Auf nach Zürich!

Wahlforschung in Theorie und Praxis – heisst meine Lehrveranstaltung im kommenden Frühlingssemester an der Universität Zürich. Eine erster Einblick.

SCHWEIZ WAHLEN 2011 WAHLSTUDIO
Politikwissenschaft für den Wahltag: 12 Stunden-Live-Einsatz im Wahlstudio des Schweizer Fernsehens – und was davon für die Wissenschaft bleibt.

Wahlforschung ist interdisziplinär: Zuerst interessierten sich die Juristen für das Wahlrecht, dann die Statistiker für die Wahlergebnisse. Geografen vermassen die Resultate in den Regionen und Historiker berichteten über ihren Wandel in der Zeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Wahlen zugenommen: Institutionellen Fragen, das Wahlverhalten, die Einflüsse aus Wirtschaft, Gesellschaft und Medien haben an Bedeutung gewonnen, und sie bedingen, Wahlen unter verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Im Frühlingssemester unterrichte ich Wahlforschung an der Universität Zürich. Die Vorlesung wird vom Institut für Politikwissenschaft im Rahmen des sozialwissenschaftlichen Bachelor-Studiums angeboten. Die Besonderheit meines Kurses: Er soll in Theorie und Praxis einführen, also nicht nur ökonomische und sozialpsychologische Verhaltensmodelle lehren, das Wirken der Parteien und Medien vorstellen und die Auswirkungen des sozialen und politischen Wandels auf die Ergebnisse diskutieren, nein, er wird auch über Projekte der Wahlberichterstattung, Lücken der Forschung und die Rolle der PolitologInnen in der Mediendemokratie berichten.

Der zentrale Gegenstand könnte aktueller nicht sein; ich werde vorwiegend Beispiele aus dem Wahljahr 2011 nehmen: Die Nationalrats- resp. Ständeratswahlen, die Bundesratswahlen, aber auch die kantonalen Wahlen sollen zur Sprache kommen.

Detailliert habe ich die Veranstaltung noch nicht geplant. Sie entsteht gegenwärtig in “meinem Bauch” – auch als Verarbeitung von Ergebnissen, Analysen, Eindrücken aus dem auslaufenden Jahr. Viel Material hat sich in meinem Büro gesammelt, das ich dieser Tage sortiert, bewertet, weggeworfen oder abgelegt habe. Jetzt muss ich Gefühle, Wissen und Können nur noch in grossen Ganzes bringen. Hier schon mal die Disposition:

1. Vorlesung: Einführung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis
2. Mikro-Theorie (I): Das einfache ökonomische Verhaltensmodell
3. Mikro-Theorie (II): Parteibindung, Themen- und Kandidatenorientierung
4. Makro-Theorie (I): Historische Konfliklinien und das Parteiensystem der Schweiz
4. Makro-Theorie (II): postmaterialistischer und nationalkonservativer Wertewandel als neue Konfliktlinien im Parteiensystem der Schweiz
5. Politische Mobilisierung und Wahlbeteiligung
6. Wahlen und Wahlkämpfe in der Mediengesellschaft von heute: zwischen Aufklärung und Propaganda
7. Wahlen und Wahlrecht in der Schweiz
8. Wahlprognosen im Vergleich
9. Modellhafte Analyse der Nationalratswahlen
10. Modellhafte Analyse der Ständeratswahlen
11. Wahlen im Konkordanzsystem: Analyse der Bundesratswahlen 2011
12. PolitologInnen im Wahlgeschehen 2011

In Gedanken mache ich mich auf nach Zürich!

Claude Longchamp

Vom angeblichen Mitte/Links-Nationalrat

Das haben wir dieser Tage bis zum Ueberdruss gehört. Das Parlament bestehe aus zwei Blöcken: den Mitte/Links-Parteien und der SVP. Die zurückligende Session lehrt uns eines bessern: Unverändert wird die Szenerie durch wechselnde Allianzen beherrscht, bei denen die Fraktionen der CVP/EVP, FDP, BDP und GLP den Ausschlag geben.

verfassungsgerichtsbarkeitbonussteuer
Zwei Mal knapp, aber unterschiedlich: Mitte/Links bringt die Verfassungsgerichtsbarkeit durch, während Rechts und Teile der Mitte die Bonussteuer versenkt.

Politnetz wartet mit der neuen Legislatur mit einer tollen Innovation auf. Die “Abstimmungsergebnisse im Nationalrat” werden schnell aufgearbeitet handlich nachschlagbar gemacht. Die Neuerung erlaubt es, seine ParlamentarierInnen zu verfolgen, wie auch die Allianzbildung in den Sachgeschäften einzuschätzen.

Angenommen wurden

. die Bekämpfung des Menschenhandels (mit 160:5)
. das Integrationsrahmengesetz (mit 150:42)
. die Strafbarkeit von Rasern (mit 132:37)
. das Verbot von Streumunition (mit 120:58)
. die Adpotion ab 30 (mit 116:45)
. die Vereinbarkeit von Volksinitiative und Grundrechten (mit 103:55)
. die Erhöhung der Direktzahlungen an die Landwirtschaft (mit 99:79) und
. die Verfassungsgerichtsbarkeit (mit 94:83).

Bei der Bekämpfung des Menschenhandels kann man nicht von einer Konfliktlinie im Parlament sprechen; das regierte der Konsens. Anders sieht es bei den übrigen angenommen Vorlagen aus. Sie wurde meist gegen die Stimmen der opponierenden SVP angenommen. So blieb die grösste Fraktion bei der Strafbarkeit von Rasern alleine, nicht aber bei der Verfassungsgerichtsbarkeit, wo die SVP mit ihrer Ablehnung weit in FDP und CVP- Kreise ausstrahlte, während beim Grundsatzentscheid zu Volksinitiativen und Volksrechten namentlich die FDP-PolitikerInnen zu Minderheit hielt. Gerade umgekehrt verliefen die Fronten bei der Erhöhung der Direktzahlungen an die Landwirtschaft. Da setzten sich SVP und BDP, unterstützt von Teilen der CE, FDP und GLP durch, während SP und GPS unterlagen.

Abgelehnt wurde zudem

. die Sanierung von Zebrastreifen (mit 98:133)
. die Bonussteuer (mit 85:98)
. die Vereinheitlichung des Mehrwertsteuersatzen (mit 58:120)
. die verfassungsmässige Verankerung des Bankkundengeheinnisses (mit 13:172)

Die Allianzbildung ist hier eindeutig komplexer. Die Sanierung der Zentrastreifen scheitert am Nein der traditionellen bürgerlichen Fraktionen. Bei der Bonus-Steuer war die CVP auf der Ja-Seite, dafür verhalten GLP und BDP der Gegnerschaft zum Durchbruch. Bei der Vereinheitlichung der Mehrwertsteuer stimmten FDP und GLP dafür, alle anderen Fraktionen jedoch dagegen, und bei der Verankerung des Bankkundengeheimnisses in der Bundesverfassung sah sich die zustimmende BDP von allen übrigen Fraktionen isoliert.

Daraus kann man vier, deutlich differenziertere Schlüsse als die einleitend zitierte Schematisierung ziehen:

Erstens, keine Fraktion setzte sich immer durch, keine verlor konstant.
Zweitens, erfolgsversprechend sind von links getragene Allianzen, wenn sie Mehrheiten CVP und FDP auf ihrer Seite wissen, während Bündnisse, die von rechts bestimmt werden, auf die gleichen Fraktionsmehrheiten setzten müssen.
Drittens, Vorlagen, welche die traditionellen bürgerlichen Fraktionen nicht unterstützen, scheitern genauso, wie solche bei denen sich GLP und BDP einer kritischen Allianz aus SVP und FDP anschliessen.
Viertens, Profilierung einzelner Fraktionen gegen einen breiten Parlamentsmainstream haben selbsredend keine Chance, egal von wem sie ausgehen.

Belegt wird damit, dass (im Nationalrat) die Entscheidungen der Mitte massgeblich sind, diese aber atomisiert ist, und zwar zwischen den 4 Fraktionen, die dazu gehören können, die sachpolitischen Konfliktlinie teilweise auch quer durch die Fraktionen verläuft. Das macht die Berechenbarkeit schwieriger, gleichzeitig die wechselnden Mehrheit häufig.
Die SVP positioniert sich oppositionell, wenn sie eine Mehrheit von mitte/links erwartet. Sie sucht aber auch Bündnisse zu den bürgerlichen Partnern, hat dabei auch Erfolg, eher beim Bremsen als beim Gas geben.

An sich nicht neu, was man via Politnetz erfährt – aber transparent und sauber belegt!

Claude Longchamp

Im Bundesrat ist die SVP besser vertreten als in den Kantonsregierungen.

