Ständeratswahlen in der Schweiz: Vorschläge zur Analyse zwischen Theorie und Praxis

Das Blockseminar zur Analyse von Ständeratswahlen in der Schweiz an der Universität St. Gallen ist vorbei. Ein ordnender Rückblick.

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Wird am 23. Oktober 2011 neu bestellt: der Ständerat der Schweiz, die zweite, gleichberechtigte Kammer der Bundesversammlung

18 Lektionen in 3 Tagen sind eine Herausforderung. Mit dem Blockseminar in der ostschweizer Metropole erspare ich mir viel Reisezeit zwischen Bern und St.Gallen. Die Energie braucht man aber, um während den Verhandlungen permanent präsent zu sein. Meiner Meinung nach wirkte sich diese Veranstaltungsform vorteilhaft auf das Lernklima aus. Denn so vertieft kann man eine Thema während den üblichen Wochensitzung nicht verarbeiten. Dafür ist die Distanz zu den Inputs grösser, wenn man regelmässige Abstände zwischen den Sitzungen hat.

Aufschlussreich waren die drei Referate “von aussen”: Regierungsrätin Karin Keller-Sutter reflektierte über den Mainstream in der st. gallischen Politik, den sie gerne in Bern vertreten würde. Aus ihrer Warte sind erfolgreiche Kampagnen bürgerInnen-nah, dezentral, authentisch – und ohne übergeordnete parteipolitische Absichten. Auch TV-Journalist Hanspeter Trütsch betonte die Vielfalt der Schweiz, wo jeder Kanton anders als der andere ist, weshalb auch Wahlkampfkulturen divers blieben. Die wachsenden Rolle der Medien in der Politikvermittlung führe zu einer Transformation von Wahlkämpfen. Erfolgreichen Politikerprofile bleiben sich ähnlich, es wechselten aber die Köpfe, Auftrittsstile und Kommunikationskanäle. Hermann Strittmatter wurde seinem Image als Exzentriker unter den Schweizer Werbern vollumfänglich gerecht. Erfolg im urbanen Raum, dozierte er, hänge davon ab, im Kommunikationswirrwarr nicht unterzugehen. Werbung müsse auffallen, was Kreativität verlange. Von Parteien erwartet einen Kompatibilitätstest, bevor sie KandidatInnen nominierten. Gewinne werde schliesslich der oder die, welche(r) keine Fehler mache, indem er oder sie in der Hektik des Wahlkampfes Ruhe bewahre.

Der systematische Teil des Blockseminars beschäftigte sich mit Wahlkampftheorien. Allen bekannt sind die Annahmen der rationalen Wahl. Sie haben sich für die Analyse der kurzfristigen Programmwahl durch die einzelne BürgerIn bewährt. Doch sind sie kaum geeignet, die Konstanten in Wahlergebnissen zu untersuchen, und sie eigenen sich auch nicht gesellschaftlichen Strukturen und ihren Wandel in Wahlresultaten zu bestimmen. Skepsis herrscht auch, dass man damit Personenwahlen treffend untersuchen kann. Das Spannendste in der Forschung findet aktuell dort statt, wo das Handeln der Akteure im Schnittfeld von KandidatIn, Partei und Medien analyisert wird.

Konflikttheorien, welche die Transformation des postindustriellen Staates erhellen, wie das Herbert Kitschelt geleistet hat, geben hier den Rahmen ab. Stefan Dahlems grundlegende Uebersetzung der sozialwissenschaftlichen Wahltheorie in die Mediengesellschaft verdeutlicht, wie sich die Beziehungen zwischen Wählenden und Gewählten verändern. Schliesslich geht es in Wahlanalysen seit langem um das Marketing von Parteien und KandidatInnen, welche eingesetzt werden, um den Wahlerfolg erhöhen.

Drei Thesen haben der gegenwärtigen politik- und medienwissenschaftlichen Forschung haben uns inspiriert: uum einen die Medialisierungsthesen, wie sie von Barbara Pfetsch für die Erforschung von Wahlkämpfen vorgeschlagen wurden; sodann die Personalisierungsthesen, die namentlich Skeptiker der Demokratieentwicklung wie Colin Crouch favorisiert werden; schliesslich die Thesen der Modernisierung von Wahlkämpfen, die namentlich Pippa Norris eingebracht hat.

Formuliert wurden diverse studentsiche Forschungsarbeiten, die im Schnittfeld von Thesen, Daten und Ergebnissen mit Praxisrelevanz diskutiert wurden. So fragt man beispielsweise nach neuen Stadt/Land-Konflikten in Ständeratswahlen, die insbesondere die Wahlchancen von linken und rechten Kandidaturen in den Sprachregionen beeinflussen und genutzt werden können, um die Chancen einer Wahl zu erhöhen. Mehr wissen will man exemplarisch über Medienstrategien im urbanen Raum, namentlich in Zürich und Genf, wenn es um PolitikerInnen-Vermittlung geht. Dazu werden typologisch ausgewählte Medien untersucht. Und man interessiert sich ausdrücklich für Möglichkeiten und Grenzen der Personalisierung von Ständeratsbewerbungen, die zwischen staatstragendem und parteiischem Auftritt der BewerberInnen beurteilt werden sollen. Denn bei Nationalratswahlen weiss man, was gegenwärtig zieht, und es ist gut, dass wir mehr erfahren, ob sich die Erkenntisse dieser Wahlanalyse auch für die Untersuchung von Ständeratswahlen eigenen.

Ich bin gespannt, zu welchen Schlüssen die studentischen Forschungsvorhaben führen, und ob wir danach mehr wissen über das Stiefkind der Schweizer Wahlforschung.

