Zählen, Zählen, Zählen

Vorläufig amtliche Endergebnisse und verbindliche Resultate müssen bei Abstimmungen nicht übereinstimmen. Die Abweichungen sind in der Regel nur minim, die automatischen Kontrollen aber auch unvollständig, wie eine Uebersicht im “Bund” zeigt.

Orlando, der Karikaturist des Berner “Bund”, kam beim Thema “Zählfehler” bei Volksabstimmungen mächtig in Fahrt. Den Berner Stadtpräsident Tschäppät sieht er die Endresultate handyphonieren, die sein Wahlbüro ermittelt hat. Doch da wird gewogen, versteckt, fotokopiert und gebündelt, was das Zeug hält. Was Sache sei, versucht nur ein treuer Beamter mit einer Differenzberechnungen zu eruieren.

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Hintergrund des fantasiereichen Bildes ist die Nachzählung von Abstimmungsergebnissen, wie sie bei der Autosteuer-Entscheidung vom 13. Februar 2011 im Kanton Bern verlangt wurde. Beantragt wurde sie, weil bei der Stichfrage die Differenz zwischen Volksvorschlag und Grossratsvorlage ausgesprochen gering war.

Nun hat der Bund verdienstvollerweise eine Uebersicht erstellt, wie gross die Unterschiede zwischen der provisorischen und definitiven Auszählung sind. Eine Publikation zu solchen Vergleichen ist mir bis jetzt nicht bekannt gewesen.

Fazit: Im Einzelfall differieren die Ja- oder Nein-Stimmenanteile bis zu einem Prozentpunkt. Solche Abweichungen sind aber selten. Im Mittel ist mit 2 Promillen Unterschied zu rechnen.

Anders gesagt: Bei Ergebnissen von 50,2 zu 49,8 ist am sich Vorsicht angebracht. Das finale Ergebnis kann sehr wohl umgekehrt zum vorläufig amtlichen sein. Gering ist diese Wahrscheinlichkeit, wenn ein Resultat 49:51 lautet.

Damit bestätigt die Uebersicht, was man hinter vorgehaltener Hand auf Bundesebene sagt: Bis 1 Prozent Fehler ist theoretisch möglich, einige Promille kommen immer wieder vor.

Der Begriff “Zählfehler” muss aber differenziert werden, und zwar in Erfassungs- und Uebertragungsfehler. Die Bestimmung des definitiven Ergebnisses kontrolliert nur Uebertragungsfehler. Der häufigste dabei ist, dass die Ja- und Nein-Stimmen vertauscht werden. Das geschieht in der Kette der Resultateübertragung von A nach Z. Die verbindliche Resultateermittlung, wie sie der Kanton jetzt vorlegt, kontrolliert nur dieses Problem. Nicht überprüft werden Erfassungsfehler, also Ungenauigkeiten bei Zählen selber. Dem wird nur nach gegangen, wenn eine Beschwerde vorliegt und ihr stattgegeben wird. Dann beginnt das Auszählen in den Gemeinden von Neuem. Das ist recht selten, kam aber zum Beispiel 2002 bei der Asylinitiative der SVP vor. Bei solchen Kontrollen kommen meist mehr Fehler an die Oberfläche, ohne dass sie zwingend eine Konsequenz haben müssen.

Der Grund dafür ist recht einfach: Das Zählsystem bei Schweizer Volksabstimmung ist imperfekt, weshalb Ungenauigkeit auf mehreren Stufen nicht ausgeschlossen werden können. Doch entstehen sie nicht aufgrund eines übergeordneten Willens, sondern aus beschränkter Nachlässigkeit. Damit ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sich die zufälligen Effekte neutralisieren, das heisst in beide Richtung vorkommen, und nur die Bilanz daraus erheblich ist.

Eine Anwort auf die Beschwerde der Jungen Grünen zur Stichfrage bei der Autosteuer ist das alles nicht. Denn erst wenn diese gut geheissen wird, beginnt die Nachzählung des “definitiven” Ergebnisses. Und nur so werden die Zählfehler in den Gemeinden aufgedeckt. Dabei kann gut sein, dass sich da einiges von Orlandos Fantasie bewahrheitet, doch eines übersieht er: die Fehler gehen in beide Richtungen, und schränken damit die Auswirkungen ein.

Claude Longchamp

Mindestens 9 Rücktritte machen die Ständeratswahlen interessant

Neun bisherige StänderätInnen treten im Herbst nicht für einen Wiederwahl in die Kleine Kammer an. Das macht die Ständeratswahlen schon mal interessant – teilweise auch über die jeweilige Kantonsgrenze hinaus.

Tagesschau vom 27.02.2011

Momentan konzentriert sich alles auf die Ersatzwahl für die Bernerin Simonetta Sommaruga, letzten Herbst in den Bundesrat gewählt. Adrian Amstutz, Vizepräsident der SVP, und Ursula Wyss, Fraktionschefin von der SP, treffen im 2. Wahlgang aufeinander.

Neun Demissionen auf Ende Legislatur versprechen Spannung bei den Ständeratswahlen im Herbst. Doppelrücktritte gibt es in Graubünden und Thurgau. In den Kantonen Uri, Schaffhausen, Luzern, Aargau und Solothurn kommt es zu Einervakanzen. Weitere Demissionen sind nicht ausgeschlossen.