In Volkswahlen kommt die SVP auf knapp 12 Prozent der Regierungsmitglieder – auf Kantonsebene. Im Bund stellt sie mit Ueli Maurer 14 Prozent der BundesrätInnen.

110111.111218_beatrice_metraux2-184
Die neugewählte Waadtländer Regierungsrätin Béatrice Metraux verschob einen (weiteren) Sitz der SVP zur GPS.

Der Kanton Waadt hat gewählt. Die neue Regierungsrätin heisst Béatrice Metraux. Die grüne Gemeinderätin aus Bottens ersetzt den im vergangenen September verstorbenen SVP-Regierungsrat Jean-Claude Mermoud. Neu hat damit Rotgrün die Regierungsmehrheit im grössten Kanton der französischsprachigen Schweiz, genauso wie in Bern und Baselstadt.

In der Westschweiz ist die SVP mit dem heutigen Tage wieder flächendeckend in der Opposition. Denn mit dem Scheitern der Kandidatur von Pierre-Yves Rapaz ist die SVP in keine Kantonsexekutive mehr der französischsprachigen Kantone vertreten. Selbst mit der Empfehlung bürgerlicher Parteien gelingt es der SVP nicht (mehr), den Durchbruch zur Mehrheit zu schaffen. Zu gering ist entweder die Mobilisierung oder die Unterstützung durch die bürgerlichen WählerInnen.

Damit besteht in den welschen Regierungen Gleichstand mit dem Ständerat, ebenfalls überwiegend nach dem Majorzverfahren bestimmt. Denn die SVP stellt in der kleinen Kammer keinen Standesvertreter französischersprachiger Zunge. Genauso wie die SVP im Tessin keinen Regierungs- oder Ständerat hat.

Anders verhält es sich in der deutschsprachigen Schweiz. 18 Regierungsräte zählt die SVP da. Im Kanton Schaffhausen und Thurgau stellt sie gar 2 von 5, in den Kantonen Appenzell-Ausserrhoden, Nidwalden, Schwyz, Zug und Zürich hat sie eine Doppelvertretung im jeweiligen Siebnergremium. Hinzu kommen je 1 SVP –Regierungsrat im Aargau, in Bern, in St. Gallen und in Uri.

Klar besser vertreten sind in den Kantonsregierungen die FDP, CVP, aber auch die SP und die GPS. Letztere ist die eigentliche Siegerin des Jahres, denn sie schaffte in den Kantonen Basellandschaft, Zürich und Freiburg den Einzug in die Regierung, und in der Waadt ist sie erstmals mit 2 Vertreterinnen präsent.

Genau umgekehrt entwickelte sich 2011 die SVP. In Baselland und der Waadt gingen ihre Sitze direkt an die Grünen, während sie den Einzug in Luzern verpasste, ebenso im Tessin und Freiburg. Einzig in den Kantonen Zürich und Appenzell Ausserrhoden fanden ihre beiden Regierungsräte Bestätigungen.

Bilanziert man die SVP-Stärke in den Kantonen kommt man auf knapp 12 Prozent. Das ist rund die Hälfte des Wähleranteils bei den kantonalen Parlamentswahlen. Genauso wie auf Bundesebene. Es zeigt, dass die SVP nicht nur im Bundesbern Mühe hat, ihre Kandidaten in der Bundesversammlung durchzubringen. Auch in Volkswahlen kommt sie mit ihren aktuellen Bewerbungen ausserhalb der eigenen Partei nicht überall gut an. Denn mit einem von sieben BundesrätInnen stellt die SVP auf schweizerischer Ebene 14 Prozent der Regierungsmitglieder.

Das alles läst nur einen Schluss zu: Die SVP hat neuerdings verbreitet Mühe, mehrheitsfähige KandidatInnen zu stellen. In Proporzwahlen schneidet sie seit 2 Jahrzehnten als wählerstärkste Partei ab, bei Majorzwahlen 2011 agiert sie aber in erheblichem und wachsendem Masse isoliert.

Claude Longchamp

Von der Strategie der SVP bei den Bundesratswahlen

Eigentlich ist alles ganz einfach: Die SVP will in den Bundesrat, mit 2 Hardlinern und 2 FDP-Vertreter, um die Mehrheit unter Ausschluss der CVP zu sichern. So wie es vor der Abwahl von Christoph Blocher der Fall war. Dabei überschätzte sie sich bei den jüngsten Wahlen selber, und unterschätzte sie die Entschlossenheit der Allianz hinter Eveline Widmer-Schlumpf; sie schätzte auch die Geschlossenheit der CVP falsch ein, als sich die Fraktion von den anfänglichen Zielen der Partei abzuwenden begann.

topelement
Verwässerung der Strategie bis zur Unkenntlichkeit: SVP-Spitze nach der Wiederwahl von Bundesrätin Widmer-Schlumpf

Zur Strategie der SVP
In der einfachsten Definition handelt es sich bei einer Strategie um den möglichst direkten Weg von einem Ist- zu einem Soll-Zustand zu kommen. Abweichung davon sind möglich, indessen nur mit der Verwässerung der Strategie.

Der Ist-Zustand ergab sich im konkreten Fall aus der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat. Der Soll-Zustand leitet aus dem Ziel ab, die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrats zwischen 2003 und 2007 wieder anzustreben, die berühmt gewordene “Wiederherstellung der Konkordanz” also: 2 Vertreter der SVP, 2 der SP, 2 der FDP und 1 der CVP. Schritt 1 vollzog man Ende 2008 mit der Wahl von Ueli Maurer. Nun sollte Schritt 2 erfolgen, durch die Abwahl von Eveline Widmer-Schlumpf und ihren Ersatz durch einen SVP-Bundesrat, der, ohne Abstriche, das Gedankengut der Partei in die Bundesregierung einbringt.

Phase 1: Der Wahlkampf
Bis zum 23. Oktober 2011 schien diese Ziel erreichbar: Die SVP strebte bei den Nationalratswahlen 30 Prozent Wähleranteil an und wollte ihre Vertretung im Ständerat klar erhöhen. Beabsichtigt war eine Schwächung der CVP. Zulegen wollte dman durch eine verbesserte Mobilisierung, indessen nicht mehr von WechselwählerInnen der FDP profitieren, denn auf die Stärke dieser Partei würde es am Tag X ankommen. Vier Sitze für SVP und FDP schienen mit dem Support der rechten Kleinparteien wie die Lega möglich.

Wir wissen es: Es kam anders. SVP und FDP verloren bei den Nationalratswahlen zusammen 5 Prozent WählerInnen-Anteil; es reichte für 42 Prozent. Auch bei den Ständeratswahlen gab es für beide Parteien Verluste. Gestärkt wurden die neuen Kleinparteien wie BDP und GLP, aber auch die SP legte an Sitzen zu. Der Durchmarsch der SVP bei den Bundesratswahlen war vorerst so gestoppt. Zudem, die Favoriten für einen Posten im Bundesrat fielen bei den Ständeratswahlen durch: Fraktionschef Caspar Baader wurde nicht gewählt, Parteipräsident Brunner scheiterte, sein Vize, Adrian Amstutz, wurde gar abgewählt. Auch für Jean-Francois Rime und Guy Parmelin reichte es nicht. Das Kompliment einer Mehrheitswahl hatte damit keiner der Favoriten. Das Ende der Phase 1.

Phase 2: Die neue Personalsuche
Ohne personelle Kompromisse würde es nicht gehen. Blocher portierte Regierungsräte aus der zweiten Reihe, gemässigte Fraktionsmitglieder mobilisierten ihre Kollegen. Denn ohne Alternativen bei den Kandidaten würden nur der Angriff auf andere Parteien bleiben, was sich mit dem Slogan zur Konkordanz nicht vertrug.
Die entscheidende Avance kam aus den Reihen der CVP; ähnlich wie die GLP verschloss sie sich einer Zweiervertretung der SVP nicht, wenn der Kandidat aus der Deutschschweiz genügend Distanz zur Führungsriege haben würde. Das Dilemma der Partei, das in Partei und Fraktion zu unterschiedlichen Antworten führen konnte, erkannte die “Weltwoche” frühzeitig und plädierte für eine Kandidatur von Nationalrat Peter Spuhler bei gleichzeitiger Firmenübernahme durch Blocher. Der Deal platzte am Desinteresse des Thurgauers.