Claude Longchamp

Von wem die Zürcher RegierungsrätInnen gewählt wurden

Regierungsratswahlen seien Personenwahl, sagt der Volksmund. Ohne Hausmacht kein Erfolg in Majorzwahlen, kontert das Statistikamt des Kantons Zürich.

Gut eine Woche nach den Zürcher Regierungsratswahlen legt Peter Moser, Politanalyst beim Statistischen Amt des Kantons, eine bemerkenswerte Auswertung der zurückliegenden Volksentscheidung vor. Drei Ergebnisse sind interessant:

Zuerst hat Moser geschätzt, wieviele KandidatInnen die Parteiwählerschaft im Schnitt unterstützt haben. Sein Ergebnis: Die WählerInnen der Polparteien wählen nach Parteien oder Blöcken, jene im Zentrum stimmen für Personen. Das hat Konsequenzen für die Zahl ausgefüllter Linien. Die WählerInnen der SVP setzten 57 Prozent ihrer sieben Stimmen, die sie hatten, nicht ein. Konkret heisst das, sie füllte im Mittel drei Linien aus, und sie liessen im Schnitt vier frei. Das findet sich bei der SP fast unverändert, auch das blieben 55 Prozent der Linie unbesetzt. Das Gegenteil findet sich bei der GLP, wo man 81 Prozent der denkbaren Personenstimmen abgab. Aehnliches findet man bei den anderen Kleinparteien CVP (77%) und EVP (73%). Die Werte für die FDP (65%) und Grünen (60%) liegen dazwischen.

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Dann ging es dem Statistiker darum zu erfahren, wie stark die KandidatInnen von den Wählerschaft ihrer Parteien resp. anderer profitierten. Auch hier fällt zunächst die SVP auf. Kandidat Kägi macht 59 Prozent seiner Stimmen bei den eigenen Wählerschaft, bei Stocker sind es 58 Prozent. Sie sind die beiden Regierungsräte, die mehrheitlich von der eigenen Partei gewählt wurden. Das hat zunächst mit der Stärke der SVP zu tun, dann aber auch mit ihrer Position. Denn nur gerade bei der FDP machen sie zusätzlich Stimmen erwähnenswerte Masse. Die beiden SP-Regierungsräte erhielten je 37 Prozent ihrer Stimmen aus der eigenen Partei. Relevant Zusatzstimmen holten sie bei Grünen, GLP und eingeschränkt auch FDP. Das war bei Graf von den Grünen recht ähnlich; 31 von 100 Stimmen kamen von der GP, der Rest von SP, GLP und FDP. Am geringsten unter den Gewählten hingen die FDP-RegierungsrätInnen von ihrer Partei ab. 29 resp. 28 Prozent betragen die Vergleichswerte. Namhaft sind die Anteil, die sie von der SVP und der GLP erhielten. Beim abgewählten CVP-Regierungsrat schliesslich kann man sagen, dass er von überall Stimmen machten, aber von niemanden wirklich viel.

Schliesslich gibt das Statistische Amt eine Folgerung zum Zusammenhang zwischen Wahlrecht und erfolgreichem PolitikerInnen-Typ wieder. Die erste Feststellung überrascht nicht. Es sind gemässigte PolitikerInnen, die reüssieren. Das heisst nicht, dass das das einzige Erfolgrezept wäre. Denn die Stärke der eigenen Partei resp. Lagers bestimmt die Möglichkeit, sich auch klarer rechts oder links zu platzieren. Man kann noch weiter gehen und sagen, ohne eigene Hausmacht von mindestens 10 Prozent WählerInnen ist die Wahl ganz vom Wohlwollen anderer angewiesen. Das nützt, wie das Beispiel Holenstein zeigt, nicht einmal mehr eine Positionierung in der Mitte etwas, wenn der Mix nicht aufgeht.
Es freut mich, dass Zürich nun zum zweiten Mal Personenwahlen parteipolitisch untersucht hat. Denn es hilft, die Personen- und Parteieffekte gesicherter abschätzen zu können. Es freut mich auch, dass Peter Moser kühn genug bliebt, die übliche Aggregatsdatenanalyse weiterentwickelt einzuschätzen, denn einige seiner Kollegen Zweifeln massiv daran. Selber zähle ich mich dazu, weiss aber, wie schnell man angegriffen wird, wenn man Auswertung wie die hier kommentierte macht.

Claude Longchamp

Kanton Luzern: Wahlbefragungen und Wahlbörsen im Vergleich.

Die Wahlen in Luzern sind ausgezählt – ein guter Moment, Wahlumfragen und Wahlbörsen vor der Wahl im Vergleich zu evaluieren.

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Gemäss Statistischem Amt des Kantons Luzern gewinnt die GLP (5,9%/+5,9 Prozentpunkte) bei den Parlamentswahlen am meisten, gefolgt von der SVP (22,3%/+3,2%), der BDP (1,7%/+1,7%), der GP (8,7%/+1,4%) und der SP (11,0%/+0,3%). Verliererin sind die CVP (31,3/-6,0%) und die FDP (18,9/-4,2%).

Die Wahlbefragung der Neuen Luzerner Zeitung kam der Sache beschränkt nahe. Falsch ist kein Trend. Verkannt wurde aber der Gewinn der SVP, die gemäss Umfrage wäre sie stabil geblieben. Verschätzt hat man sich auch bei der FDP, die mehr als erwartet verlor, bei der SP, die wenig gewann, und bei der GLP die mehr gewann.