Gefordert sind gegenwärtig die CVP, FDP und SVP. Sie verzeichnen je drei Demissionen. Bei der SVP erfolgt jene im Kanton Aargau nicht ganz freiwillig, denn Maximilian Reimann wäre gerne geblieben, doch seine Partei entschied anders.

Kein Risiko dieser Art will die CVP im Kanton Schwyz eingehen, wo der Bisherige Bruno Frick privater Turbulenzen zum Trotz wieder nominiert wurde.

In verschiedenen Kantonen zeichnen sich Wahlen mit mehreren nationalen Schwergewichten ab. Das gilt beispielswesie für St. Gallen, wo Eugen David von der CVP wieder antritt, indessen mit der Demission von Erika Forster-Vanini in den Reihen der FDP gerechnet wird. Als möglicher Ersatz gehandelt wird Fast-Bundesrätin Karin Keller-Sutter von FDP. Seine Kandidatur angemeldet hat auch Paul Rechsteiner, SGB-Präsident und SP-Nationalrat. Es wird damit gerechnet, dass die SVP hier einen Stzgewinn anstrebt, allenfalls mit Parteipräsident Toni Brunner.

Auch im Kanton Aargau kommt es zu einem Kräftemessen auf höchstem Niveau. Christine Egerszegi-Obrist von der FDP will es noch einmal wissen, während 4 PolitikerInnen die Nachfolge von Reimann antreten möchten: Nationalrat Ulrich Giezendanner von der SVP, Pascale Bruderer, alt-Nationalratspräsidentin von der SP, Geri Müller, Nationalrat der Grünen, und Kurt Schmid, Präsident des kantonalen Gewerbeverbandes, Kandidat der CVP.

Zu einer Kampfwahl kommt es möglicherweise auch in Schaffhausen. Thomas Minder, Initiant des Volksbegehrens gegen Abzockerei im Management, hat sein Interesse angemeldet, als Parteiloser Nachfolger des abtretenden FDP-Ständerates zu werden.

In Graubünden könnte es zu einer parteipolitischen Verschiebung kommen. Gefährdet ist nach der Parteispaltung namentlich der freiwerdene SVP-Sitz. Christoffel Brändli, der Zurücktretende, empfiehlt die Kandidaturen aus CVP und FDP zur Wahl.

Das Interesse an den Ständeratswahlen 2011 hat verschiedene Ursachen: So war die Mobilisierung via Persönlichkeiten in jüngster Zeit ein Erfolgsgarant für Parteien. Ständeratsbewerbungen bieten sich mit der Medienaufmerksamkeit und der Personenidentifikation gerade zu an.

Vorbei scheint, dass man als bestandenes Mitglied einer kantonalen Exekutive in der zweiten Karriere-Hälfte als Ständerat nach Bern darf. Gefragt sind bekannte und profilierte PolitikerInnen, die ihre Kandidatur als Teil einer nationalen Wahlkampfstrategie ihrer Parteien sehen.

Claude Longchamp

Standpunkte aus Stadt und Land

Mit Guy Morin und Peter Föhn debattiere ich über Ursachen und Folgen des neuerdings viel zitierten Stadt/Land-Grabens. Vor der Kamera redete man viel übereinander, nach Sendeschluss endlich auch miteinander.

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Auf meine kleine, aufreissende Analyse in der Einleitung reagierten die beiden Politikerinnen, der Muotataler Unternehmer Peter Föhn, Nationalrat für die SVP Schwyz, und Guy Morin, der grüne Regierungspräsident des Kantons Basel-Stadt, ablehnend: Der Stadt/Land-Graben existiere nicht wirklich!

Doch dann legten sie mit voller Härte los: Der Städter zitierte den von seinem Siedlungsraum erwirtschafteten Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wohl, und der Landschäftler beschwor die schweizerischen Werte, die nur in Tälern wie dem seinen in unverfälschter Form zu haben seien. Oekonomie gegen Kultur, das waren die Stichworte!

Ich sass mitten drin, als die Giftpfeile am meinen beiden Ohren vorbei sausten – bis mir der Kragen passte und ich beiden Kontrahenten sagen musste, ich würde an ihren Standpunkten das Eidgenössische vermisse: das Bewusstsein darüber, dass wir verschieden seien, aber zusammengehörten, und das nur so bleibe, wenn wir den willen dazu regelmässig aufbrächten!

Das verlagerte die Diskussion von der Polarisierung zum Dialog, befördert von den Journalisten Patrick Rohr und Urs Buess, die im Auftrag der Basler Zeitung die Sendung moderierten. Wer wissen will, wie es ausging, schaue sich die Debatte am Sonntag um 1310 oder 1825 an.

Eines wird man als Zuschauer jedoch nicht sehen. Als die Kameras aus waren und wir auf Glas Weisswein zusammen sassen, machten die beiden Politiker bald schon Duzis und tauschten Einladungen aus, um nicht nur übereinander, sondern auch miteinander zu sprechen.

Michèle Rothen schreibt dazu im heutigen “Magazin”: Es bringt nichts, mit dem Auto aufs Land zu fahren oder mit dem S-Bahn in die Stadt zu reiten, um Theater zu sehen oder Bauernferien zu geniessen. Man muss auch miteinander reden, um Verständnis zu entwickeln, nicht Feindbilder schüren.