In der Phase 2 änderte die SVP ihr Ziel nicht wirklich, passte es aber mit einem Angebot an die CVP. MIt dem nötigen Rückhalt der Fraktion und Parteispitze wurde Bruno Zuppiger, Präsident der Schweizerischen Gewerbeverbandes, nominiert. Christophe Darbelley hatte ihn, wiederum in der “Weltwoche”, demonstrativ gelobt. Diese “Weltwoche” war es allerdings, die Zuppiger, kurz nach der Nomination, mit einem gezielten Artikel diskreditierte. Die Interpretationen gehen auseinander: für Viele im Bundesbern geschah das mit Absicht, für einige mit Tolerierung der SVP-Spitze, während sich diese selbst trotz Wissen um Hintergründe überrascht gab. Ein Einer-Ticket mit Rime lehnte die FDP, die wichtigste Bündnispartnerin, ab, denn mit einem Romand war die anvisierte Bündnerin sicher nicht zu schlagen. Nachnominiert wurde Hansjörg Walther, der frisch gewählte Nationalratspräsident – mit der Hoffnung, via Bauern-Netzwerk die Phalanx zugunsten von Eveline Widmer-Schlumpf brechen zu können. Der Plan zeigte zwar gewisse Wirkungen, indessen nicht im erwarteten Ausmass, denn die CVP hatte grossmehrheitlich eine von Kandidaten unabhängige Position eingenommen und für die BDP stand die Wahl eines weiteren SVPlers in den Bundesrat ausser Diskussion. Selbst die GLP kippte, nachdem das Verfahren für Viele aus dem Tritt geraten war.
Nun zeichnete sich ab, dass auch die modifizierte Strategie scheitern würde, denn es blieb nur noch das Angebot der SP, mit einem Angriff auf die FDP zum Ziel zu kommen. Peter Spuhler sondierte übers Wochenende vor der Wahl die Unterstützung hierfür; Rime war bereit, Walther nicht.

Phase 3: Die Hektik der letzten Stunden
Die Phase 3 umfasst die Stunden vor und während der Wahl. Bestimmt war sie von der SVP-Hoffnung, die Abwahl von Eveline Widmer-Schlumpf gelinge aus der Dynamik des Verfahrens heraus. Nötig wäre gewesen, dass Widmer-Schlumpf in der ersten Runde das absolute Mehr verfehlen würde und Walther ihr im zweiten Wahlgang gefährlich nahe gekommen wäre. Auch hier kam es anders: Denn die Allianz aus SP, CVP, BDP, unterstützt von GPS und GLP, hielt weitgehend, sodass die BDP-Bundesrätin auf Anhieb mit 131 Stimmen gewählt wurde. Zudem teilten sich die Stimmen für die SVP-Kandidaten, indem Walther und Rime je ihren Support bekamen, jedoch weit weg von anvisierten Ziel waren.

Was jetzt geschah, verdient den Titel “Strategie” gar nicht. Ursprünglich angekündigt war von der SVP, die Wahlen zu unterbrechen, um sich neu aufstellen zu können. Dann erwartete man nach der Wahl von Widmer-Schlumpf eine Erklärung von Caspar Baader, der den Bruch mit der Konkordanz festhalten würde, womit sich die SVP frei fühlen konnte, jeden weiteren Sitz anzupeilen. Beides geschah nicht, wohl auch deshalb, weil das auch die Wiederwahl von Ueli Maurer gefährdet und die direkte Opposition bedeutet hätte. Zur allgemeinen Ueberraschung passierte es aber auch nicht bei der Bestätigung von Didier Burkhalter. Fast schon glaubte man, die SVP habe kapituliert.

Erst als die Wiederwahl von Sommaruga an der Reihe war, kündigte der SVP-Fraktionspräsident an, Rime stehe als Herausforderer in allen Wahlgängen zur Verfügung, während sich Walther aus dem Rennen genommen habe. Der Angriff auf die FDP wurde damit begründete, die Partei habe abmachungswidrig nicht geschlossen für die SVP und gegen die BDP gestimmt, was die Fraktionspräsidentin jedoch energisch bestritt. Nach Zeitungsberichten habe es sich um eine abrupt beschlossene Gegenoffensive des Strategiechefs Christoph Blocher gehandelt. Auch dieses Ergebnis kennen wir: Rime scheiterte drei Mal – mit abnehmender Stimmenzahl, die schliesslich unter der SVP-Fraktionsstärke war.

Drei Fehleinschätzungen der SVP
Es zeichnen sich drei Fehleinschätzung ab: Zuerst die erwarteten Wahlsiege im National- und Ständerat; dann die Unterschätzung der Eveline Widmer Schmid-Allianz, schliesslich der Grad an Ent- und Geschlossenheit der CVP. Das führte dazu, dass nur das ungeliebte Angebot der SP blieb, wechselweise als Falle Levrats oder als Geiselhaft durch die SP tituliert. In der Tat gab es für die SVP gute Gründe, nicht darauf einzusteigen, denn es war damit verbunden, auf die Abwahl von Widmer-Schlumpf zu verzichten und es hätte aus FDP-Reihen den Vorwurf provoziert, selber die Konkordanz brechen zu wollen. Denn die doppelte Doppelvertretung war das gemeinsame Interesse von SVP und FDP, sich gegen den BDP-Anspruch zu stellen. Das hatte nicht nur eine machtpolitische Begründung; es war auch dadurch legitimiert, dass die Mehrheit für beide Parteien nur durch einen dritten Sitz für die SVP in der Zukunft oder durch die Rückeroberung des zweiten Sitzes der FDP nach den Wahlen 2015 möglich geworden wäre. Beides erschien unwahrscheinlich.

Mit anderen Worten: Die Bundesratswahlstrategie der SVP scheiterte, weil man sich erstens mit der Kritik an der Personenfreizügigkeit im frühen Wahlkampf überschätzte und nicht von einer Gegenreaktion aus Wirtschaft und Politik ausging; zweitens weil man die Konkurrenz unterschätzte, die Widmer-Schlumpf teils aus personellen Gründen, vor allem aber auch aus inhaltlichen Grünen wiederwählte, um den Ausstieg aus der Atomenergie zu sichern; und drittens, weil man die CVP falsch einschätzte, die im Wahljahr aber immer deutlicher von der Fraktions- wie auch der Parteispitze Richtung Einheit geführt wurde.

Das alles hat auch mit dem wiederholt inszenierten Fremdbild der “anderen Parteien” in der SVP selber zu tun. Es geht davon aus, dass praktisch die ganz FDP und eine kleine, aber entscheidend Minderheit der CVP zur SVP hält, wie das 2003 bei der Wahl von Christoph Blocher in den Bundesrat der Fall war. Dem ist teilweise seit den letzten Wahlen nicht mehr so, denn die CVP kümmert sich um den Neuaufbau der politischen Mitte, und die FDP weiss ihre Position personal- und sachpolitisch mit Bündnissen in alle Richtung geschickt zu halten, auch wenn elektorale Erfolge ausbleiben. Die SVP wiederum hat sich immer mehr von den früheren Partnern isoliert, indem sie ihre Attraktivität bei Proporzwahlen maximiert hat, dabei aber übersah, dass das bei Majorzwahlen zum Problem wurde – egal, ob die Wahlberechtigten oder die National- und StänderatInnen die Entscheidungen fällen.

Weiterhin zwischen Regierungsverantwortung und Oppositionspolitik
Einmal gestartet, war der Plan, den zweiten Bundesratssitz zum Maximaltarif zurückzuerobern, nicht mehr zu stoppen; man konnte nur noch die Ziele bis zu ihrer Unkenntlichkeit verwässern. Oder aber man verfolgte angesichts des voraussehbaren Scheiterns mindestens am Schluss auch eine ganz andere second best Variante: den Gang in die Opposition.

Ob es dazu kommt oder nicht, bleibt offen. Es zeichnen sich Widerstände in der Fraktion und den Kantonalparteien mit vom Volk gewählten Regierungsräten ab. Es bleibt jedoch die Herausforderung, ohne Positionsänderung rechts wieder wachsen zu müssen. Halb Regierung, halb Oppositionspartei dürfte die Losung. «Wir müssen nicht mehr mithelfen, jeden Dreck zuzudecken», kennzeichnet Strategiechef Christoph Blocher diese Position im Nachhinein – dick übertüncht mit lauten Klagen, alles getan zu haben, um zum Erfolg zu kommen, aus Gründen der willentlichen Demütigung aber ausgegrenzt worden zu sein.

Das wichtigste Signal hierzu sendete am Wahltag Ueli Maurer aus. Ihm kommt in dieser Frage die Schlüsselrolle in der Vermittlung von Regierung und Opposition zukommt. Seine Wiederwahl verfolgte er mit den Wahlmitgliedern; er hielt sie tief, dafür die Wut hoch, weil Kollegin Widmer-Schlumof nicht abgewählt worden sei – vor laufender Fernsehkamera. Nun wird er alleine SVP-Bundesrat sein, der zweitbesten und auch zweitschlechtesten Variante. Denn eines wollte die SP von Anfang an nicht: Mit zwei Bundesräten eingebunden zu sein und mit der CVP oder BDP Mehrheiten für die eigene Politik im Bundesrat suchen zu müssen. Der Bruch von 2007/8 wirkt offensichtlich nach – bis in den heutigen Bundesrat.