Es kann gut sein, dass letzteres einen inneren Zusammenhang hat: Nachdem die GLP in Basellschaft und Zürich zulegte und zum vorrangigen Medienthema wurde, könnten potenzielle FDP- und SP-WählerInnen geschwenkt sein. Bei der SVP dürfte eine andere Ursachenanalyse zutreffen, denn bei ihr gibt es, vor allem auf dem Land einen stillschweigenden Wechsel gerade aus CVP-Kreisen, den man kaschiert.

Die mittlere Abweichung zwischen Resultate und Befragung betrug bei der zweiten Welle 1,54 Prozentpunkte je Partei. Das ist mehr als bei der ersten, wo der Vergleichswert bei 1,3 lag. Das ist unüblich. Es spricht dafür, dass sich verschiedene Probleme gemischt haben dürften.

Den Vergleich nicht scheuen muss die Wahlbörse von www.wahlfieber.at. Nimmt man hier den Tag vor der Publikation der Umfrage als Massstab (26.3.) betrug die Abweichung zum Ergebnis im Mittel 1,34 Prozentpunkte pro Partei. Die grösste Abweichung gibt es bei der FDP, für die die Wettgemeinschaft mehr Verluste erwartete, als es schliesslich der Fall war (2.2 Prozentpunkte Abweichung). Um je 2 Zähler überschätzt wurden dagegen GLP und GP. Damit war die Wahlbörse trendiger als die Wahlbefragung. Wo sich was an Veränderung abzeichnet, übertrieb man.

Bis am Schluss legte sich das noch ein wenig. Der Prognosefehler am Vortag der Wahl reduzierte sich auf weniger als 0,8 Prozentpunkte Abweichung.

Das führt mich zu folgenden Arbeitshypothesen:

1. Wahlbefragungen und Wahlbörsen interagieren. Wahlbörsen richten sich in einer frühen Phase an Wahlbefragungen aus; sie können jedoch auch zur Evaluierung der Sicherheit von Ergebnisse in Wahlbefragungen verwendet werden, insbesondere, wo man vergessene oder verschwiegene Antworten in Umfragen vermuten kann. Im aktuellen Fall betrifft das die SVP.
2. Trends in Wahlbörsen erhellen das Bild der Entwicklungen in der Zeit, während der keine Befragungen mehr gemacht werden dürfen. Im aktuellen Fall betrifft das sie Sammlung hin zur GLP.

Claude Longchamp

Auf zur Analyse von Ständeratswahlen

Diese Woche findet mein Praxiskurs an der HSG zur “Analyse von Ständeratswahlen” statt. Besser hätte man weder den Zeitpunkt noch den Ort wählen können, denn in St. Gallen kommt es im Herbst zum wohl spektakulärsten Showdown bei diesen Wahlen.

In nächsten Semester beschäftige ich mich mit Ständeratswahlen. Das schwor ich mir, als ich die Forschungsberichte zu den Selects-Projekten sah, die sich ausschliesslich auf die Nationalratswahlen konzentrierten. Nun ist es soweit: vom Mittwoch bis Freitag findet mein Blockseminar hierzu statt.

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KandidatInnen bei der diesjährigen Ständeratswahl in St. Gallen sind Toni Brunner (SVP), Karin Keller-Sutter (FDP), Paul Rechsteiner (SP) und Eugen David (bisher, CVP)

Der Praxisbezug wird in verschiedenster Hinsicht gewährleistet: Erstens durch die Aktualität der Ständeratswahlen 2011. Zweitens durch die Kontroverse über die Funktion des Ständerats als Vertretung der Kantone oder als Hort der Parteiinteressen. Und drittens gilt es, angesichts des Fehlens einer Theorie von Ständeratswahlentscheidungen nötig, induktiv vorzugehen, das heisst, den Stand der Dinge und ihre Veränderung zu beobachten.

Gewährleistet wurde der Praxisbezug auch durch den Beizug Externer. Das Eröffnungsreferat hält die St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter, nebst Eugen David, Paul Rechsteiner und Toni Brunner eine der vier prominenten KandidatInnen für den Ständerat aus St. Gallen. Am zweiten Tag beleuchtet SF-Bundeshausredaktor Hanspeter Trütsch, weshalb sich selbst nationale Medien neuerdings für exemplarische Ständeratswahlen interessieren. Am dritten Tag lässt sich der Zürcher Werber Hermann Strittmatter, erfolgreicher Campaigner für verschiedene linke KandidatInnen bei Majorzwahlen, in die Karten schauen.

Ziel des Blockkurses ist es, eine Gesamtsicht zu bekommen, wie ein Modell zur Erklärung von Ständeratswahlen aussehen könnte. Angesichts des Forschungsstandes hierzu sind rasche Verbesserungen zu erwarten. Denn bis heute gilt, dass der common sense nicht nur die Wahlvorbereitungen in die kleine Kammer regiert, sondern auch die Analysen des Geschehens rund um den Ständerat.

Die Studierenden präsentieren diese ihre Forschungsvorhaben dazu, die sich in der ersten Semsterhälfte erarbeitet haben. Ich wiederum werde versuchen, das Wissen der Politik- und Medienforschung zu Personenwahlen in der Mediengesellschaft einzubringen. Ich bin gespannt, zu welchen Schlüssen wir kommen. Ich freue mich, wenn der Praxiskurs Resultate erbringt, die man die die Analyse der kommenden Ständeratswahlen einfliessen lassen kann.

Claude Longchamp

Kanton Luzern: Stabilität in Regierung, Einbruch des Zentrums im Parlament

Nun liegen die vorläufig amtlichen Endergebnisse im Kanton Luzern vor: In der Regierung sieht es nach einer parteipolitisch stabilen Zusammensetzung aus, selbst wenn ein zweiter Wahlgang nötig wird; im Grossen Rat legen GLP, SVP und SP zu, derweil CVP und FDP einbrechen.

