierung des Parteiensystem.

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Die Wahlen 1991 waren der einzige eigentliche Einschnitt im Parteiensystem der Schweiz. Es verloren nicht nur FDP und CVP, es gewannen auch die Grünen und die (damalige) Autopartei sichtbar hinzu. Oekologie und Asylpolitik waren die dominanten Themen gewesen.

Danach begann die grosse Polarisierung, mit Gewinnen für SVP und SP rund um die neue Konfliktlinie zwischen Innen und Aussen, Eigenem und Fremden, Schweiz und Europa. 2007 veränderte sich die innere Polarisierung in eine eigentliche Rechtstendenz mit nationalistischen Tendenzen.

2011 zeigt sich ein neues Muster: Von Polarisierung kann nicht mehr die Rede sein. Vielmehr ist es die neue Mitte, die den Trend setzt. Die Harmonisierung schweizerischer Interessen angesichts der Bedrohung durch den Schweizer Franken wurde zur neuen Leitlinie. Zwischenzeitlich überschreiten 7 Parteien die 5 Prozent-Marke. Voraussichtlich die gleichen 7 Fraktionen werden mindestens 10 ParlamentarierInnen haben.

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Der bisherige Rekordwert für die Volatilität bei Schweizer Wahlen lag seit Einführung des Frauenstimmrechts lag bei 10 Punkten; erreicht wurde er im Jahre 2007. Seit 1991 pendelten die Werte stets zwischen 9 und 10. Davor lagen sie konstant viel tiefer, mit einem vorläufigen Höchstwert 1979.

GewinnerInnen, bei Wählenden-Anteilen und in der Sitzzahl sind die GLP und die BDP. Bei der GLP entstand das mit diesen Wahlen. Bei der BDP entwickelt sich alles in mehreren Schritten: Zuerst durch die Parteiabspaltung 2008 von der SVP. Dann durch die Wahlsiege auf Kantonsebene vor allem 2009/10, und jetzt im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen.

Das beeinflusste auch die Sitzverschiebungen bei der SVP, die in zwei Stufen erfolgte – jetzt und mit der Gründung der BDP. Verluste gibt es auch für die fusionierten FDP und LP, sowie für die CVP. Sitzgewinne, bei leichten Verlusten im Wählendenanteil, resultieren bei der SP.

Das neue Parteiensystem der Schweiz kann nicht mehr auf die bisherige, zentrale Spaltung zwischen rechts und links reduziert werden. Denn das vormalige bürgerliche Lager zerfällt zusehends in eine nationalkonservative, eine Mitte/Rechts- und eine Zentrumsgruppe Das nationalkonservative Lager besteht vor allem aus der SVP, ergänzt durch die Lega und das MCR. Mitte-/Rechts sind die fusionierten FDP und LP, und im Zentrum befinden sich, nebst der CVP, die GLP und die BDP.

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Die Fraktionalisierung des Schweizer Parteiensystems hat mit den Wahlsiegen kleiner Parteien wieder zugenommen. Stärker war sie nur 1991. Mit anderen Worten: Die Zahl relevanter Parteien ist grösser, die Polarisierung ist gestoppt, dafür zeichnet sich in der neuen Unruhe im Parteiensystem auch eine Neuausrichtung eben dieses ab.

Claude Longchamp

zoonpoliticon ist zu einem Politologie-Medium geworden

zoonpoliticon wurde im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2011 besucht wie noch nie. Entstanden ist ein breit nachgefragtes Polito-Medium.

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zoonpoliticon entstand 2008 im Zusammenhang mit meiner Lehrveranstaltung an der Universität St. Gallen. Ursprünglich dachte ich an Diskussionen mit Studierenden, was indess keine gute Idee war. Deshalb habe ich schon im ersten Betriebsjahr die Grundidee modifiziert. zoonpoliticon berichtet, meist aktualitätsbezogen, über Politikwissenschaft in der Praxis, wie ich sie mit politischen Akteuren vor allem mit Medien, Verbänden, dem Staat und (Fach)Hochschulen betreibe.