Claude Longchamp

Die Schweiz hat einen alt-neuen Bundesrat

Ich hatte gestern einen unvorhergesehenen Eingriff, der mir seither den Mund verbietet. Mit Reden ist heute nichts, deshalb schaue ich die Bundesratswahlen am Fernseher zu – und protokolliere und kommentiere sie als Blogger.

SWITZERLAND-POLITICS-GOVERNMENT
Der Bundesrat 2012-2015 bei seiner Vereidigung

Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey macht einen glücklich Eindruck, als sie vor der Vereinigten Bundesversammlung verabschiedet wurde. Erinnert wurde an ihren Satz beim Antritt, eine aktive und sichtbare Aussenpolitik betreiben zu wollen, denn in der direkten Demokratie wäre alles andere falsch; in der Tat, sämtliche Volksabstimmungen aus ihrem Departement gingen während ihrer Regierungszeit im Sinne der Behörden aus. Da heisst nicht, dass sie sich selber nur lobte, denn sie erwähnt auch die zu geringe Präsenz der Schweiz in der Welt dar. Die Rücktrittsrede für MCR, wie sie bei Insidern hiess, hielt nicht wie es die Tradition will Nationalratspräsident Hansjörg Walther, sondern Hans Altherr, sein Kollege auf dem obersten Stuhl im Ständerat. Denn Walther wird selber Kandidat sein, wenn es um die Nachfolge von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf geht. Und damit sind wir beim Thema: Die Gesamterneuerungswahl des Bundesrates der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Als einziges Parlament der Welt wählt die Bundesversammlung die Mitglieder der Regierung. Sie macht es Sitz für Sitz – in Einzelwahlen. Das ist nicht ohne, denn der Bundesrat muss anschliessend als Kollegium funktionieren.

Die Erklärungen der FraktionspräsidentInnen
Vor der Wahl erklären sich die FraktionspräsidentInnen. Sie erklären die Entscheidungen von gestern und heute. Insgesamt bemühen sie sich um Zurückhaltung, denn sie wissen, dass heute viel auf dem Spiel steht.

SVP: Zuerst spricht Caspar Baader von der SVP. Er zeichnet ein düsteres Bild des Umfeldes der Schweiz, was ein konkordantes Verhalten bei der Bundesratswahl bedinge. Diese Wahl habe nach der Grösse der Partei zu erfolgen. Er empfiehlt Jean-François Rime und Hansjörg Walther als Kandidaten für den Sitz von Widmer-Schlumpf. Zudem wolle man Doris Leuthard und Ueli Maurer wählen, während er alles andere offen lässt.
SP: Ursula Wyss, die Sprecherin der SP, kritisiert anschliessend, dass der rechte Block, der bei der Parlamentswahl 16 Sitze verloren habe, gestärkt werden wolle. Die SP anerkenne den Anspruch der SVP auf 2 Sitze, aber nur, wenn sie gegen die FDP antrete. Wyss erklärt, die SP werde heute alle bisherigen Regierungsmitglieder wiederwählen. Es werde keine Spielchen mit den Stimmen der SP geben, nicht zuletzt, damit einer der SP-Kandidaten als Nachfolger für Genfer SP-Bundesräte werde.
FDP: Für Gabi Huber von der FDP geht es heute mehr als um Harmonie, sondern um die Wahl des Bundesrates. Sie plädiert für die Rückkehr zur Zauberformel, bestimmt nach dem Wählerwillen, denn nur die Konkordanz lasse Volksrechte zu. Ihre Fraktion werde deshalb 2 SVP wählen; sie empfiehlt auch die beiden FDP-Bundesräte zur Wiederwahl.
CVP/EVP: Urs Schwaller spricht für die CVP/EVP-Fraktion und lobt CVP-Bundesrätin Doris Leuthard als künftige Bundesrätin. Im übrigen will seine Gruppe alle bisherigen Bundesräte bestätigen und wird einen der beiden SP-Kandidaten unterstützen. Ziel sei es die Kontinuität und Stabilität zu sichern. Eine Abwahl von Widmer-Schlumpf lehnt er ab, denn die Untervertretung der SVP durch die SVP selber geschaffen worden.
GPS: Antonio Hodgers, Fraktionspräsident der Grünen, meint, es bestehe keine Konkordanz, was Konkordanz sei; deshalb seien die Mitglieder frei, das zu wählen, was sie für das Beste halten. Er will so eine Regierung schaffen, die allgemeine Orientierung gebe, die nötig seien, wie zum Beispiel in der Energiepolitik.
GLP: Gemäss Sprecherin der GLP, Tiana Moser, werde man anders als angekündigt der SVP keinen zweiten Sitz gewähren. Angesichts des missglückten Nominiationsverfahrens sei das Vertrauen in die SVP gesunken. Vielmehr wird man Eveline Widmer-Schlumpf wiederwählen; sie empfiehlt zudem Alain Berset als neuen SP-Bundesrat.
BDP: Schliesslich empfiehlt Hansjörg Hassler Eveline Widmer-Schlumpf aus Ueberzeugung als Bundesrätin. Der Sonderfall sei nicht von der BDP, sondern von der SVP mit dem Ausschluss ein ganzen Kantonalpartei geschaffen worden. Er lobt sein Regierungsmitglied auch wegen ihrer bisherigen Arbeit in der Bankenfrage genauso bei der Energiewende: befliessen, konsequent und mutig sei ihr Handeln.

Die Wahl
Nach einer Stunde schreitet man zur Wahl. Wahlberechtigt sind 245 ParlamentarierInnen, denn Peter Föhn, SVP-Ständerat aus dem Kanton Schwyz, konnte wegen einer Wahlbeschwerde nicht rechtzeitig vereidigt werden. Das absolute Mehr liegt demnach bei 123 Stimmen.

Als Erste wird die Doris Leuthard wiedergewählt. Sie schafft es komfortabel mit exzellenten 216 von 227 gültigen Stimmen. Sie weiss damit fast die ganze Bundesversammlung hinter sich.
Damit steigt die Spannung, denn es geht es um die vielbeachtete Besetzung des Sitzes von Eveline Widmer-Schlumpf. Und sie schafft es auf Anhieb! Sie vereinigt 131 Stimmen auf sich; 63 sind für Hansjörg Walther und 41 entfallen auf Jean-Francois Rime. Mitte/Links hat sich damit durchgesetzt, SVP und FDP haben ihre gemeinsame Stimmkraft auf die beiden SVP-Kandidaten verteilt – fast genau im Verhältnis der beiden Fraktkionen und ihren Zugewandten. Damit ist auch diese Entscheid eindeutig. Der von der SVP angekündigte Unterbruch der Wahl bleibt aus, während bei der BDP die Freude gross ist. Bei der SVP wird in den Wandelhallen die Volkswahl des Bundesrats wieder ins Spiel gebracht. Doris Fiala, FDP-Nationalrätin meint, Goethe zitierend, an die Adresse der SVP: “Wer das oberste Knopfloch verfehlt, hat Mühe mit dem Zuknöpfen”.
Ueli Maurer, bisherige SVP-Bundesrat, ist mit 159 Stimmen gewählt worden. 41 ParlamentarierInnen stimmten für Hansjörg Walther, 13 für Luc Recordon von der GPS. Damit macht Maurer ein gutes Resultat – und distanziert sich klar von Walther, der ihm als einziger hätte gefährlich werden können.
Unbestritten ist die Wiederwahl von Didier Burkhalter, dem ersten Romand und FDP-Bundesrat, der wiedergewählt werden muss. Son résultat: 194 voix! Jean-François Rime est retenue par 24 parlamentaire.
Das Wahlprozedere wird an dieser Stelle unterbrochen. Caspar Baader fordert einen zweiten Bundesratssitz für die SVP, bevor es um die Wiederwahl von Simonetta Sommaruga geht. Er erklärt, dass Hansjörg Walther nicht mehr zur Verfügung steht, dass man aber Jean-François Rime in den Bundesrat wählen solle – er treten bei jedem Wahlgang an, denn die FDP habe nicht geschlossen für die SVP gestimmt. Ursula Wyss kontert: Die Ankündigung sei ein simpler Racheakt, der nicht erstaune. Denn seit 10 Jahren trete die SVP bei jeder SP-Wahl als Konkurrentin an. Sie bittet die anderen Fraktionen, jetzt Wort zu halten. Die FDP schweigt offiziell, inoffiziell wird das Störmanöver der SVP kritisiert.
Trotz SVP-Attacke: Simonetta Sommaruga wird mit glanzvollen 179 Stimmen gewählt. Rime kommt auf 61 Stimmen, der Stärke seiner Fraktion. Die Antwort der anderen Parteien ist damit auch klar.
Nun kommentiert die FDP-Fraktionspräsidentin die Lage. Sie beschuldigt die SVP, mit ihrem Pauschalangriff auf bisherige Bundesräte unglaubwürdig geworden zu sein. Für ihre Fraktionsmitglieder lege sie die Hand ins Feuer, dass sie im zweiten Wahlgang für die SVP gestimmt hätten. Sie brüskiere damit ihren einzigen Verbündeten bei Bundesratswahlen. Sie empfiehlt die Wiederwahl von Johann Schneider-Ammann, dem ehemaligen Unternehmer, der die Sozialpartnerschaft hoch halte und hinter dem alle, ausser der SVP stehen.
Die Vereinigte Bundesversammlung gibt auch hier ihre eindeutige Antwort. Gewählt ist mit respektablen 159 Stimmen Johann Schneider-Ammann. Rime kommt in diesem Wahlgang auf 64 Stimmen. Auch hier ist die Analyse recht einfach: Alle Fraktionen stimmten grossmehrheitlich entsprechen den Empfehlungen.
Zum Schluss steht die Wahl eines neuen SP-Kandidaten an. Ursula Wyss präsentiert in Französische die beiden Kandidaten, Pierre-Yves Maillard, Waadtländer Regierungsrat, und Alain Berset, Freiburger Ständerat.
Im ersten Wahl lautet das Ergebnis: Absolutes Mehr ist 122. Stimmen haben erhalten: Berset 114, Maillard 59, Rime 59, Marina Carrobio 10. Da keine Kandidatur das absolute Mehrheit erreicht hat, findet hier ein zweiter Wahlgang statt. Favorit ist mit diesem Resultat aber der Freiburger Alain Berset. Sein Ziel verfehlte er knapp, letztlich wegen einer dispersen Gegnerschaft, bestehend aus Tessiner PolitikerInnen, aus SVP-Stimmen und einer gewissen Uneinigkeit der Mehrheit bezüglich der beiden Kandidaten.
Im zweiten Wahlgang wird Aain Berset mit 126 Stimmen gewählt. Die anderen Stimmen gehen zu 64 an Maillard und an 53 an Berset. Der 39jährige Freiburger Oekonom erklärt unmittelbar danach in vier Sprachen die Annahme der Wahl.