Dem habe ich nichts mehr beizufügen!

Claude Longchamp

Analyse von Ständeratswahlen

Heute war Auftakt zu meiner Lehrveranstaltung an der Universität St. Gallen. Der Kurs ist einer der neun Praxisprojekte im Rahmen des MIA-Masterlehrgangs an der HSG. Hier meine Zielsetzung.

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Obwohl der Ständerat im bi-kameralistischen Parlament der Schweiz gleich wichtig ist wie der Nationalrat, ist seine Wah bisher praktisch nicht untersucht worden.

Ich habe mich entschieden, mit meine Studierenden Ständeratswahlen zu analysieren. Ausgelöst wurde dieses Interesse durch das jüngste Spezialheft der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft. Es beansprucht, den Stand der Dinge zur Schweiz darzustellen, behandelt die Wahlen in die kleine Kammer aber mit keinem Artikel.

Ich habe zwei übergeordnete Fragestellungen an den Anfang der Veranstaltung gestellt:

Erstens: Kann man aus den Potenzialen von KandidatInnen sinnvolle Prognosen machen für das Wahlergebnis? – Ich hoffen auf ein Ja.
Zweitens: Wie weit können Aktualisierungen solcher Potenziale in Wahlkämpfen des Wahlergebnisses beeinflussen? – In denke, dass es auch hier positive Hinweise gibt.

In beiden Fällen interessieren die Wahlergebnisse als abhängige Variable. Dabei stehen Stimmenzahlen, Stimmenanteile, Beteiligungsanteile zur Verfügung. Ueber die Wahlmotive weiss so nichts, und es gibt praktisch keine Befragungen als Nachanalysen von Ständeratswahlen, die einem helfen würden, strategisches und taktisches Wählen zu analysieren. Untersuchbar sind aber Wahlergebnisse beispielsweise auf kommunaler Ebene, so im Stadt/Land- oder Sprachenvergleich.

Was die unabhängigen Variablen betrifft, schlage ich ein Raster vor, das bei den Potenzialen die institutionellen Rahmenbedingen, die KandidatInnen-Profile (im Vergleich) und die Allianzbildungen unterscheidet. Bei den Aktualisierungen differenziere ich nach dem Wahlkampf als solchem, nach den Kampagnen der KandidatInnen und nach den Medienstrategien.

Typische Indikatoren der Rahmenbedingungen sind das Wahlrecht, die Sitzzahl, die Zahl der freien Sitze sowie die Gesetzmässigkeiten erster und zweiter Wahlgänge. Bei den KandidatInnen-Profilen interessieren die Rollen der Bewerbung vom Amtsinhaber, über die Herausforderung bis zur Aufbau-Kandidatur. Es geht auch um die bisherige politische Karriere, den Leistungsausweise, die Erfahrugnen in Kampagnen, das Parteiimage und die Mitgliedschaften in politisch relevanten Gruppen. Schliesslich sollte man etwas über die Hausmacht der Bewerbungen wissen, die Allianzbildungen über Parteien hinweg und über Absprachen unter Parteien, welche den Wettbewerb bei einer Wahl einschränken.

Bei den Aktualisierungen geht es zunächst um das Unfeld einer Wahl, sei es, dass gleichzeitig weitere Wahlen oder Abstimmungen stattfinden. Es interessiert hier aber auch die Dauer des Wahlkampfes, und die Gepflogenheiten in einem Kanton bei solchen Wahlen. Wenn von Kampagnen die Rede ist, sollten die Stäbe der KandidatInnen verglichen werden, ihre Budgets, die beanspruchte professionelle Hilfe, die Werbe- und Kommunikationsstrategien sowie die direkte Wähleransprache und die Mobilisierungsaktionen. Schliesslich sollte man mehr wissen, über die Medienstrategien bei Ständeratswahlen, wie wichtig ihnen diese sind, welche Nähe und Distanz relevante Medien zu den Bewerbungen haben, wie ihre Redaktionskonzepte sind, wie sie mit Wahlwerbung umgehen, und wie das alles zusammenspielt.

Anlehnungen mache ich hiermit vor allem an das amerikanische Prognoseprojekt von pollyvote und an eine Untersuchung von Mark Balsiger zur Schweiz, der sich grundsätzlich mit Personeneffekten bei Nationalratswahlen beschäftigt hat.

Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Die ersten Diskussionen waren schon mal aufschlussreich. Sie zeigten mir, dass man sich zur weltanschaulichen Polarisierung von Personenwahlen Gedanken macht, dass man mehr über Emotionalisierung in Medienstrategien wissen möchte, und dass beispielsweise das Stadt/Land-Profil der Wahlkreise als Determinanten von linken und rechten Kandidaturen besonders interessiert.

Mehr später!

Claude Longchamp

Luftschlösser, Stimmungslagen und Strategieüberlegungen

In der Luft liegt eine Mitte/Rechts-Regierung” titelte der “Sonntag”. Er berief sich dabei auf die “Strategie 51 Prozent” von Nationalrat Ulrich Schlüer. Einige Nachgedanken zwischen Luftschlössern und Strategiedenken.