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7 ihrer 46 Parlamentssitze verliert die CVP gemäss vorläufig amtlichen Ergebnissen. 6 von 29 sind es bei der FDP. Rechts von CVP/FDP legt die SVP 4 Sitze zu, während die BDP im Kanton Luzern leer ausgeht. Links von Zentrum zieht die GLP mit gleich 6 Sitzen ins Parlament ein, und es gewinnen die SP/Juso mit 3 zusätzlichen Mandaten, während die GP unverändert bleibt.

Parteistärken lassen sich in Luzern am Wahltag nur schwer bestimmen, denn selbst die offiziellen Prozentangaben stellen nur auf Sitzanteile ab. Deshalb weiss man nicht, wie stark die BDP bei dieser Wahl war.
Dennoch zeigt die Sitzverteilung eine Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Wahlkreisen. In den ruralen Wahlkreisen wie Entlebuch und Willisau wählt man konservativ; da liegt die CVP noch knapp vor SVP und FDP, während die Linken kaum Stimmen machen. Im Wahlkreis Luzern hat sich die SP an die Spitze der Parteien gesetzt, und rotgrüne Parteien kommen auf 12 Sitze, nur noch ein Mandat hinter den bürgerlichen Parteien. IN Luzern-Land, Hochdorf und Sursee liegen CVP, SVP und FDP vorne, es legen aber die Parteien mitte/links leicht zu.

Ueber Stadt-Land-Unterschiede hinweg haben Frauen Sitze gut gemacht. 6 PolitikerInnen mehr zählt der neue Grosse Rat. 31 Prozent beträgt der Anteil weiblicher Mitglieder neu. Am höchsten ist er bei der SP, am tiefsten bei der SVP.

Dass die grüne Euphorie nach den Erfolgen in Basellandschaft und Zürich nicht in den Himmel wächst, zeigt das Resultat der Regierungsratswahlen. Adrian Borgula, der Kandidat der Grünen, liegt auf dem 8. und letzten Platz. 7. und vorletzter wird der SVP-Bewerber Urs Dickerhof. Die Rückkehr in die Luzerner Regierung fällt der Partei schwer – selbst wenn man Sitze gewinnt, bleibt man ohne Partner isoliert.
Vorne sind die drei Bisherigen, wobei Guido Graf von der CVP über dem absoluten Mehr liegt. Hinter ihm reihen sich Yvonne Schärli von der SP und der parteilose Marcel Schwerzmann ein. Neu in die Luzerner Kantonsregierung einziehen könnten Robert Küng von der FDP und Reto Wyss von der CVP; letzter liegt nur knapp vor Esther Schönenberger, ebenfalls CVP. Entscheiden wird ein zweiter Wahlgang.

Die Wahlbeteiligung ist so tief wie noch nie bei Luzerner Wahlen. Der vorläufig amtliche Wert liegt bei 43,5 Prozent – nochmals weniger als vor vier Jahren. Der flaue Wahlkampf, indem es vor allem die Regierungszusammensetzung, weniger um das Parteienprofil ging, wird als Hauptgrund angesehen. Anders als in Zürich gab es in der Innerschweiz auch kaum eine medial angeheizte Diskussion über einen Fukushima-Effekte. Sie wäre auch kaum angebracht gewesen. Darüber hinaus kann man sagen: Seit 1991 sinkt die Wahlbeteiligung in Luzern (ausser dem Zwischenhoch 1999), was mit der geringeren Bindungsfähigkeit der politischen Parteien zu tun hat.

Die Bilanz zu Luzern ist einfach: Wie im Kanton Zürich ist die Schwächung des traditionellen Zentrums das eigentiche Charakteristikum der Wahl. Wie in Baselland und Zürich profitiert die GLP davon, anders in den beiden anderen jüngsten Wahlen kann die BDP in Luzern nicht punkten. Das Luzerner Parlament wird polarisierter sein, denn auch SVP und SP legten zu. Damit zeigt sich im Wahlergebnis ein Mix aus Umgruppierung der Mitte und Polarisierung zu Parteien rechts und links.

Claude Longchamp

Meine drei Bilder zu den Parlamentswahlen im Herbst

Jenseits von Zahlen über Parteistärken in Kanton, Umfragen und Wahlbörsen: Ich sehe drei Perspektiven, wie die Parlamentswahlen im Herbst ausgehen könnten.

Tagesschau vom 10.04.2011

Lange war es einfach, das Grundmuster Schweizer Parlamentswahlen vorherzusehen. Es dominierte die Polarisierung zwischen rechten und linken Parteien. 2007 stimmte das so nicht ganz: Es legten nur noch SVP und GP zu, während die SP verlor. Dafür gewan die CVP ein wenig, und mit der glp etablierte sich gar eine neue Partei in ihrem Umfeld.

Perspektive 1: Umgruppierung der Mitte

Das ist nach den Zürcher Wahlen die naheliegendste Perspektive: Die Polarisierung ist gestoppt; die Veränderungen finden im Zentrum statt. Rechte und linke Parteie wachsen nicht mehr, dafür haben neue Kräfte im Zentrum die grösste Chancen. Sie nehmen den traditionellen Parteien enttäuschte WählerInnen weg. Zu relevanten Effekten der Neumobilisierung kommt es nicht. Polarisierende Themen gibt es kaum, herausragende Kommunikatoren, die den Wahlkampf aufmischen würden, ebenfalls nicht. Es dominiert das Klein-Klein der Revialitäten an den Parteigrenzen. Die Medien verhalten sich insgesamt neutral; sie verstehen sich als Plattform für alle, vor allem für eingemittete Kräfte.