Der Kommentar
Die Bundesratswahl 2012 ist vorbei. Gewählt wurde der Status Quo. Die Schweiz in der Bedrohung entschied sich, keine bisherigen BundesrätInnen abzustrafen grösstmöglichen personalpolitischen Konsens zu suchen. So wurden alle amtierenden Reigerungsmitglieder teilweise mit sehr guten Stimmenzahlen wiedergewählt. Für die zurückgetretene Micheline Calmy-Rey zieht der bisherige Freiburger Ständerat Alain Berset in die Bundesregierung ein.

Anders als im Vorfeld medial vielfach vermutet, gab es keine Ueberraschungen, und es brauchte es nicht unzählige Szenarien, um die Mechanik der Bundesratwahlen zu durchschauen. Zu hoch waren die Interessen der bestehenden BundesrätInnen und ihrer Parteien, – zu fehlerhaft war das Niveau des SVP-Angriffs. Am Schluss war die Kontinuität im Bundesrat entscheidend, verbunden mit einer gewählten Stabilität, die der Mehrheit im neuen Parlament nahe kommt.

Ohne es übertreiben zu wollen: die heutige Wahl war eine Richtungsentscheidung. Die Mitte wurde bei den Parlamentswahlen gestärkt, und sie ist heute nicht mehr nur mit der rechten Hälfte des Parlaments, nein, auch mit der linken mehrheitsfähig. Die Mitte besteht dabei nicht mehr aus CVP und FDP, sondern aus CVP und BDP, unterstützt von GLP. SVP und FDP mögen dagegen nicht mehr ankommen, was ihren Zusammenhalt schwächt. Von der Neuinstallierung einer bürgerlichen Regierung, wie man es verschiedentlich ankündigte, ist man heute soweit weg wie noch nie.

Um es aber klar zu sagen: SP, CVP und BDP, im Bundesrat mit vier PolitikerInnen vertreten, verfügen nur im Ständerat eine gesicherte Mehrheit, im Nationalrat jedoch nicht. Doch haben sie mit der neuen Energiepolitik, die sie gemeinsam gestalten wollen, die entscheidende Brücke gebaut, dass GPS und GLP für ihre BundesrätInnen stimmen konnten. Damit sicherten sie die Basis für die klare Wahl von heute – auch von Eveline Widmer-Schlumpf und iher BDP.

Frohlocken kann heute die SP: Obwohl die Nachfolge von Micheline Calmy-Rey als Letzte geregelt wurde – und das geflügelte Wort gilt, dass die Hunde den Letzten beissen können – setzte sie sich dank hohem Können und Geschick auf der ganzen Linie durch. Sie hat über zwei Bundesratswahlen hinweg den Frauen –und Männersitz zwischen den Sprachregionen ausgetauscht. Sie hat nun ihre zwei WunschkandidatInnen in der Bundesregierung. Und sie hat sich, anders als auch schon, im politischen Zentrum mindestens personelle Unterstützung verschafft.

Die FDP hingegen entging einer Abstrafung für die Parlamentswahlen. Sie unterstützte die SVP, wurde dafür vom rechten Partner nicht belohnt. Die SVP griff nicht nur die SP, auch den FDP-Vertreter Johann Schneider-Ammann. Selbst wenn Kandidat Walther dafür nicht zu haben war. Erfolglos, denn die Vereinigte Bundesversammlung gab ihre eindeutige Antwort auf das Störmanöver – und sie belohnte die FDP mit ihrer Regierungsarbeit, die selbstbewusst auf sich ausgerichtet, aber auf alle Seiten offen ist.

Verliererin der heutigen Wahl ist die SVP. Sie ist mit knapp 27 Prozent Wähleranteil unbestritten die stärkste Partei und auch die erste Fraktion unter der Bundeskuppel. Proporzwahlen haben ihr geholfen, Profil und damit Unterstützung zu gewinnen; bei Majorzwahlen, wie in den meisten Kantonen für den Ständerat, wird das schon schwieriger, denn hier entscheiden Allianzen über den Erfolg und Misserfolg. Bei Bundesratswahlen schliesslich ist Verlässlichkeit im politischen Verbund das A und O. Genau das fehlte mindestens heute: Kein Wahlsieg der SVP trieb die Oeffentlichkeit, alles für die SVP zu tun. Kein Kandidat aus der zweiten Reihe überzeugte so, dass man nicht um ihn herum kommen konnte. Und keine Partei- und Fraktionsspitze sicherte mit einem geordneten Nominierungsverfahren den 2. Bundesratssitz ab.

Die Schweiz hat damit eine neue Regierung, die ähnlich ist wie die alte. Sie muss sich als Kollegialbehörde finden, was angesichts der personellen Zusammensetzung durchaus möglich ist. Denn die Aera der Alphatiere im Bundesrat ist mit dem Ausscheiden von Personen wie Christoph Blocher, Pascal Couchepin und Micheline Calmy-Rey vorbei.

Es bleibt aber auch Unerledigtes: Die Konkordanz sei gebrochen worden, hiess die härtere Variante der SVP-Anklage; in der weicheren kennzeichnete man die heutige Wahl so, dass die Konkordanz nicht wieder hergestellt worden sei. Angekündigt wurde eine Sonderdelegiertenversammlung, die Ende Januar 2012 über die Position der Partei im Regierungssystem entscheiden solle. Die wird, wie bisher, zwischen Regierungsverantwortung und Oppostion sein. Erwähnt wurde heute auch, nun ganz auf die eingereichte Volksinitiative zur Volkswahl des Bundesrates zurückzugreifen. Die Auseinandersetzung dazu muss geführt werden.

Denn es ist das Recht der SVP, sich zu wehren; weniger berechtigt ist indessen, den Fehler für die missratene Wahl ausschliesslich bei der Konkurrenz zu suchen, denn die SVP verhielt sich trotz gemässigtem Zweierticket mehrfach ungeschickt. Ihr ist zu raten, die heutige Nicht-Wahl als Denkzettel aufzufassen, sich an Haupt- und Gliedern zu erneuern, und aus diesem Prozess heraus, einige in- und extern gut abgestützte Kandidaturen für die kommenden Bundesregierungen zu aufzubauen.