Die Entwicklung, die das Blog danach genommen hat, ist beträchtlich. Von 50’000 besuchen im ersten jahr, gingen die Nutzungszahlen über 225’000 (2009) auf 480’000 (2010) hoch. Nach gut 9 Monaten im Wahljahr liegt der aktuelle Pegel bei 840’000. Die Millionengrenze wird im Wahljahr mit Bestimmtheit geknackt werden.

Spitzenmonat 2011 war mit 116’000 Besuchen bis jetzt der Februar 2011. Die Volksabstimmungen auf eidgenössischer (Waffen-Initiative) und kantonaler Ebene (Mühlberg-Entscheid in Bern) trugen das ihrige zum politischen Interesse bei, von dem zoonpoliticon profitieren konnte.

Aller Voraussicht nach wird die Nutzung Ende Oktober 2011 diesen Wert übertreffen. In der letzten Woche hatte ich 29000 Besuche – oder rund 4000 im Tag. Ich hoffe, mein Server hält der Belastung in den zwei kommenden Tage Bestand.

Auf jeden Fall danke ich allen, die sich hier über das aktuelle Geschehen, vor allem auch über die praxisorientierte Politikanalyse informieren, wie ich sie, ausgehend von meinen positiven Erfahrungen bei der EWR-Abstimmung 1992, in den vergangenen 20 Jahren aufgebaut und verfeinert habe. Nur dank dem Rückhalt, dass das gefunden hat, macht es auch Sinn, ein Polito-Medium zu betreiben.

Was die Zukunft uns allen bringt, wissen wir bald genauer!

Claude Longchamp

Die verkannte Bedeutung der Ständeratswahlen 2011

Der Wahlkampf 2011 war durch die Nationalratswahlen bestimmt, die Ständeratswahlen entfalteten nicht die gleiche Wirkung – mindestens auf der nationalen Ebene. Dabei unterschätzt man die Bedeutung des Ausgangs der Ständeratswahlen für die Allianzbildung in der kleinen Kammer.

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Grafik anclicken, um sie zu vergrössern (Quelle: NZZ)

Wenn der Ständerat zur Schlussabstimmung schreitet, demonstriert er unverändert gerne überparteiliche Einstimmigkeit. Gelingt dies nicht, schart sich meist die SVP hinter das Zentrum und die Ratslinke auszulassen. Seltener kommt Umgekehrtes vor. Immerhin. die Häufigkeit des Bürgerblocks ist seltener geworden, zunehmend ist die Allianzbildung Mitte/Links. Ganz selten sind polarisierte Situation, bei denen die CVP zur Linken hält, die FDP zur SVP.

Das hat zunächst mit der Diskussionskultur im Ständerat zu tun. Diese ist eine Folge der Ratsgrösse, aber auch der parteipolitischen Zusammensetzung. Denn CVP und FDP haben seit der Gründung des Bundesstaates eine numerische Mehrheit in der kleinen Kammer, seit Beendigung des Kulturkampfes Ende des 19. Jahrhundert zwischen beiden Parteien bildet ihre Allianz gar das Rückgrad des Ständerates.

Das alles könnte sich 2011 ändern. Beide Parteien stellen heute noch 26 der 46 Parlamentarier in der kleinen Kammer. Wenige Sitzverluste bei den anstehenden Wahlen könnte das gewohnte Bild massgeblich auf den Kopf stellen.

Eine Uebersicht über die anstehenden Ständeratswahlen. publiziert im Tages-Anzeiger vom 12. Oktober 2011, benennt die unsicheren Wahlgänge, bei denen ein(e) Abgeordnete(r) aus CVP, FDP (und BDP, die wir hier dazu nehmen) über die Klinge springen könnte:

Erstens, von der SVP herausgefordert wird die FDP namentlich in Luzern und Neuenburg. Im Tessin ist die Lega die Konkurrenz (die sich der SVP-Fraktion anschliessen würde) und in Schaffhausen ist es Thomas Minder, der im Falle einer Wahl mit einem Beitritt zur GLP liebäugelt.

Zweitens, in aussichtsreicher Lauerstellung zur CVP ist die SVP in den Kantonen Uri und im Wallis.

Drittens, auf FDP oder CVP abgesehen hat es die SVP in St. Gallen.

Viertens stehen die SP und GPS in den Kantonen Aargau und Bern auf der Angreiferseite, wobei es FDP/BDP oder SVP treffen könnte.