Perspektive 2: Verstärkung der Pole
Nationale Wahlen zeichnen sich, anders als kantonale durch Polarisierungen entlang von Streifragen ab. Sie lancieren den Wahlkampf, zwingen zu Stellungnahmen, die personalisiert kommuniziert werden. Medial kommt an, wer sich am klarsten positioniert und eine Alternative zum politischen Gegner formuliert. Stilmässig dominiert die Abgrenzung; es kommt zu verbreitetem negative campaigning. Das erschwert der Mitte das Leben, deren Parteien am äusseren Rand Wählende verlieren. Zudem nehmen in beschränktem Masse Neuwählende teil, welche ebenfalls die Pole verstärken. Diese müssen aber bei jeder Aktion damit rechnen, nicht nur sich zu mobilisieren, sondern auch die Gegenseite, sodass am Ende rechte und linke Parteien gewinnen, das Zentrum verliert.

Perspektive 3: Sieg der SVP

Das ist die einfachste Perspektive. Es gewinnt nur eine Partei, während sich die anderen halten oder verlieren. Hautpgrund: Nicht das Wechselwählen entscheidet, sondern die Mobilisierung ist massgeblich. Und auf die kann nur eine Partei relevant setzen; die SV. Denn nur sie hat sich jahrelang in der Mobilisierung geübt. Ihr geht es dabei gar nicht mehr um einen bestimmten politischen Gegner, sondern um die anderen, die das verhasste System repräsentieren. Vor Augen hat die Partei bisherige Nichtwählende auf der rechten Seite des Spektrums, Misstrauische, die eine Abkehr von der Konkordanz, eine Regierung unter Führung der SVP wollen. Die Partei setzt ganz auf eine erhöhte Beteiligung, die ihr nützt, wenn sie in ihrem Potenzial mehr wächst als in allen anderen. Die SVP setzt deshalb voll und ganz auf Identifikation mit Personen wie Christoph Blocher, und macht aus Ueli Maurer einen Bundesrat im Märtyrium.

Eine Prognose ist das nicht; jedoch zeichnen sich drei Szenarien ab, deren Eintretenswahrscheinlichkeit nun von Woche zu Woche analysiert werden kann. Die Implikationen auf die Parteistärken sind ja mitkommuniziert.

Claude Longchamp

Zoonpoliticon als Teil der Medienkommunikation

Vor Kurzem wurde mein Blog mit andern im Rahmen einer Bachelor-Arbeit der Hochschule für Wirtschaft in Zürich untersucht. Kaum ein Beitrag selbst etablierter Politblogs in der Schweiz werde in den Massenmedien zitiert, war das Fazit. Ein Einblick in den zoonpoliticon als Teil der Medienkommunikation aus meiner Sicht.

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Idealisiertes Verhältnis von Blogkommunikation und massenmedialer Kommunikation (Quelle: Zerfass 2005)

Man kann die Erwartungshaltung des Studenten kritisieren. Denn Blogs haben drei grundlegende Funktionen:
. Sie dienen der eigenen Identitätsvergewisserung: Was von allem, das ich in meinem Alltag erfahre, ist für mich wichtig?
. Sie sind ein eigene Form der Informationsverarbeitung: Was, von dem, das mir wichtig ist, will ich elektronisch festhalten?
. Und sie sind eine Form der Beziehungspflege: Wen will informieren, von wem möchte ich Reaktionen, und mit wem möchte in einen Dialog treten?

Erst da geht es um die Relation zu den Massenmedien. Blog sind dabei, wie es der deutsche Mediensoziologe Jan Schmidt sagt, personalisierte Oeffentlichkeiten. Das Spektrum der Beiträge aus der Blogosphäre ist breit: Es reicht von speziellen Erlebnissen im Sinne des Bürgerjournalismus bis hin zum Fachwissen, das man als Experte einbringen will.

Man kann die Erwartungshaltung des jungen Forschers aus Zürich aber auch als Ansporn sehen: Mir war schon länger klar, dass verschiedene Medienschaffende meine Blogs (diese und den Stadtwanderer) mehr oder minder regelmässig konsultieren. Gelegentlich entdeckte ich Themen wieder, die ich als Erster aufgriff, manchmal fanden sich Argumentationsweisen, die ähnlicher nicht sein konnten, und gelegentlich las ich eine Pointe, die ich kommuniziert hatte, andernorts erneut. Dabei gilt: Verbereitet werden ist wichtiger als zitiert werden.

Nun fällt auf, dass zoonpoliticon recht häufig expliziert zitiert. Nicht nur durch andere Blogger, bisweilen auch durch KolumnistInnen, und seit jüngstem auch durch JournalistInnen. Zoonpoliticon wird leider erst selten erwähnt, dass es mein Blog sei, dagegen schon. Das ist diese Woche gleich mehrfach der Fall gewesen: Zum Beispiel hier auf newsnetz, bei 20 Minuten oder bei SF. In keinem Fall habe ich mit den Schreibenden gesprochen.

Zunächst bedanke ich mich bei meinen Kommunikationspartnern. Eine Brücke zu schlagen zwischen politikwissenschaftlichen Einsichten, Forschungsresultaten und Positionen von Kommunikatoren einerseits, den Zielgruppen der wissenschaftlichen Debatten anderseits war schon immer das Ziel dieses Blogs. Studierende, KollegInnen an den Universitäten, OeffentlichkeitarbeiterInnen in Parteien oder Firmen, und last but least Medienschaffende gehören selbstredend dazu.