Heute wurde, so meine Bilanz, die Konkordanz nicht abgeschafft, denn sie gründet tief in Kultur und Struktur der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Nicht befördert wurden indessen die Regierungskonkordanz, die nach 2003 und 2007 zum dritten Mal gelitten hat. Den Stand der Dinge hat der grüne Fraktionspräsident, der Genfer Antonio Hodgers, vor der Wahl treffend auf den Punkt gebracht: Es besteht keine Uebereinstimmung mehr, was die Ueberstimmung zwischen den Parteien bei Bundesratswahlen sein soll. Konkordanz verkommt so zum inflationär verwendete Unwort bei Bundesratswahlen – was eigentlich nicht sein darf! Was für die Einen apodiktisch die alte Arithmetik ist, sind für die Andern ebenso unversöhnlich die Inhalte. Vielleicht gibt es einen Ausweg über die Köpfe. Das jedenfalls sagen eigentliche auch alle Bevölkerungsbefragungen. Für sie ist Konkordanz, wenn ein Team, das kooperieren will, die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam anpackt. Ein Wahlsystem, das dem mehr Rechnung trägt als das jetzige, könnte hier hilfreich sein.

Claude Longchamp

Kurzanalyse der GPS-Niederlage – für die GPS

Meine Analyse, wieso die Grünen bei den Wahlen zu wenig mobilisieren konnten, erstellt für Greenfo.

Am stärksten verloren haben bei den Wahlen 2011 die rechten Parteien SVP und FDP. Was bedeutet das für die Schweiz?

Zunächst ein Novum. Denn die SVP verlor in der Nachkriegszeit noch nie so viel von einer Nationalratswahl zur anderen – und das bei gleichzeitigen Rückgängen von FDP und CVP. SVP und FDP haben gesamtschweizerisch noch 42 Prozent WählerInnenanteil. Sie sind damit klarer denn je von einer Mehrheit unter den Wählenden entfernt. Das muss bei den Bundesratswahlen Konsequenzen haben. Eine Mehrheit der Bundesratssitze für die beiden Parteien, wie sie zwischen 2003 und 2007 bestand, darf es nicht mehr geben.

Weniger Polarisierung – mehr Mitte: Ist das wirklich ein politischer Trend in Richtung Lösungen oder ist es nur, weil es zwei junge und neue Parteien gibt?

Es ist ein Trend im Parteiensystem. Es haben sich zwei neue Parteien etablieren können. Zusammen machen sie 10 Prozent aus. Beide können auf Neuwählende und Unzufriedene bei den grösseren Parteien zählen. Vieles hängt jetzt davon ab, ob sich die neue Mitte sach- und machtpolitisch im Parlament formiert oder nicht. Wenn ja, ist meine Annahme, dass die Pole bei der Lancierung von Lösungen unwichtiger werden, sich häufiger die Frage stellen müssen, ob sie mit dem Zentrum kooperieren wollen oder nicht. Insgesamt wäre mit einer Deblockierung in verschiedenen Bereichen zu rechnen, wie das anhand der Kernenergiefrage schon im Wahljahr sichtbar wurde.

Die Grünen haben Stimmen und Sitze verloren. Wieso ist es ihnen nicht gelungen, mehr Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren?

Die «Grünen» haben weder Stimmen noch Sitze verloren. Verloren hat die GPS. Ihr Problem ist, dass sie mit dem Auftreten der GLP «die Grünen» nicht mehr alleine repräsentieren kann, weder mit ihren ökologischen Projekten noch mit ihren sozial-, wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellungen. Mit den Wahlen in Basel-Landschaft und Zürich wurde klar: Die Gewinnchancen Grüner PolitikerInnen stiegen nach dem Reaktorunfall in Fukushima, die der GPS jedoch nicht. 2007 mobilisierten die Grünen ausgehend von der globalen Kampagne von Al Gore auf ihrem Kernthema, der Forderung nach einer neuen Klimapolitik, und in der Schlussphase mit einer klaren Abgrenzung von Christoph Blocher. In beidem stachen sie die SP aus, und sie gewannen am meisten aufgrund Wählerwanderungen im linken Lager. Das war 2011 nicht mehr der Fall, ohne dass die GPS einen Ersatz dafür fand. Vor allem in der Hauptphase des Wahlkampfes, als der starke Franken, die Wirtschaftslage und die Sorge um die Arbeitsplätze an Bedeutung gewannen, konnte die GPS nicht mehr punkten. Die GPS muss wohl auch ihren Wahlkampf kritisch analysieren (lassen).

Wieso sind bei den Grünen fast nur Frauen abgewählt worden? Ist das Zufall?

Jede Serie geht einmal zu Ende. Die langfristigen Indikatoren zur Frauenrepräsentation im Parlament auf lokaler Ebene sprechen schon seit einigen Jahren von der generellen Trendumkehr. Hauptgrund ist, dass die «Nachhol»-Argumentation alleine nicht mehr zieht und das generelle Politklima konservativer geworden ist. Das alles müssen Parteien wie die GPS, die sich der Frauenförderung verschrieben haben, ernst nehmen. Darüber hinaus gibt es aber keine Hinweise, dass es eine Zwangsläufigkeit bei einer bestimmten Wahl in einem bestimmten Wahlkreis für eine bestimmte Partei gibt. 2007 trat die GPS bewusst mit Frauen im Wahlkampf auf, allen voran mit Ruth Genner. 2011 gab es das von aussen gesehen nicht mehr. Unglücklich war sicher auch der Auftritt der GPS bei den Bundesratswahlen 2010 – mit einer erfolglosen Frauenkandidatur.

In Zürich und Bern haben die Grünen 2 bzw. 3.4 Prozent Wähleranteil verloren, in Basel-Stadt und Neuenburg 1.3 bzw. 2.3 Prozent zugelegt. Wie erklären Sie sich die unterschiedlichen Ergebnisse in den Kantonen?

Das Parteiensystem ist im Umbruch: Die GLP hat etwas rot-grün Wählende angezogen. Zudem mobilisiert die Abgrenzung von der SVP nicht mehr im gleichen Masse. Und schliesslich müssen Parteien wie die GPS damit werben, was sie an konkreten Veränderungen erreicht haben. Wie stark die Effekte in den Kantonen sind, hängt vom Auftreten der neuen Parteien, in diesem Fall der GLP, ab, von ihrem Personal, von ihren Projekten, aber auch von den Leistungen in Regierung und Parlament auf der städtischen und kantonalen Ebene. In Neuenburg ist die Antwort einfach: Es gibt keine ernstzunehmende GLP. In Basel-Stadt trifft der Trend mehr die SP als die GPS. In Zürich und Bern ist demgegenüber, ausgehend von den grossen Städten, der Umbruch im vollen Gang.

Bedeutet die Abnahme der Polarisierung eine Abnahme der Polarisierung links-rechts oder eine Abnahme der Polarisierung liberal-konservativ?

Parteipolitisch sind die Gegensätze zwischen Links und Rechts grösser. Meines Erachtens sind sie, erstmals seit 1999, nicht mehr gewachsen. Neu aufgemischt wurde die Mitte, weil die FDP diese Position nicht mehr pflegt und die CVP eher macht- als sachpolitisch das Zentrum zu füllen versucht. Die beiden neuen Parteien haben Bewegung in die Polarisierung zwischen Rechts und Links gebracht, weil sie mit querliegenden Themen- und Personenangeboten das Parteiensystem aufgemischt haben. Das ist ihnen bei diesen Wahlen am ehesten mit der Kernenergiefrage geglückt. Die Migrationsfragen, die für den nationalkonservativen Pol von Belang sind, haben dagegen erstmals keine zusätzlichen WählerInnenstimmen gebracht.

Interview: Corinne Dobler

Kurzanalyse der FDP-Niederlage – für die Junge FDP

Die Junge FDP Baselstadt hat mich gebeten, eine Kurzanalyse der Wahlniederlage 2011. Hier die knappeste Form, die auch im Speaker’s Corner, der Zeitschrift Jungfreisinnigen erscheint. Meine generelle These ist: das 20-Prozent-Partei, liberaler Pol und vermehrte Profilierung nicht miteinander aufgehen.

Sie haben das Wahlergebnis der FDP.Die Liberalen mit einer Differenz von 0.1 Prozent sehr genau prognostiziert (effektives Ergebnis 15.1%, Ihre letzte Prognose 15.2%). Wieso wurde der «Krebsgang» der FDP.Die Liberalen in den vergangenen Wahlen nicht gestoppt?Die Fusion mit den Liberalen und der Ersatz beider Bundesräte haben der Partei neuen Schwung gegeben. Der Reaktorunfall in Fukushima brachte die Fahrt der FDP aber jäh ins Stocken. Die Reaktionen der Parteien waren mehrfach unklar. Davon hat sich die Partei nicht erholt. Während der Frankenkrise handelte zudem der Wirtschaftsminister wenig erfolgreich. Das alles hat der FDP als Partei nicht geholfen und verhindert, dass die FDP den angestrebten Tournaround schaffte. Immerhin, sie reduzierte die Verluste auf kantonaler Ebene während den letzten vier Jahren um rund die Hälfte.