Damit kommt auf mindestens 9 Wahlgänge, die über die Möglichkeiten Allianzbildung im Zentrum des Ständerates entscheiden.Gegenteiliges zeichnet sich nur in Graubünden ab, wo die FDP einen Sitz der SVP erben wird.

Am Sonntag abend wird man eine erste Auslegeordnung machen können, was Sache werden könnte; höchstwahrscheinlich weiss man dann noch nicht, ob die CVP/FDP-Mehrheit kippt, denn es dürften in verschiedenen der genannten Kantone zu einem zweiten Rundgang kommen. Bei dem wird entscheidend sein, wer sich mit wem verbindet, resp. wer unter welchen Auflagen auf eine Wahl verzichtet.

Was es heisst kann, in einem Rat zu politisieren, in dem es keine starke Mitte-Allianz mehr gibt, zeigt eine Studie des Genfer Politikwissenschafters Simon Hug. Gespaltene Situationen mit einer Trennlinie zwischen CVP und FDP kommen im Nationalrat vermehrt vor als im Ständerat, sind aber nicht der Trendsetter. Häufiger – und klar zunehmend – sind Blockbildungen, die von rechts oder links ausgehen, denn es braucht drei Parteien für eine Mehrheit. Das erhöht die Chancen der Polpartei, nicht nur auffällige parteipolitische Positionen einzubringen, sondern auch mit ihnen durchzukommen.

Ob das geling, hängt aber von verschiedenen Faktoren ab: der sachpolitischen Tendenz im Zentrum einerseits, der Kompromissfähigkeit der Pole auf der anderseits. Nimmt man die letzte Legislatur als Massstab, ging die Dynamik häufig zwischen Mitte und rechts Seite aus als umgekehrt. Doch überzeichnete die SVP ihre Position bieweilen, weil ihr die Darstellung der eigenen Position wichtiger war als die Entscheidung. So war, seit den Wahlen 2007, die Mitte/Links-Allianz unter Ausschluss der SVP im Nationalrat die häufigste Konstellation in den Schlusabstimmungen des Nationalrates.

Das ist genau das Umgekehrte als das, was man bisher im Ständerat hatte. Wie gesagt, nur wenige Sitzverluste im Zentrum der kleinen Kammer entscheiden darüber.

Claude Longchamp

Die Volatilität von Schweizer Wahlen

Schweizer Wahlen galten lange als langweilig. Die beste Prognose war, es bleibt wie bisher. Dann wurde alles anders. Das hat die Wahlforschung befruchtet, wenn auch nicht einfacher gemacht. Und man fragt sich, ob das 2011 anhält oder nicht.

Das Stichwort der Parteien- und Wahlforschung zur Messung von Instabilität heisst “volatility”. Geprägt wurde es 1979 vom dänischen Politikwissenschafter Morgen Pedersen. Auf Deutsch redet man gelegentlich von Unbeständigkeit.

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Gemeint ist nicht der Anteil konstanter oder variabler Entscheidungen von Wahl zu Wahl, die ein Bürger, eine Bürgerin fällt. Da geht man davon aus, dass die durch die Parteibindung, erworben während der Sozialisation, beeinflusst wird.
Volatilität meint vielmehr die Konstanz oder Variablität der Parteien insgesamt, gemessen an den WählerInnen- oder Sitzanteilen, die aus Parlamentswahlen hervorgehen.

In der Schweiz hat sich vor allem der Lausanner Politologe Andreas Ladner mit der Unbeständigkeit im Parteiensystem auf Bundes- und Kantonsebene befasst. Auf seinen Berechnungen aufbauend, führt unser Institut regelmässig den Volatilitätsindex. Anhand von Sitzzahlen erstellt, kann er sowohl für National- wie auch Ständeratswahlen berechnet werden.

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Der Index liesst sich wie folgt: 0 beträgt der Wert, wenn sich an der Sitzverteilung gar nichts ändert; 100 wäre er, wenn nicht mehr wäre wie zuvor.

