Alles wird gut. Alles ist Wut. Alles braucht Mut.

Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Stimmt nicht, finde ich heute, als ich über das Interview von Daniel Cohn-Bendit im gestrigen Bund nachdenke.

topelement
Daniel Cohn-Bendit, 65, wurde 1968 als Wortführer der Pariser Studenten bekannt. Seit 1994 verritt er abwechslungsweise die deutschen und französischen Grünen im EU-Parlament, gegenwärtig als Co-Vorsitzender der Fraktion.

Die Lage sei prekär, diktiert er den Schweizer Journalisten in Strassburg ins Notizbuch. In der Gegenwart sei vieles durcheinander geraten. Dennoch höre er nicht auf, an die Vernunft in der Politik zu glauben. Hätte er das nicht mehr, würde er sich lieber auf eine Insel zurückziehen und einen Joint rauchen.

Sichtbarer Ausdruck der Veränderungen sind verschiedenartige populistische Strömungen. Zu diesen zählt Cohn-Bendit die Lega Lombarda. Deren Bewusstsein sei: “Ich zuerst – ich allein.” Er macht aber auch vor den eigenen Grünen nicht Halt: “Mein Bauch ist mir und meine Angst ist alles”, sei zum eigentlichen Slogan geworden.

Ein wichtiger Hintergrund sei die Migrationspolitik. 40 Jahre lange habe man keine betrieben, auch keine Integrationspolitik, spitzt Cohn-Bendit zu. Die Rechte habe nicht gewollt, und die Linke alleine nicht gekonnt. Jetzt bezahle man für die Angst der BürgerInnen.

Die Finanzkrise übersteige letztlich die Vorstellungskraft der Menschen, analysiert der Alt-Linke. 10 Prozent Rendite jedes Jahr habe Konsequenzen. Angesichts der globalen Wirtschaftskrise würden sich Christ- und Sozialdemokraten nur noch in kurzfristige Massnahmen wie Bankenschirmen überbieten. Das habe das Schlimmste vermieden, aber die Renationalisierung des Denkens gefördert.

Das Gebot der Stunde sei, für Europa einzustehen, etwa mit einer europäischen Anleihe, um gemeinsame Projekte wie die Energiezukunft voranzustreben. Wenn viele Politiker das nicht mehr wollten, seien Medien wie die britischen Schuld, weil sie die Angst der BürgerInnen instrumentalisierten, um vor Wahlen Politik zu machen, hinter denen eigene Interessen stünden.

Auch die Schweiz schont Cohn-Bendit nicht. Sie müsse lernen, einen verfassungsmässigen Rahmen zu respektieren, denn sie nicht alleine bestimme. Tue sie das nicht, werde sie in Probleme geraten. Denn in dieser Frage gäbe es kein Abrücken von Verfassungsgesellschaften. Denn nur diese würden das Volk vor sich selber schützen.

Und an die eigene Klasse gerichtet, sagt der Politiker: Die Wut der BürgerInnen in Europa sei verständlich. Man müsse ihr jedoch mit Vernunft begegnen. Und mit Zeit. Die klassische Parteiarbeit nähme pro Tag 27 Stunden in Anspruch. Deshalb fehle den PolitikerInnen der Freiraum, sich selber um die Gesellschaft zu kümmern.

Ich ertappe mich heute , wie ich Vieles von dem, was ich gestern Morgen las, auch denke. Es tritt das Ganze, auch wenn die Details flapsig ausgeführt sind. Nicht nur in der EU, auch in der Schweiz.

Das sind die Thesen:
Erstens, die Finanzmarktkrise und ihre Folgen überfordern die BürgerInnen.
Zweitens, die Politik wird getrieben, ist nicht treibende.
Drittens, Medien greifen direkt in die Politik ein.
Viertens, es gibt einen neuen Nationalismus.
Fünftens, jeder rettet, was er kann.

“Alles wird gut!”, versprechen die Optimisten. “Alles wird zu Wut”, kontern die Pessimisten. Alles braucht Mut, füge ich als Realist bei.

Claude Longchamp

Was man zur Finanzmarktkrise lesen sollte

Hat sich die Oekonomie seit der Finanzmarktkrise bewegt? Eine gute Frage, und Versuche guter Antworten.

ie Pleite von Lehman Brothers löste eine global beispielslose Finanzmarktkrise aus, die wiederum die Weltwirtschaft durcheinander wirbelte und die Politik der USA und der EU erschütterte. All das hat namentlich die viel gescholtenen Oekonomen aufgerüttelt, über ihr Wissen und dessen Grundlagen nachzudenken. Die NZZ am Sonntag listete einige der Werke auf, die zu lesen sich lohnt. Gerne gebe ich die weiter, von denen ich das auch sagen kann.