Was braucht es, um die FDP.Die Liberalen wieder auf Wahlerfolge zu trimmen?
Aus meiner Sicht braucht es eine saubere Wahlanalyse. Die FDP träumt, der liberale Pol im Parteiensystem zu sein, damit an Profil zu gewinnen und 20 Prozent WählerInnen zu haben. Ob das alles miteinander zu haben ist, wurde bisher nicht untersucht, und es gibt kaum einen Benchmark unter den europäischen liberalen Parteien, dem man einfach so nacheifern könnte. Jetzt ist Grundlagenarbeit gefragt.

Wieso hat die FDP.Die Liberalen als einzige Partei ehemalige Wähler an die Nichtwähler verloren (laut Ihrer Umfrage)?
Die FDP hat in jüngster Zeit zu viele Neupositionierung aus der Situation heraus vorgenommen, ohne dass dabei eine erfolgreiche Parteistrategie sichtbar geworden war. Themen wie das Bankgeheimnis und die Kernenergie stehen typischerweise dafür. Oder: 2010 machte man bei der Allianz der Mitte mit, 2011 distanzierte man sich regelmässig davon. Das verunsichert jedes Mal einen Teil der bisherigen Wählerschaft. Einigermassen gebettet war meines Erachtens nur die Kurskorrektur in der Migrationsfrage, verbunden mit dem Nein zur EU, aber dem klaren Ja zu Personenfreizügigkeit.

Die Wahlumfragen zeigten denn auch, dass die Abwanderung von FDP-Wählenden zur SVP gestoppt werden konnte. Dafür ist der Übergang zur glp weiter offen denn je. In welche Richtung soll die kommende Parteipräsidentin bzw. der kommende Parteipräsident die FDP.Die Liberalen führen?
Zuerst eine Warnung: Die FDP hat in den letzten Jahren mehrfach die Köpfe an der Spitze ausgewechselt und gehofft, nun komme alles gut. Das war ein regelmässiger Trugschluss. Denn es braucht auch eine politische Analyse, ein Programm, das dazu passt, eine Generationenerneuerung, die damit verbunden wird, und einen Gesamtauftritt, der das klarer macht. Der momentane Stand der Dinge zeigt, dass man nur den ersten und letzten Punkt diskutieren will: die Parteispitze und die Kommunikation.

Wie soll die FDP.Die Liberalen auf die mögliche Bildung einer lockeren Fraktionsgemeinschaft von CVP, BDP und glp reagieren?
Kurzfristig können solche Veränderungen die Bundesratswahlen beeinflussen, mit dem ungemütlichen Aspekte, dass SVP und FDP zusammen Anspruch auf drei Sitze anmelden können. Aus meiner Sicht gibt es für die FDP aber zwei generellere Fragen zu klären: die erste betrifft das elektorale Phänomen, dass die Polarisierung gestoppt ist und sich ein neues Zentrum ohne weite Teile der FDP formiert hat, und die zweite betrifft die organisatorische Stärke dieser neuen Mitte. Lockere Gemeinschaften sind auch aus FDP Sicht einfach zu kritisieren. Eine gemeinsame Fraktion zwischen CVP/EVP und BDP oder eine Union zwischen CVP und BDP würden die FDP indessen ernsthaft herausfordern.

Was verstehen Sie unter Konkordanz?
Dass die relevanten politischen Kräfte, Parteien und Verbände, weitgehend auf Machtkämpfe verzichten, um in der Sache gemeinsame Lösungen zu finden, das an Personen delegieren, die ihre Gruppen vertreten, aber auch bereit sind, mit Repräsentanten anderer zusammenzuarbeiten und flexible Mehrheiten akzeptieren, damit sich alle Beteiligten auf Dauer identifizieren können. Das nenne ich Regierungskonkordanz, von der wir nach meiner Einschätzung einiges entfernt sind, während wir mit der plurikulturellen Gesellschaft, dem Föderalismus und der direkten Demokratie unverändert starke Konkordanzzwänge haben, die struktureller Natur sind.

Interview mit Speeker’s Corner, der Zeitschrift der Jungfreisinnigen in Basel

Der Tanz rund um die Konkordanz

Heute sass ich erstmals auf dem heissen Stuhl der “Rundschau” – um zu analysieren, was bei der Bundesratswahl geschieht. Was mir in den kurzen fünf Minuten an Vermittlungsleistung gelang, kann man sich hier ansehen, und was mir darüber hinaus noch wichtig gewesen wäre, kann ich hier als Blogger ausbreiten.

Rundschau vom 07.12.2011

Nehmen wir mal an: Alles verläuft nach dem Gewohnheitsrecht. Gewählt werden die sieben BundesrätInnen nächsten Mittwoch einzeln und zwar in der Reihe des Amtsalters. Dann ist Doris Leuthard als Erste wieder Bundesrätin.

Diese Woche klar verbessert haben sich die Aussichten von Eveline Widmer-Schlumpf. Denn sie hat nicht nur die Zustimmung ihrer Fraktion und die der GLP bzw. GPS. Auch die SP hat sich einstimmig für sie ausgesprochen, und bei der CVP ist es eine klar Mehrheit, die sie wiederwählen will. Zusammen macht das fast 140 mögliche Stimmen; bei 124 nötigen erträgt es da durchaus einige Abweichler von den Fraktionsvorgaben, und die BDP-Politikerin bleibt trotz mangelnder WählerInnen-Stärke ihrer Partei im Bundesrat.
Eine vertitable Koalition wäre es nicht, die sie erneut in die Regierung hieven würde, aber eine Themenallianz, welche die Mehrheit für den Ausstieg aus der Atomenergie im Bundesrat sichern möchte. Immerhin, das war eines der Hauptthemen im Wahljahr, und es hat bei der Parlamentswahl jene Kräfte im Zentrum gestärkt, die ohne Rücksichten auf bisherige Entscheidungen neue Mehrheiten beschaffen können und wollen.

Unwahrscheinlich geworden wäre damit die Rückkehr zur Formel von 2003 mit je zwei Bundesräten für SVP und FDP. Die SVP, die kaum mehr etwas gewinnen könnte, würde mit Sicherheit protestieren, allenfalls auch die Unterbrechung der Wahl fordern. Würde sie damit nicht durchdringen, wäre am kommenden Mittwoch die Wiederwahl von Johannes Schneider-Ammann der nächste Kristallisationspunkt.
Votierten da FDP, CVP, BDP und SVP wie angekündigt ganz oder grossmehrheitlich für ihn, könnte der Volkswirtschaftsminister schon im ersten Wahlgang bestätigt werden. Enthielte sich die SVP in der ersten Runde, wäre das die Aufforderung zum Tanz mit Mitte/Links, indem SP und GLP, die eine Doppelvertretung der SVP gegen die FDP nicht ausschliessen für Bruno Zuppiger votieren würden, was mit den SVP Stimmen aus dem Gewerbeverbandspräsidenten einen Bundesrat machen würde.
Mit der heutigen Attacke der Weltwoche gegen Zuppigers Integrität ist das nicht wahrscheinlicher geworden. Der Schaden in der Oeffentlichkeit ist da, selbst wenn es sich um nicht mehr als eine instrumentelle Aktualisierung eines Sachverhalts handelt, der in der SVP-Spitze bekannt war. Das macht man entweder aus journalistischem Gespür für Sensationen heraus – oder aus gezielter Absicht, um den Kandidaten zu demontieren. Am Dilemma der SVP, im jetzigen Parlament wohl nur über den Weg gegen die FDP zum zweiten Bundesrat zu kommen, ändert das nichts. Und davon ist man heute auch ohne mediale Kampagne weit entfernt. Denn man misstraut sich aus den SVP- und SP-Reihen wechselseitig, anstatt gegenseitig anzuhören.

Wahrscheinlicher wird da immer mehr, dass sich SP und FDP hinter den Kulissen arrangieren. Denn tauschen sie sich ihre Stimmen in der Vereinigten Bundesversammlung aus, sind beide Parteien auch im kommenden Bundesrat mit je zwei PolitikerInnen vertreten, wenn diese wahlweise bei CVP, BDP, GLP und GPS je 25 Stimmen als Bisherige, als Romands oder als Ständerat für sich gewinnen. Mögilch ist das.
Im Grenzfall könnte zuerst die FDP mit Schneider-Ammann, dann die SVP mit ihrem zweiten Kandidaten Jean François Rime bedient werden. Doch würde so die CVP, der wichtigsten Partei in dieser Frage, ihrer Rolle als Mehrheitsbeschafferin in der Energiepolitik verlustig werden.