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Zunächst zum Brauchbaren: Der Artikel von Othmar von Matt beschäftigt sich mit dem Ausgang der Parlamentswahlen 2011. Zitiert werden die offiziellen Wahlziele der SVP, vermutet wird aber auch eine “versteckte Agenda”. Der neue Geheinplan beinhalte verschiedene Spielarten einer Mitte/Rechts-Regierung, die samt uns sonders auf die Brüskierung der SP als Regierungspartei ausgerichtet seien. Erwähnt werden 4 Szenarien.

Szenario Bruch: Demnach verliert die SP Ende Jahr bei Bundesratssitze an die bürgerlichern Parteien.
Szenario Bestrafung: Demnach verliert die SP einen Bundesratssitz an die SVP.
Szenario Schwächung: Demnach verliert die SP einen Bundesratssitz an die Grünen
Szenario Status Quo: Demnach koalieren SVP, FDP und SVP, um die SP im Bundesrat regelmässig ins Leere laufen zu lassen.

Letzteres ist auch heute möglich. Es scheiterte stets am gemeinsamen Willen der bürgerlichen Parteien und ihrer BundesratsvertreterInnen, die sich sachpolitische Freiheiten ausbedingen.

Dann zum Unbrauchbaren: Das Luftschloss “Subito 51 Prozent für die SVP” unterliegt einem verbreiteten Denkfehler. Nur wenn das bürgerliche Lager gemeinsam zu Lasten von Rotgrün wächst, wäre eine eigentlicher Regierungswechsel angezeigt.

Solange die SVP aufgrund von Fusionen mit Kleinparteien zulegt, muss sie eine klaren Rechtskurs halten, was ihre Regierungsfähigkeit im Schnittfeld zwischen Oppsitionspartei in Migrationsfragen und Regierungspartner in Wirtschaftsfragen schwächt. Und wenn die auf Kosten der bürgerlichen Parteien zulegt, erschwert sie die Zusammenarbeitsmöglichkeiten mit ihnen, denn man befindet sich im Rollenkonflikt, Konkurrent zum Partner zu sein. Da hat der Luftschlossherr Schlüer recht: Das kann man nur gewinnen, wenn man die Mehrheit erreicht.

Real wird die Abgrenzung zwischen den bürgerlichen Parteien mindestens bis zu den Wahlen im Herbst ’11 vorherrschen. Die Trends in Kantonen wie Zürich und Bern bei den aktuellen Wahlen bestätigen dies. Und danach entscheiden die Wählerstärken, allenfalls die Sitzzahlen der Parteien, was rechnisch möglich ist, und was politisch Sinn macht. Bevor man die Konkordanz weiter schwächt, wäre es richtig, die numerische Grössen und den politischen Willen nüchtern zu analysieren, um zu Vorschlägen zu gelangen.

Bleibt vorerst die Frage, wem der Artikel nützen sollte? SVP-Exponenten wie Nationalrat Mörgeli und Schlüer sind dafür bekannt, dass sie Wahlsiege in politische Forderungen ummünzen. 2007 stammte die Idee konservative Revolution mit vermehrter Einflussnahme der SVP auf, Schulen, Medien und Verwaltungen aus ihrem Kreise. Doch führte dieser offensichtliche Machtanspruch zum Fiasko bei Bundesratswahlen von Ende 2007. Entsprechend variieren die Reaktionen von SVP-Seite zwischen vorsichtiger Zustimmung und demonstrativer Distanzierung.

Anders sieht es auf linker Seite aus. Lanciert wurde die Geschichte vom grünen Nationalrat Jo Lang, der damit seine Partei als allzeit sensibilisierten Anit-SVP-Pol profilieren konnte. Und der gewievte Polittaktiker aus Zug weiss genau so gut wie Christian Levrat, dass die Angst, institutionell marginalisiert zu werden, zu den Mobilisierungsmassnahmen zählt. Diese Stimmungslage war wohl die Absicht für die grosse Aufmache vom Sonntag.

Immerhin, die Doppelseite hat mich in einem Punkte zum strategischen Nachdenken angeregt: Wenn schon im Nachgang zur Fusion von FDP und Liberalen ein Zusammengehen von CVP und BDP ins Spiel gebracht wird, wäre es nur folgerichtig auch über die Kooperation von SP und Grünen über den Status Quo hinaus nachzudenken. Sachpolitisch ist die Uebereinstimmung seit langem hoch; machtpolitisch gäbe es dann einen genügend Gegenkräfte auch zu einer erstarkten SVP.

Wie wär’s also damit?

Claude Longchamp

Die nationalkonservative Wende?

Ein neues Phänomen erfasst die politische Kultur der Schweiz. Fakten und Fragen zur viel zitierten nationalkonservativen Wende.

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Doris Leuthard, 2010 Bundespräsidentin, ebnet am Trachtenfest der ländlichen Schweiz den Weg zur Mehrheitsfähigkeit

Die Ausschaffungsinitiative wurde angenommen. Genauso wie die Minaretts-Initiative. Sie haben zur Konfessionalisierung des Politischen geführt. Und zur Aufwertung des Nationalen. Nun ist auch noch die Waffen-Initiative abgelehnt worden. Mit typisch traditionalistischen Begründungen.

All das passt zur konservativen Wende. Davon reden nicht nur Blocher, sein Biograf Somm und Köppel in der Weltwoche. Nein, zwischenzeitlich beschäftigen sich Medienschaffende querbeet, aber auch SozialforscherInnen und Theoretiker des Politischen damit.