Das Ergebnis zum Schweizer Volatilitätsindex ist eindeutig. Bis 1991 waren die Wahlen in der Schweiz tatsächlich durch Beständigkeit gekennzeichnet. Seit 1991 sind sie es eindeutig nicht mehr. Das gilt, ganz generell für National- wie auch Ständeratswahlen. Mit einer Ausnahme war die Volatilität der Wahlergebnisse zum Nationalrat aber höher als die, welche sich auf den Resultaten zu den Ständeratswahlen ableiten lassen.

Im Nationalrat ist die Unbeständigkeit seit 1991 hoch, ihren bisherigen Höhepunkt (in der neueren Wahlgeschichte) erreichte sie 2007. Im Ständerat waren die Wahlen 1991 der eigentliche Bruch mit der Stabilität. Es war das letzte Mal, dass die FDP so richtig zulegen konnte, während CVP und SP an Bedeutung verloren. 2007 erhöhte sich die Stabilität wieder. Abgerutsch war damals nur noch die FDP.

Wie das 2011 aussieht, weiss man teilweise am Sonntag abend. Um 1900 liegt die erste gesamtschweizerische Hochrechnung zur Sitzverteilung und den Wählendenanteilen für den Nationalrat vor. Beim Ständerat weiss man an sich gleich viel, doch werden die ersten Wahlgänge nicht überall zu einer klaren Sitzverteilung führen. Deshalb wird man erst Ende November 2011 die Volatilitäts-Kurve für den Ständerat berechnen können.

Mindestens beim Nationalrat wird man zwei Antworten haben: Erstens, wie stark die Parteien neu in der grossen Kammer vertreten sind, und, zweitens, wie (un)beständig die Wahlentscheidung insgesamt einzustufen ist.

Claude Longchamp

Antwort an den Wahlkampfblog: Das Profil der Wahlgründe – je Partei ausgebreitet

Die mediale Logik zu den Wahlen hat diese Woche vollends umgeschlagen: Es geht nur noch ums Spekulieren. Das verkennt den Wert der Wahlforschung, auf den man wieder zurückgreifen wird, wenn die Wahlergebnisse verbindlich vorliegend. Denn dann geht es wieder um die Frage nach den Wahlgründen.

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Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Im letzten Wahlbarometer haben wir ein Profil der Parteien entwickelt, das aufzeigt, was nachweislich gewirkt hat – jedenfalls bis zum letzten Umfrage:

SVP-Wahl:
Wer die SVP wählt, macht es wegen ihrem Programm: Die Positionen in Finanz- und Migrationsfragen sind relevant. Oder anders gesagt: Themen-WählerInnen schätzen die SVP wegen ihrer restriktiven Einwanderungs- und Finanzpolitik. Die Entscheidungen sind damit nicht, wie in der Öffentlichkeit häufig angenommen, einzig eine Folge der Ausländerthemen. Sie haben auch mit dem skpetischen Staats- und Steuerverständnis der Wählenden zu tun. Der Wahlkampf kommt als Zweites hinzu. Von aussen oft kritisiert, entfaltet er nach innen die erwarteten Wirkungen. Das dritte Element, das zur Wahl der SVP führt, sind die anstehenden Bundesratswahlen. SVP-Wählende wünschen sich auf alle Fälle einen zweiten (oder dritten) Bun­desrat, sei es in einer rein bürgerlichen Regierung oder via Neubelegung der Konkordanz der grossen Parteiem. Abgerundet wird das Bild durch die klare Rechtspositionierung, die Identifizierung mit dem Parteipräsidenten oder das Misstrauen in die Institutionen. Im Vergleich zu 2007 mobilisiert dies ähnlich, wenn auch eindeutig weniger fixiert auf die Personenidentifikation, die damals via Bundesrat Blocher alles überschattete.