Damit erscheint aus heutiger Sicht der Status Quo als probabelster Ausgang der kommenden Bundesratswahl. Grosser Vorteil: Kein Mitglied der jetzigen Bundesregierung würde abgewählt. Neue Wunden aus der Wahlschlacht bei PolitikerInnen und ihren Parteien könnten so vermieden werden. Grosser Nachteil: Konkordant wäre die Wahl nicht wirklich, denn die SVP wäre nicht adäquat im Bundesrat vertreten. Ihre volle Rückkehr aus der selbst gewählten Opposition würden wohl bis zur nächsten Vakanz aus den FDP-Reihen aufgeschoben werden. Oder die nächsten Parlamentswahlen ändern die Zusammensetzung von National- und Ständerat nach rechts.
Die Begründung für die Regierung nach der bisherigen Zusammensetzung würde lauten: Stabilisierung des Gremiums, das amtsjung ist, um in der herausforderungsreichen Zeit, die ansteht, zu bestehen. Personen, die zusammenarbeiten wollen, wären dann definitiv wichtiger als die Konkordanz-Arithmetik. Für die SVP wäre die Begründung, Opfer einer Intrige geworden zu sein, die zum definitiven Bruch mit der Zauberformel führte. Das würde es ihr erlauben, ihren Tanz um die Konkordanz fortzusetzen, der im angedrohten Erfolg in Proporzwahlen besteht, aus dem sie ihre bisherige Stärke bezogen hat.
Soweit die heutigen Aussichten – ausser die Wahlen vom kommenden Mittwoch liefen nicht nach dem Gewohnheitsrecht ab!

Claude Longchamp

Die neuen Erfolgsfaktoren bei Ständeratswahlen

“Volatilität” ist das Zauberwort der Wahlanalyse, wenn sie das Mass der parteipolitischen Veränderungen von Wahl zu Wahl beurteilen müssen. Für die Wahl 2011 gilt: Nie in der jüngeren Wahlgeschichte gab es so viele Aenderungen wie diesmal. Und zwar im National- wie auch im Ständerat.

volatil
Die Volatilität ist eine Masszahl, um die absolute parteipolitische Veränderung von Sitzen von einer Wahl zur anderen zu beurteilen.

Nun wissen wir es: Nie wurde der Ständerat so umgekrempelt wie aktuell. Der Volatilitätsindex für die parteipolitischen Veränderungen erreichte den bisherigen Höchstwert. Der Ständerat rückte demnach nicht nur nach links, es veränderte sich auch seine Zusammensetzung. Besser als Bilanzen von Sitzverschiebungen, die Veränderungen in die eine mit denjenigen in die andere verrechnen, eignet sich der Volatilitätsindex die Bruottoverschiebungen zu beurteilen. Er ist damit ein Mass für die Stabilität resp. Labilität der parteipolitischen Zusammensetzung.

Uebertragen auf die individuelle Ebene der gewählten spricht man eher von Fluktuation. Dies ergibt sich aus den Rücktritten und Abwahlen. Sie kann analysiert werden, um die alten und neuen Erfolgsfaktoren abzuleiten, wie man StandesvertreterIn wird. Hier eine erste Uebersicht:

Zunächst trifft zu, dass das “Bisher” eine starke Empfehlung bleibt. Unfreiwillig ausgeschieden sind Bruno Frick von der CVP Schwyz und Adrian Amstutz aus den Berner SVP-Reihen. Etwas abgeschwächt gilt sodann, dass die KandidatInnen aus der Partei des bisherigen Sitzinhabers einen Vorteil haben. Das missriet der FDP in Schaffhausen, und es gelang der SVP der (erzwungene) Personalwechsel im Aargau nicht. In St. Gallen konnte die CVP mit dem Kandidaten, der erst im zweiten Wahlgang antrat, nicht halten.

Quereinsteiger wie Thomas Minder bleiben im Ständerat die Ausnahme. Erfolgversprechend ist es, das Mandat als Höhepunkt einer politischen Karriere anzustreben. Praxiserfahrung einerseits, Bekanntheit anderseits zählen. Dazu zählen, dass man bereits politische Aemter inne haben mussten; förderlich ist auch eine regelmässige, anhaltende Medienpräsenz.

Aus dem Profil der Neugewählten kann man schliesslich folgern, dass ehemalige und bestehende RegierungsrätInnen (Eberle/TG, Keller-Sutter/SG) gute Chancen haben, diese Aussage selbst auf Stadtpräsidenten (Stöckli/BE) ausgeweitet werden kann. Es gibt auch einen Trend gibt, dass PolitikerInnen, die sich als RatspräsidentInnen (Bruderer/AG) einen Namen gemacht haben (2003 Egerszegi, 2011 Bruderer), den Sprung ins Stöckli schaffen. Hingegen ist die Qualifikation “Nationalrat/Nationalrätin” nicht hinreichend, um in den Ständerat gewählt zu werden. Das hat auch damit zu tun, dass zahlreiche von ihnen die Doppelkandidatur anstrebten, nicht zuletzt um den Sitz in der grossen Kammer zu sichern; das Ständeratsergebnis war ihnen sekundär.

Die Erfolgskriterien im ersten und zweiten Wahlgang sind unterschiedlich: In der ersten Runde spielt die Stärke der eigenen Partei als Hausmacht eine wachsende Rolle, im zweiten ist die Fähigkeit der Kandidatur massgeblich, über Parteigrenzen hinweg Positiv- oder Negativ-Allianzen eingehen zu können. Letzteres gelingt der SP immer besser, derweil die SVP gerade hier ein Problem hat. Die bisher wichtige Unterscheidung zwischen Erfolgsfaktoren in der Romandie und in der Deuschschweiz ist eher geringer geworden; dafür gibt es zunehmend divergente Entwicklungen in urbanen und ruralen Kantonen. So sind in Zürich zwei Standesvertreter aus mittelgrossen Parteien erfolgreich gewesen, die breite Ausstrahlung als (mediatisierte) Personen hatten, während der Kanton Schwyz neu gleich zwei SVP-Standesherren nach Bern schickt.

Claude Longchamp

Der Ständerat rückt nach links

Eben ist die letzte Ständeratswahl entschieden worden. Im Kanton Solothurn nimmt die CVP der FDP einen Sitz ab. Damit ist auch die kleine Kammer des eidgenössischen Parlaments komplett. Gegenüber 2007 rückt der Ständerat dank den Sitzgewinnen der SP etwa nach links, und in der kleinen Kammer wurden die kleinen Parteien etwas gestärkt. Eine Uebersicht.

strw2011

Am besten vertreten ist im neuen Ständerat die CVP, gefolgt von FDP und SP, die gleich auf sind. Sie stellen 13 resp. 11 KantonsvertreterInnen. Danach klafft eine grosse Lücke; die SVP kommt auf 5 Vertreter, die GPS und die GLP auf je 2 Mandate, während die BDP 1 Standesvertreter hat. Hinzu kommt Thomas Minder aus Schaffhausen; er will sich als Parteiloser der SVP anschliessen.

Gegenüber der Vorwahl im Jahre 2007 legt die SP mit 2 Sitzgewinnen am meisten zu; gestärkt werden auch GLP, BDP und Parteilose. Es verlieren die SVP und CVP je 2 Mandate und die 1 hat eines weniger. Halten kann sich die GPS.
Deutlicher nich wird die Entwicklung weg vom Zentrum hin zu rotgrün, wenn man auf die Trends über eine Wahl hinweg abstellt. Augenfällig ist der Niedergang der FDP, die im Ständerat von 1999 noch 18 Sitze hatte. 19 hatte die CVP 1987. Beide Parteien verlieren seither bei den Ständeratswahlen Mandate, können sich bestenfalls halten.
Im neuen Ständerat verfügen CVP und FDP noch über eine gemeinsame Stärkte, die für das absolute Mehr gerade noch reicht. Die CVP hat die Möglichkeit, das auch via SP zu suchen. Hatte diese Partei 1991 nur 3 VertreterInnen in der kleine Kammer, ist sie heute mit 11 auf dem historischen Höhepunkt. Aufgestiegen sind auch die GPS und GLP, die beide im Ständerat von 2003 noch nicht repräsentiert waren. Das gilt auch für die BDP, die offiziell seit neuestem ein Ständeratspartei ist. Der SVP, stärkste Partei im Nationalrat, gelang es dagegen nicht, im Ständerat zuzulegen. Zum zweiten Mal in Serie verringerte sich die Zahl ihrer Vertreter in der kleinen Kammer.
Spannen CVP, FDP und SVP zusammen, hat das bürgerlichen Lager eine konfortable Mehrheit im Ständerat. Das können aber auch CVP, SP und GPS erreichen, genauso wie CVP, SP, GLP und BDP. Trotz den Sitzverlusten bleibt die Scharnierfunktion bei der CVP; sie wurde eher noch gestärkt, denn sie kann sie in Bündnissen von 3 Parteien nach rechts und links herstellen, während die FDP das nach links nicht mehr wirklich kann.

Claude Longchamp