Das psychologische Klima der Schweiz, das Demoscope seit 1974 mit vergleichbaren Bevölkerungsbefragungen untersucht, kippte nach 2001. Entwickelte es sich bis dahin stets in Richtung fortschrittlicher, aussenorientierter Werte, stagniert danach die Zustimmung zu Werten wie Extraversion, Hedonismus udn Risikofreude. Seit 2009 gibt es einen eigentlichen Gegentrend fest, hält Roland Huber fest. Heute sei die Mehrheit der Schweizer binnenorientiert, und nur noch gemässigt fortschrittlich.

Aehnliches hält das Identitäts-Barometer, einem Zusatz zum Sorgenbarometer unseres Instituts insbesondere seit 2007 fest. Lukas Golder betont seit längerem, dass die Zuwendung zu Schweizerischem im Steigen begriffen sei. Der Stolz auf die Schweiz nimmt – vor allem rechts, aber nicht nur – praktisch ungebrochen zu. Ansatzpunkte der Identifikation sind dabei nicht mehr nur die politischen Eigenheiten, auch der Erfolg der einheimischen Wirtschaft, der schweizerischen Produkte im Ausland gehört zur neuen Swissness.

“Was sind die Ursachen der Wende?”, fragt die heutige NZZ am Sonntag. Experten seien sich nicht einig. Klarheit herrsche nur darüber, dass Verunsicherungen am Anfang stünden: Nine-eleven, selbstredend, aber auch das Grounding der Swissair zu Beginn des Jahrzehnts, die Finanzmarktkrise, die zu globalen Erschütterungen führten, werden für die zweite Hälfte der ersten Dekade im 21. Jahrhundert angebracht.

In der Schweiz manifestiere sich das am Wandel der Einstellungen zur Personenfreizügigkeit am Augenfälligsten. Anfangs 2009 in einer Volksabstimmung noch bestätigt und erweitert, sind die Folgen der Migration in den Vordergrund gerückt. In Genf sind es die Frontaliers, in Zürich die Deutschen, im Tessin die Italiener. Am Anfang von all dem stehe, dass kaum jemand mehr die schweizerischen Beziehungen zur Europäischen Union verteidigt. Statt vom Wirtschaftsmotor ist nun vom den der Euro-Falle die Rede.

Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler stellt das in einen grösseren Rahmen. “Viele Schweizer sehen, dass sie weltweiten Entwicklungen hilflos ausgeliefert seien. Sie fürchten, dass ihre Schweiz, in der sie sich wohlfühlen, in Gefahr ist. Das macht Angst”, analysiert der emeritierte Zürcher Professor. Hanspeter Kriesi, Politologie-Professor in Zürch, geht weiter. Die SVP habe seit der EWR-Abstimmung die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz hochgehalten, ebenso den Schutz des einheimischen Gewerbes. Zwischenzeitlich sei dies zu populistischen Kampfgegriffen geworden, um Linke und Oeffnungswillige anzugreifen. Andreas Ladner, Politologe in Lausanne, der die Parteien im europäischen Vergleich untersucht, mag rein schweizerische Begründungen nicht; für ihn wandelt sich die Schweiz genauso wie Europa gegenwärtig in Richtung mehr Nationalismus und mehr Protektionismus.

Einen Gedanken, den ich bisher noch nicht hatte, äussert im besagten Artikel Karin Frick, Forschungsleiterin am Rüschlikoner Gottlieb-Duttweiler Institut. “Die gesellschaftliche Liberalisierung, der anarchische Raum des Internets und der technologische Fortschritt brachten Freiheiten mit sich, die viele überforderten.” Als Gegentrend hierzu ensteht die Sehnsucht nach Uebersicht, nach Ordung und nach Autorität.

Uebrigens: So sicher bin ich nicht, dass wir es mit einer effektiven Wende zu tun haben. Klar ist, die Stimmungslage riecht momentan danach. Doch habe wir in den letzten Jahren so oft erfahren, dass diese nicht mehr als zwei, drei Monate anhielten, um dann ins Gegenteil zu kippen.

Oszillierung ist in diesem Zusammenhang mein Lieblinigsbegriff. Denn die Schweiz pendelt seit 1992 zwischen konservierenden und veränderungswilligen Strömungen, mal mehr durch das Linksliberale, mal eher durch das Nationalkonservative gekennzeichnet.

Claude Longchamp

Arena: Streit mit Kultur erwünscht!

Ich habe mir die ganze Arena-Sendung von gestern angesehen. Das war schon lange nicht mehr der Fall. Es hatte auch mit der neuen Moderation durch Urs Wiedmer zu tun.

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Nur zu oft habe ich mich aus der “Arena” mit Reto Brennwald ausgeklinkt. Meist war ich ein Ab- und Zu-Schauer. Seine Sendungen hatten Tempo, ohne Zweifel. Sie waren angriffig, ebenso unbestritten. Aber sie war selten informativ. Die Einladungsliste verriet meist die Sendeabsicht. Unerwartetes kam selten, Brückenschläge eigentlich nie.

Heute weiss ich klarer, weshalb ich so häufig den aufgeregten Bildschirm gegen das Ruhekissen im Bett tauschte. Die Arena lebt von Rede und Gegenrede. Nicht von der Zwischenrede. Oder noch deutlicher: Bisweilen interventierte Brennwald für meinen Geschmack zu früh, bisweilen liess er die Leine viel zu lange. Am Schluss wurde ihm das zum Verhängnis.