Ueber die Gründe, kann man vorerst nur spekulieren. Aggregatoren zwischen Blogosphäre und Massenmedien wie der leider eingeschlafene “Mokka-Café” beförder(te)n die Sache offensichtlich. Sicher sind auf Hinweise auf andern Blogs, vor allem im Umfeld von kritischen PR-Beratern wie Bernet oder Balsiger reputationsfördernd. Schliesslich muss jeder und jede, der/die blogt, auch für sich werben. Plausibel sind für Nachahmer scheinen mir die folgenden Ursachen: die Prominenz des Absenders, eine thematische Spezialisierung, das Fachwissen sind wohl grundlegende Voraussetzungen. Hinzu kommen der Bezug zu Mediendiskussion, die Aktualität der Beiträge und die Klarheit zentraler Informationen oder Aussagen.

Generell kann man sagen, dass Blogs, die mit Massenmedien in Verbindung stehen, einen doppelten Bezug haben. Sie können vorausgehen, selten genug bei Themen, häufiger bei Argumenten, ganz ordentlich bei Studienergebnissen. Da haben sie eine allgemeinen Zitierpotenizial. Sie sind aber auch ein Reflexionstool zu massenmedial Publiziertem, um zu verstärken, zu kritisieren, oder Informationen weiter zu führen. Das haben sie vielleicht weniger Zitierpotenzial, stehen aber in einem Dialog zu Massenmedien, wenn sie von diesen akzeptiert. Das Zitieren ist ein Beleg dafür.

Claude Longchamp

VOX-Analyse zur Waffeninitiative: von der Sach- zur Wertfrage

Die heute erscheinende VOX-Analyse zur Volksabstimmung über die Waffeninitiative bestätigt den erkannten Parteienkonflikt in der Sachfrage. Sie macht auch auf die Bedeutung der Mobilisierung von gesellschaftlichen Wertekonflikten bei Volksabstimmungen aufmerksam.

Tagesschau vom 08.04.2011

Das Ergebnis zur Volksabstimmung über die Waffen-Initiative vom 13. Februar 2011 war recht klar: 56 Prozent lehnten das SP-Begehren ab. Wer der SVP nahe stand, war mit einer Wahrscheinlichkeit von 93 Prozent gegen die Waffeninitiative; wer in der Regel für die GPS votierte mit einer Probabilität von 89 Prozent dafür. Mehrheitlich Ja sagten die SP-Leute, mehrheitlich Nein die SympathisantInnen von FDP und CVP. Die Geschlossenheit war aber geringer als an den Polen. Das zeigt die VOX-Analyse, basierend auf einer Nachbefragung von gut 1500 stimmberechtigten Personen unseres Institut; ausgewertet wurden die Daten durch ein Team unter der Leitung von Politikwissenschafter Pascal Sciarini.

Der Bericht der Uni Genf legt nahe, nicht nur von einer konkreten Sachfrage auszugehen, sondern von einem tieferliegenden Wertekonflikt.

Stark zum Tragen im Prozess der Meinungsbildung kam die Frage, was für eine Schweiz man wolle: eine traditionelle, die sich auf sich selber bezieht, wie die politische Auslegeordnung der Werthaltung ist, oder eine moderne und offene, welche sich als Teil der westlichen Gesellschaft definiert, und sich auch an ihren Standards orientiert, prägten die Entscheidungen zur Waffeninitiative nachhaltig. Damit nicht genug: Wer eine Schweiz mit Vorrechten für die Schweizer will, wer eine starke Armee befürwortet, war in erhöhtem Masse dagegen, und umgekehrt. Oder anders gesagt: Die Vorstellungen der Wunschschweiz sind in einem relevanten Masse politisierbar.

Seit 1 bis 2 Jahren ist das zu einer der wichtigsten, wenn auch nicht einzigen Konfliktlinie bei Schweizer Volksabstimmungen geworden. Die VOX-Analyse zeigt nun, wie diese im konkreten Abstimmungsfall mobilsiert wird: Wer ein Gewehr zu Hause hat, wollte das in seiner Mehrheit auch in Zukunft behalten können. Und wer darüber hinaus in einem Schützenverein ist, war hochgradig motiviert, diese Tradition fortsetzen zu können. Die Kampagnen der Gegnerschaft setzte voll auf dieses Potenzial – und gewann damit. Es gelang ihr in der Polarisierung, die Beteiligung ihrer Potenziale zu befördern. Insbesondere die Mitglieder von Schiessvereinen wurde im Abstimmungskampf weit über das übliche Mass hinaus zu einer Teilnahme motiviert. Besonders bemerkenswert: Diese Motivierung geschah nicht nur bei den Aktiven. Erfasst wurden auch Passivmitglieder, ja selbst die SympathisantInnen von Schützenvereinen waren zahlreich als das Mittel an der Entscheidung beteiligt.

Ergebnisse sind Ergebnisse. Ihre Analyse ist keine Relativierung. Sie ist der Versuch, nachvollziehbar aufzuzeigen, wie Entscheidungen entstehen. Diejenige zur Waffen-Initiative oszillierte, von der Sach- zur Wertfrage. Die Analyse der Meinungsbildung, wie sie erstmals von Paul Lazarsfeld erarbeitet worden ist, kennt diesen Typ seit mehr als 60 Jahren. “Aktualisierung” wird er genannt. Das meint, dass mit einem Abstimmungskampagne ganz bewusst ziemlich konstante, tiefliegende Prädispositionen angesprochen werden, die im Zusammenhang mit eine Sachfrage aktualisiert werden, um sie zur Entscheidungsgrundlage zu machen. Theoretisch ist das Konzept solcher Kampagnen recht einfach; praktisch muss es zum Funktionieren gebracht werden, was nicht immer so schön gelingt wie diesmal.