SP-Wahl: Nichts fürchten relevante Teile der SP-Wählerschaft so, wie einen Bundesrat, aus dem sie ausgeschlossen wären. Das ist seit dem Rücktritt von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey der wichtigste Grund, SP zu wählen. Es folgt das Programm, mit den Positionen in Fragen der öffentlichen Finanzen, der Migrationspolitik, der Umweltpolitik und der sozialen Sicherheit. Der Vorteil, der zu Beginn der Diskussion über den starken Franken und den Auswirkungen auf die Arbeitsplätze gegenüber der SP entstand, ist dagegen weitgehend verschwunden. Als nächstes folgt der eigene Wahlkampf, der eine positive Identifikation erlaubt, ergänzt durch die Positionierung der Parteien auf der Links/Rechts-Achse, der Hoffnung auf eigene Gewinne bei den Wahlen, der Identifikation mit dem Präsidenten, der Betonung solidarischer Werte und dem Einsatz für eine offene Schweiz. Dieser Mix geht etwa gleich gut auf wie jener 2007, der indessen viel stärker durch einen Anti-Blocher-Effekt geprägt war.

FDP-Wahl: Wahlberechtigte, welche die FDP wählen wollen, sind vom freisinnigen Programm überzeugt. Identifikationspunkte ergeben sich, ohne wirkliche Zuspitzung, bei Themen wie Arbeitsplätze und Wirtschaft, Umwelt, Migration, Sozialversicherungen und Gesundheitswesen. Es folgt der Wahlkampf, der den ParteigängerInnen gefällt. Mobilisiert wird die FDP-Wählerschaft, wenn sie an den eigenen Aufschwung glaubt resp. Gewinne der SVP befürchtet. Einen rein bürgerlichen Bundesrat unter Führung der SVP will man nicht, ebenso wenig wie einen ohne SVP oder unter Verlagerung eines eigenen Sitzes zur GPS. Werte wie Eigenverantwortung, Wirtschaftsorientierung und Rechtspositionierung kommen gegen den Schluss der Wirkungsfaktoren, knapp von der Identifikation mit dem eigenen Präsidenten. Damit kann man sich als liberale Partei bei Wahlen weder in der Mitte hal­ten, noch die Stammwählerschaft ernsthaft mobilisieren.

CVP-Wahl: Die Wahlwilligen der CVP identifizieren sich in erster Linie mit dem eigenen Wahlkampf. Thematisch finden sie die CVP-Familien-, -Umwelt- und -Gesundheitspolitik gut. Anders noch als vor einem Monat bietet die CVP-Wirtschaftspolitik jedoch keine wahlrelevante Identifikation mehr. Es folgt die mobilisierende Hoffnung auf eigene Gewinne, gepaart mit der Erwartung, FDP und Grüne würden einbrechen. Beim Bundesrat befördert der Kampf für den Status Quo die Wahlbereitschaft, genauso wie die Ablehnung eines Bundesrates mit Beteiligung der GPS. Der Parteipräsident als Wahlgrund folgt auch hier am Schluss. Mit diesem Profil kann man nicht zulegen, sich allenfalls aber schadlos halten.

GPS-Wahl:
Die Wahl der GPS kann man so erklären, dass der eigene Wahl­kampf gefällt, die Umweltpolitik wichtig ist, die Hoffnung auf einen eigenen Bundesrat wirkt, die Grünen dabei klar links positioniert bleiben müssen. Die Erwartung eigener Gewinne mobilisiert, verbunden mit der Erwartung, die SP verliere. Wertemässig schafft die Ökologie Verbindungen zur GPS, ganz anders als der Parteipräsident. Damit kann man sich halten, muss keine Einbrüche befürchten, kann aber auch nicht mit wirklichen Gewinnen rechnen.

GLP-Wahl:
“Kein rein bürgerlicher Bundesrat!” denken sich die GLP-Wähle­rInnen. Der Wahlkampf der neuen Partei gefällt, genauso wie die Fokussierung des Parteiprogramms auf die Umweltfrage. Weitere verallgemeinerbare Gründe die GLP zu wählen, lassen sich nicht benennen. Immerhin, das reicht, um zu gewinnen!

BDP-Wahl:
Schliesslich die BDP, wo sich alles um den Bundesrat dreht. Die Angst vor einem bürgerlichen Bundesrat unter Führung der SVP bewegt am meisten, gefolgt von allen anderen Varianten ohne Eveline Widmer-Schlumpf. Darüber hinaus schafft der eigene Wahlkampf positive Identifikation. Die Hoffnung, die polarisierenden Parteien würden geschwächt, beflügelt den Mix, die BDP zu wählen – die voraussichtlich zweite Wahlsiegerin.

Claude Longchamp