Urs Wiedmer war bei seiner Feuertaufe in erster Linie fair: zu Martin Bäumle, dem GLP-Nationalrat, zu Beat Vonlanthen, den CVP-Staatsrat aus Freiburg, zu Heinz Karrer, dem CEO der Axpo Holding und zu Kaspar Schuler, dem Kampagnenleiter von Greenpeace. Jeder hatte seinen Stich, jeder kam mal in die Bedrouille.

Die 10 ExponentInnen in der zweiten Reihe kamen früh und mehrfach zum Zug. Das förderte die Vielfalt der Standpunkte, wie sie Geologen, Nuklearphysikerinnen, Kernkraftbetreiber, Beamtenkontrolleure, Interessenvertreter, Basisbewegte und BürgerInnen in der Kernenergie-Debatte vertreten.
Gelegentlich kam es sogar zu Kontroversen aus der Hinterhand. Schliesslich pflegt Wiedmer die Info-Spot mit Einspielungen, welche den Infogehalt erhöhten. Das belebte. Und die Einspielungen informierten.

Wie der Münsiger Fernsehmann bei der Entscheidung über Mühleberg II gestimmt hat, weiss ich nach der Sendung nicht – und verstehe das als Lob. Sein ganzer Habitus ist so zurückhaltend, dass nicht nur um die Personalia des Gesprächsleiters interessiert. Auch das ist von Vorteil. Typisch dafür, wie der Angespannte gestern gelassen reagierte, war der Aussetzer in der Vorstellungsrunde. “Jetzt bin ig haut grad druusgheit!”. as war ein Selbstkommentar ohne Marketing.

Wahrscheinlich wird man dem ehemaligen Lokaljournalisten jedoch genau das im Zürcher Medienhaifischbecken ankreiden. Denn da erwartet man von den Kampf der Titanen, spekuliert man schon mit dem Duell zwische Arena und Telezüri, und mag man Moderatoren aus der Provinz nicht wirklich. Urs Wiedmer kann sich darum scheren, wenn er dafür das Vertrauen der Regierungsrätinnen, National- und Ständerate findet, das so breit verspielt worden ist.

Was aus dem Neustart letztlich wird, weiss ich nicht. Kommentare auf der Website und Zuschauerzahlen sind das eine; Beiträge zur Debatte, die den Namen verdienen, das andere. Am besten wäre es, beides käme zusammen!

In der Arena der Zukunft wünsche ich mir Streit mit Kultur. Das ist alles andere als Fixierung auf Personen, Emotionen und Skandale. Streit mit Kultur ist für mich Polarisierung und Differenzierung, hat mit Ueberraschung und Information zu tun. Das alles soll die Aufmerksamkeit fördern, nicht der Sensation, sondern der Sache wegen!

Denn die Politik entwickelt sich heute auch ohne Arena in die kritisierte Richtung. Dem etwas gegenüber zu setzen, ist die Aufgabe der künftigen Arena. Wohl bekomm’s!

Claude Longchamp

Waffen-Initiative: Die Trennlinie ging durch die Agglomerationsgürtel der grossen Zentren

Nun liegt sie vor: die Detailanalyse des Bundesamtes für Statistik zu den raumbezogenen Ergebnissen der Abstimmung über die Waffen-Initiative. Sie legt nahe, das Stadt/Land-Kontinuum aufzuteilen, in Kernstädte, Agglomerationen und Landgemeinden.

Die grösste Differenz im Abstimmungsverhalten der Gemeinden gibt es nach BfS zwischen grossen Kernstädten und (semi)agrarischen Landgemeinden. Diese votierten zu 72 Prozent gegen die Initiative, jene zu 65 Prozent dafür. Das hatte man schon am Sonntag.

Im ruralen Raum ist die Ablehnung weitgehend typen-unabhängig. Auch die Landgemeinden mit industrieller oder touristischer Erwerbsstruktur waren dagegen, genauso wie die Pendlergemeinden auf dem Land. Das kommt in der nebenstenden Karte gut zum Ausdruck.

Differenzieren muss man den urbanen Raum. Zunächst hängt der Ja-Anteil von der Grösse der Zentrumgemeinden ab. Die Stimmenden der Grosszentren votierten wie gesagt zu zwei Dritteln dafür, jene der Mittelzentren zu 53 Prozent. In den Kleinzentren (ohne Agglomeration) resultierte ein Ergebnis fast wie gesamtschweizerisch – 58 Prozent dagegen.

Unterscheiden muss man auch zwischen Kernstädten und Agglomerationsgemeinden. Diese waren in ihrer Gesamtheit auf der Nein-Seite, wenn auch teilweise knapp. So erreichte die Initiative in den einkommensstarken Agglomerationsgemeinden im Schnitt eine Zustimmung von 49 Prozent. In den Agglomerationen der fünf Grosszentren resultierte ein mittlerer Ja-Anteil von 47 Prozent. Wer im urbanen Raum eines Mittelzentrums stimmte, war dann aber zu 61 Prozent dagegen.