Claude Longchamp

Warum Wahlbefragungen Sinn machen!

Sicher, es gibt Einfacheres als an der Schwelle zum Wahlkampf 2011 Wahlumfragen zu empfehlen. Ich mache es an den heutigen 3. Aarauer Demokratietagen gerade deshalb. Mit der Absicht, den Blick für Stärken und Schwächen von Tools in Wahlkämpfen zu schärfen.

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Wahlbefragung zeichnen ein Bild der politischen Schweiz – und sind damit mehr als Prognosen.

Die 10 letzten Anfrage, die ich in Sachen Wahlen 2011 von Medienschaffenden, PR-Agenturen und politischen Parteien erhalten habe, lauten zusammengefasst:

. Wie wählt der Mittelstand?
. Wann entscheiden sich die Wählenden verbindlich?
. Hat die BDP ihre WählerInnen eher von der SVP oder von FDP/CVP?
. Beteiligen sich Frauen immer noch weniger an Wahlen als Männer?
. Wie gross ist die Internetnutzung in politischen Kampagnen?
. Welche Themen kommen bei der Bürgerschaft an, welche nicht?
. Stimmen und Wählen AuslandschweizerInnen anders als InlandschweizerInnen?
. Wer wählt nicht?
. Ist Bäumle für die WählerInnen sympathisch?
. Haben Promi mehr oder weniger Wahlchancen?

Was hat sich in den letzten 20 Jahren bei Schweizer Wahlen geändert?

Zwei konnte ich nicht beamnworten: Ob es einen Unterschied zwischen Wählenden im In- und Ausland gibt, kann man nicht beantworten, weil man aus Datenschutzgründen keinen Zugang zu den Adressen der politisch eingeschriebenen AuslandschweizerInnen bekommt, und ob Bäumle im Wahlvolk ankommt oder nicht, weil wir das noch nie überprüft haben. Ob Promis mehr oder weniger Wahlchancen haben als Normalo, kann man in Umrissen auch mit anderen als Umfragedaten beantworten. Der Rest ist typisch demoskopischer Alltag.

Die Nachfrage nach teilnahme- und parteirelevanten Informationen aus BürgerInnen-Sicht an unserem kommt daher, dass die politische Statistik in der Schweiz in Vielem unterentwickelt ist. Manchmal ist es ein einfaches Interesse, das zu Anfragen beim gfs führt. Bisweilen sind es SchülerInnen und StudentInnen, die sich ein realistisches Bild der Schweizer Wählerin, des Schweizer Wählers verschaffen müssen. Oder es besteht ein professioneller Bedarf, möglichst präzisere Entscheidungsgrundlagen: Wer Kampagnen führt, will wissen, was das Potenzial seiner Aktion ist, welche Gruppen man auf der sicheren Seite hat, und wo noch verbreitete Unsicherheit besteht.

Erfahrungsgemäss gibt es drei Möglichkeiten, zu relevanten Antworten zu kommen:

. Man unterhält sich mit seinen peers, Arbeitskollegen oder im Familienkreis, und man macht sich so ein Bild, was im nahen Umfeld Sache ist.Vorteil: hohe Authentizität; Nachteil: die Antworten hängen von der eigenen gesellschaftlichen Stellung ab.
. Man liesst Zeitungen aufmerksam, um mehr über seine Umwelt zu erfahren: Vorteil: Erweiterung des Gesichtsfeldes; Nachteil: immer mehr Trendiges, immer weniger Gesichertes.
. Man macht es so wie in der Sozialforschung, greif auf Studienmaterial zurück: Vorteil: geprüfte Information; Nachteil: aktualisiert nicht immer verfügbar.

Mein Bild der Politik mache ich mir immer als Mix aus den drei Informationsquellen: Was ich den Massenmedien entnehme, nährt meine Fragen. Was ich in Studien finde, revidiert vorläufige Antowroten oder sichert sie. Was ich von letzterem in meinem Alltag wieder finde, ist für mich veranschaulicht.

Genau das zu tun empfehle ich allen, die Wahlbefragungen für sich nutzen wollen. Sie sind ein Teil der Virtualität von heute, lassen aber Bezüge zur Realität herstellen. Man nimmt sie über Medien zur Kenntnis, widersprechen lieb gewordenen Medieninterpretation jedoch häufig.

Was mich immer wieder wundert, wenn Medienschaffende uns kontaktieren und wenn wir ihre Berichte lesen: Die Neugier nach Ergebnissen in Recherchegesprächen ist häufig breit. Die Publikationen focussieren dann meist eine Frage: Sind die Prognosen richtig oder falsch? Den Rest verwendet man am liebsten ohne Quellenangaben in den eigenen Berichten.

Dies Verengung beeinflusst sogar die Fragestellungen, die man für Referate an wissenschaftlichen Tagung gestellt bekommt. So auch für meinen Beitrag in Aarau. Ich will mich dem weder entziehen, noch dabei stehen bleiben. Deshalb werde ich zu Prognosen von Wahlen reden, aber auch zum Nutzen von Umfragen in der Mediengesellschaft.

Hier die Referatsunterlagen.