Das spricht für eine Dreistufung der Abstimmungsergebnisse zur Waffen-Initiative im Raum: Ja-Pol in den Kernstädten, abhängig von der Grösse, mittlere Position mit Ja- und Nein-Gemeinden in den Agglomerationen, abhängig vom Zentrum, und ein flächendeckender Nein-Pol auf dem Land.

Das Interessante ist, dass es eine Bewegung vom Land in die Kleinstädte und Agglos der Mittelzentren gibt, beschränkt auch der Grosszentren. Das jedenfalls kann man schliessen, wenn man die Haupttrends in der Meinunungsbildung mitberücksichtigt. Denn die bewusste Ablehnung baute sich erst mit der Nein-Kampagne auf, war aber so stark, dass sie auch die Zustimmungsbereitschaft reduzierte.

Im grossen Ganzen entspricht dies dem Bild bei der Minaretts-, Ausschaffungs- und Steuergerechtigkeitsinitiative. In allen drei Fällen wurde die Position des ruralen Pols zur Mehrheit. Die Grenzlinie bei der Zustimmungs-/Ablehnungsmehrheit ist allerdings nicht immer identisch. Marginalisiert wurden die Grosszentren insbesondere bei der Minarettsfrage. Ansonsten geht die wirkliche Trennlinie wohl durch die Agglos der grossen Zentren.

Claude Longchamp

Wie man die Mühleberg II-Volksentscheidung politologisch analysieren kann

“Konfliktlinien” ist das Zauberwort der politologischen Entscheidungsanalyse. Sind sie wiederkehrend, spricht man von Konfliktmuster. Dank diesen kann man vermutete Fallbeispiele aus einer übergeordneten Warte untersuchen.

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Globale und lokale Probleme vs. Bernische Beständigkeit: Sujets aus dem Abstimmungskampf zur Fortführung des Kernkraftwerks Mühleberg.

Bei der Analyse von Konfliktmustern unterscheidet man strukturelle und dynamische Vorgehenswesien. Jene vergleicht beispielsweise die Eigenschaften unterschiedlich stimmender Gemeinden, um zu Erklärungen der Entscheidung vorzustossen; diese fragt, wie sich lang-, mittel- und kurzfristige Determinanten auf eine Wahl oder auch eine Volksabstimmung auswirken.

Langfristige Faktoren: Wertepolarisierungen Der Kernenergie-Konflikt entstand mit den Protesten nach der Unfällen mit Kernkraftwerken in Harrisbourgh (USA) und Tschernobyl (UdSSR). Diese politisierten den postmaterialistischen Wertwandel entlang von Sicherheitsfragen und Umweltschutz heftig, transformierten namentlich die Linke, seither auch aus grünen Parteien bestehend. Von dieser Polarisierung stark beeinflusst waren die eidgenössischen Volksabstimmungen von 1990, die zum 10jährigen Baustopp, nicht aber zum Ausstieg aus der Kernenergie führten. 2003, bei den bisher letzten grossen Volksabstimmungen in der Schweiz, war fand dieser Konflikt eine umgekehrt Antwort. Die Forderungen der KernenergiekritikerInnen wurde mehrheitlich abgelehnt, das Moratorium aufgehoben. Die alten Frontstellungen waren in den mittleren und älteren Generationen weitgehend geblieben, in der jüngeren nicht mehr so aktuell.

Mittelfristige Faktoren: neue Energiepolitik als Wertesynthesen Verlagert hat sich in jüngerer Zeit vor allem der politische Diskurs. Die Kernenergiebefürworter argumentieren teilweise mit der CO2-Problematik; Teile ihrer Widersacher befürworten ökonomische Anreize für neue Energieformen. Im Entstehen begriffen ist eine neue Energiepolitik, welche auf keinen Energieträger verzichten will, ihre Endlichkeit als Problem anerkennt. Sie finden Anerkennung bei jüngeren Menschen, politisch vor allem bei Mitte-Parteien. In der Schweiz noch wenig verarbeitet ist, dass die Energieproduktion stark internationalisiert ist.

Kurzfristige Faktoren: Die öffentliche Kernenergiedebattepolitik der Schweiz wird gegenwärtig durch Energieförderprogramme, Endlager-Entscheidungen, die Erneuerung von Kernkraftwerken und die Suche nach neuen Energie-Quellen und -Standorten geprägt. Dies artikuliert variable Interessen, die politisch nicht einheitlich verarbeitet sind. So kommt es nebst klassischen Polarisierungen zwischen den Parteien immer wieder zu inneren Konflikten und vorübergehenden Allianzen. Medien interessieren sich für Energiefragen nicht vorrangig, behandeln aber Konflikt ausführlich. Das gilt namentlich für Volksabstimmungen, in denen neue und alte Bestandteile des Konflikts aktiviert werden.

Die massgebliche Entscheidung auf nationaler Ebene findet voraussichtlich 2013 statt. Sie wird gegenwärtig durch eine Reihe von lokalen und regionalen Entscheidungen vorbereitet, zu denen die Mühleberg II-Abstimmung gehört. Ihr Ausgang kann als Mix der Faktoren bestimmt werden, die hier skizziert wurden: zuerst als Folge der neuen Fragestellungen, dann der neuen Trends in der Kernenergiepolitik und schliesslich durch die hintergründigen Polaritäten, die mit der Herausbildung der Konfliktlinie entstanden sind.