Claude Longchamp

Vom Meinungsklima

Politikwissenschaftliche Analysen der Parteiwahl insistieren auf eine gefühlsmässige Bindung an eine Partei, die Uebreinstimmung mit Programmen und die Identifikation mit herausragenden Personen. Die Medien- und Kommunikationswissenschaft, die sich mit Wahlentscheidungen gegenüber Parteien beschäftigt, fügt in der Regel ein relevantes Konzept hinzu: das Meinungsklima.

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Konkret: Im Vorfeld der jüngsten Bundesratswahlen war die Stabilisierung des Regierungssystems das zentrale Stichworte. Exzesse, wie bei der Bundesratswahl ein Jahr davor, sollten vermieden werden. Die Konkordanz galt es zu bewahren. Die Rede war von einer Allianz der Mitte, welche die Geschicke des Landes steuern und fallweise mit einer der Polparteien Allianzen bilden sollte. Bei den Bundesratswahlen sollten die Ansprüche der SP und FDP sollten umgehend eingelöst, jene der SVP nach den nächsten Parlamentswahlen entschieden werden. Dieses Klima begünstigte im Bundesratswahlkampf geforderten Parteien. Das sie ihre Interessen schliesslich durchsetzen konnten, beflügelte ihre WählerInnen; so waren motiviert und mobilisierbar. Ganz anders wirkte sich das auf die Wählerschften der Grünen, der CVP und der SVP aus. Doch hielt die Stimmungslage nicht an. Spätestens bei der Departementsverteilung wurde klar, dass eine Zentrierung der Regierung unter Ausschluss dr SP-Wünsche angesagt blieb.

SCHWEIZ INITIATIVE AUSSCHAFFUNGSINITIATIVE

Spätestens mit dem Abstimmungskampf zu den Volksentscheidung vom 28. November 2010 änderte sich die Grosswetterlage. Es griffen die SVP mit der Ausländerkriminalität und die SP mit den Steuerprivilegien an. Beide testeten damit ihre Wahlkampf-Fähigkeiten. Ein Klima der Anklage entstand, Populismus grassierte, medial angeheizt. Vermittelnde Positionen, wie die des Parlaments mit dem Gegenvorschlag zur Ausschaffungsinitiative hatten einen schweren Stand. Die SP stolperte, zuerst über eigenen Programmparteitag, dann über das negative Abstimmungsergebnis. Es obsiegte die SVP, die in ihrer Lieblingskonstellation – alle gegen sie – eine mehrheitliche Zustimmung in der Volksabstimmung bekam. Damit war der Tenor beim Nationalen, Konservativen, Ländlichen gesetzt. Der SVP bescherte er Spitzenwerte in allen Umfragen, und, im Verbund mit dem bürgerlichen Zentrum einen Abstimmungssieg bei der Waffen-Initiative der SP.

Japan Earthquake

Doch auch dies Stimmungslage fand ihr Ende, jäh, mit dem Erdbeben in Japan, dem Tsunamie über dem Pazifik und der AWK-Unfall in Fukushima. Die Newslage in den Medien wechselte abrupt. Die Kernkraftbetreiber auch hierzulande wurden zu Gebtrieben der Oeffentlichen Meinung. Die Parteien, welche Kernenergie ablehnten, wähnten sich im Aufwand – nicht zu letzt weil der Bundesrats das laufende Verfahrungen für die Rahmenbewilligung sistierten. Im Gefolge dieser Entscheidung mussten sich die Parteien, welche Kernenergie immer befürwortet hatten, neu positionieren, schweigen oder dem aufkommenden Thema ihre Spin geben. Profitiert haben die Grünen bei den lokalen Wahlen, vor allem von der Oeffnung für ihre Kandidaten und vom Wechselwählen enttäuschter Anhänger. Zu einem Tsunami in der Wählerschaft als Ganzes kam es bis jetzt nicht. Dennoch, das Meinungsklima ist neu definiert worden.

Was ist nun ist ein Meinungsklima? Gemeint sind damit nicht die aggregierten Wahlabsichten der BürgerInnen, die stehen am Schluss der Analysekette. Am Anfang steht die öffentliche Meinung, wie sie aus einem Gemisch von Ereignissen, Medienberichten und Rezeptionen bei meinungsbildenden Organisation entsteht und ihrerseits auf die Intentionen der BürgerInnen bei einer Wahl einwirkt. Das Meinungsklima ist die Hülle unerer Wahlentscheidungen, das übergeordnete politische Klima, die Grosswetterlage oder die Stossrichtung des Windes, an dem sich alle auszurichten beginnen. Es wirft ein grelles Licht auf die Programme der Parteien, die Stärken und Schwächen ihrer Protagonisten, und es definiert damit wer und was in und out ist.

dahlem

Bei der Definition des Meinungsklimas sind die Massenmedien entscheidend. Das ist eines der Hauptrgebnisse der Dissertation von Stephan Dahlem. Sein Fazit kann man heute noch zuspitzen: Massenmedien sind keine Analytikerinnen der hier beschriebenen Tendenzen mehr. Vielmehr sind sie zur Avantgarde des Meinungsklimas selber geworden, zu den Trendsettern, die nichts so ungern machen, wie darüber zu sprechen. Ihr Problem dabei ist, dass die mangelnde Reflexion über sich, über Ursachen und Folgen des Meinungsklimas, die Wirkungen von Stimmungslagen überschätzen lässt. Und vor allem besteht ein fast unerschütterlicher Glaube, dass ein einmal definiertes Klima dauerhaft anhält. Doch ist genau das das Trügerischste an Meinungsklimata. Denn nichts ist so sicher, wie ihr Ende, um einem neuen Gemisch aus Ereignissen, Interpretation und Verstärkungen Platz zu machen. Wann auch immer das geschieht.

Claude Longchamp