Wie man mit diesen drei Thesen den Ausgang der aktuellen Volksabstimmung über die Fortführung der Kernkraftwerken ist Mühleberg analysieren kann, habe ich in einem Interview mit dem “Bund” versucht, das heute erschienen ist. Hier das Gespräch.

Claude Longchamp

Kernenergie im Kanton Bern: mehrheitlich befürwortet, Zustimmung aber wieder geringer

Ja zu Mühleberg II, wenn auch knapp. Das ist der zentrale Kommentar aus heutiger Sicht zum gestrigen Abstimmungsergebnis. In der 51,2 Prozent Ja bei 48,8 Prozent Nein, ist keine grosse Differenz. Was weiss man einen Tag nach der Abstimmung über die Zusammensetzung von Befürwortung und Ablehnung?


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Quelle: Microgis/Bund

Die Gemeindeanalyse zeigt plakativ, dass bei der “Mühleberg II”-Entscheidung das Land die Städte knapp überstimmt hat. Die Stadt Bern lehnte die Vorlage ab, Biel/Bienne zu 60,8, Köniz zu 54,5, Burgdorf zu 53,5 und Thun zu 51,5 Prozent ab. Als einzige Stadt votierte Langenthal dafür; der Ja-Anteil lag hier bei 52,6 Prozent – und damit nahe beim kantonalen Mittel.

Die vertiefte Analyse aller Gemeinden zeigt ein überdurchschnittliches Ja ist einseitig agrarisch geprägten, aber auch in agrarisch-gemischten Gemeinden. Das Umgekehrte findet sich ausserhalb der Zentren auch in sub- und in periurbanen Vorortsgemeinden. Die übrigen Gemeindetypen sind nahe dem kantonalen Mittel.

Die Besonderheiten zeigen sich jedoch erst, wenn man die Parteienanalyse vornimmt: Nachdem die Skepsis gegenüber der Kernenergie in den Volksabstimmungen von 1990 ihren Höhepunkt hatte, verringerte sich der Widerspruch in den nachfolgenden Entscheidungen Schritt für Schritt. 2003 wurde das Moratorium in der Volksabstimmung nicht verlängert. 58,4 Prozent stimmten dagegen. Bei Ausstieg aus der Kernenergie waren es 66,3 Prozent. Der Kanton Bern entschied in beiden Fällen praktisch identisch (58,6 resp. 67,5 Prozent) mit der Schweiz.

Allgemein ging man davon aus, dass der postmaterialistische Wertwandel seinen Höhepunkt erreicht hatte, und entsprechende Konflikte wieder abnehmen würden. Nachfolgende Generationen sind nicht mehr im gleichen Masse beeinflusst, wie jene, die durch die Reaktor-Unfälle in Harrisbourgh oder Tschernobyl gleichsam politisiert wurden.

Die Zustimmung zur Kernenergiepolitik ist im Kanton Bern jedoch gesunken, ohne die negative Mehrheit von 1990 erreicht zu haben. Erklärt werden kann die gegenläufige Dynamik durch die Besonderheiten einer kantonalen Abstimmung. Die Polarität wird nicht durch einen nationalen, vielmehr durch einen kantonalen Abstimmungskampf aufgebaut. Das führt zu anderen Akteurskonstellationen, in denen die lokalen Bezüge wichtiger sind.

Es wird noch zu klären sein, was alles anders war: die Themen, wie das Zwischenlager in Mühleberg, die Kampagne, stark geprägt durch die Botschaft der BKW, den Anteil an erneuerbarer Energie nicht erreichen zu können, die Berichterstattung durch die Medien, wo bisweilen Bund und BZ diametrale Positionen bezogen oder das Klima, diesmal massiv durch einen Stadt/Land-Gegensatz geprägt. Wahrscheinlich scheint mir, dass eine verstärke Politisierung stattgefunden hat, wenig wahrscheinlich ist für mich, dass einer neuer Wertwandelsschub in Richtung nachmaterialistischen Präferenzen stattgefunden hat.

Jetzt schon greifbar sind Schätzgleichungen zu Zusammenhängen beim Stimmverhalten. Sie zeigen, dass sich die linke Skepsis zur Kernenergie nur unwesentlich verstärkt hat, sich vor allem aber die bürgerliche Zustimmung verringert hat. Dafür spricht auch, dass es zahlreiche Gemeinden gibt, die bürgerlich wählen, anders als 2003 jetzt aber ablehnend zur Kernenergie gestimmt haben.

Typisch hierfür sind Gemeinden wie Seehof, zu 94 Prozent von bürgerlichen Parteien repräsentiert, 2003 zu 76 Prozent gegen das Moratorium, jetzt aber nur noch zu 28 Prozent für Mühleberg II. Das Kernenergie-freundliche Lager wurde um 49 Prozent verringert, es ist zwischenzeitlich auch 66 Prozent kleiner als der Anteil bürgerlicher WählerInnen.

Tabelle

Strukturelle Gemeinsamkeiten haben diese Gemeinden nicht. Zu vermuten ist deshalb, dass jenseits der einleitend beschriebenen generellen Bestimmungsgründe für die Positionen in der Kernenergiepolitik die lokalen Netzwerke und personennahe Kommunikationskanäle, die periphere Lage im Kanton oder die problematisierte Nähe zu einem Kernkraftwerk entscheidend waren.

Claude Longchamp