3-Affen-Boerse
Wider die Ignoranz …

Andrew Ross Sorkin: Die Unfehlbaren, Spiegel-Verlag 2010
Die typische Spiegel-Reportage mit 200 Beteiligten, im Genre eines Krimis verfasst

Nouriel Roubini, Stephan Mihm: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. Campus-Verlag, Frankfurt 2010
Dr. Doom der Finanzmarktkrise, weil er sie der Bedeutung der Schrottpapiere für das Schrottsystem vorhersah

Paul Krugman: Die neue Weltwirtschaftskrise, Campus-Verlag, Frankfurt 2009
Einflussreicher Wirtschaftsberater und Kritiker des Schattenbanksystems das neu reguliert werden sollte

Joseph Stiglitz: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft, Siedler, München 2010

US-Nobelpreisträger und Gegner freier Märkte, die ohne staatliche Rahmenbedingungen nicht funktionieren

George A. Akerlof. Robert J. Shiller: Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Campus, Frankfurt 2009
Rational-choice-Analyse missinterpretieren das reale Wirtschaftsverhalten, das viel instinktiver ist und Impulsen folgt

Carmen Reinhard, Kenneth Rogoff: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen. Finanzbuchverlag 2010

800 Jahre Finanzkrisen zwischen zwei Buchdeckeln analysiert, um den regelmässigen Zusammenhang von Verschuldung und Krise auszuloten

Niall Ferguson: Der Aufstieg des Geldes. Die harte Währung der Geschichte. Econ-Verlag, Berlin 2009
Reagierte 2008 sofort, unverbesserlicher Optimist, gemäss dem wir trotz kleinen Ausschläge in der besten aller Wirtschaftszeiten leben; lässt sich auch als Gegenprogramm lesen

Ein Buch, das mit als Ganzes gut gefallen hat, findet sich nicht auf der Liste der Sonntagszeitung. Es ist das schmale, aber gehaltvolle Bändchen von Roger de Weck mit seinen Schlussfolgerungen für ein sinnvolles Handeln in Zukunft.

Roger de Weck: Nach der Krise? Gibt es einen anderen Kapitalismus? Nagel&Kimche, 2010

Wer also noch einige Tage frei hat, kann sie auch nutzen, um sich in einer relevanten Frage weiter zu bilden.

Claude Longchamp

Vom teuersten Wahlkampf aller Zeiten

“Den teuersten Wahlkampf aller Zeiten” kündigen die Tageszeitungen von heute an. Die grosse Buchstaben können aber nicht darüber hinweg täuschen, dass man sehr wenig über Geld in Wahlkämpfen weiss. Eine Auslegenordnung.

Tagesschau vom 27.12.2010
Quelle: Tagesschau

3 Millionen Franken will die CVP für die Wahlen 2011 ausgeben, 2,6 Millionen sind es bei der FDP. Damit will man auf die SVP reagieren, won der man sagt, sie haben 2007 15-16 Millionen in ihren Superwahlkampf investiert. Eigenangaben der SVP erhält man nicht, genauso wenig wie von der SP. Informell hört man Zahlen rund um 1,5 Millionen. Das spricht dafür, dass 2011 mehr ausgegeben wird als noch 2007, gemeinhin dem bisher teuersten Wahlkampf aller Zeiten.

Auch wenn die Aussagen einige Evidenz für sich beanspruchen darf, kann man nicht darüber hinweg sehen, dass es kaum etwas Zuverlässiges über die Wahlkampffinanzen in der Schweiz gibt. Das hat damit zu tun, dass es keine generelle Pflicht zur Oeffentlichkeit zu Parteifinanzen gibt, und dies gerade in Zeiten geldintensiverer Wahlkampagnen von besonderem Nachteil ist.

Die Erfahrungen mit dem Thema lassen mich aus fünf Gründen vorsichtig sein mit den erwähnten Zahlen:

Erstens weichen Fremd- und Selbstangaben fast immer voneinander ab; diese sind chronisch tiefer, jene höher, wobei auch Absicht dahinter steckt: Geld bei Wahlen ist ein Thema der “anderen”.
Zweitens kommt es erheblich darauf an, ob man spezifsichen Kampagnenbudgets kommunziert, oder aber auch die versteckten Aufwendung in den ordentlichen Budgets miteinbezieht, denn Parteisekretariate arbeiten in Wahljahren überwiegend für den Jahreshöhepunkt im Oktober.
Drittens wird nicht sauber zwischen nationalen und kantonalen Budgets unterschieden; diese sind vor allem bei föderalistisch strukturierten Parteien regelmässig höher.
Viertens gibt es unterschiedlichen Praxen, wenn es um das Geld der KandidatInnen geht; deren Einsatz reicht von sehr wenig bis ausgeprochen viel, namentlich wenn es sich um aussichtsreiche Aufbaukandidaturen handelt.
Fünftens und vielleicht am wichtigsten ist die Fragen nach der Herkunft der Gelder, nicht zuletzt weil Grossspenden viel eher mit Erwartungen verknüpft sein dürften als Kleinspenden.

Die Schweizer Medien haben das Thema Wahlkampffinanzen entdeckt. Sie folgen damit dem Trend in den USA. Die Präsidentschaftswahlen 2008 wurden einhellig als die teuersten bewertet; auch die mid-terms dieses Jahre bekamen dieses Attribut. Nicht selten wir die Problematik aber einseitig vorgeführt: Wer mehr investiert, gewinnt. Oder legt mindestens mehr zu. Das hat zwar bezogen auf die SVP so etwas wie eine primäre Evidenz, denn gleichzeitig legt sie seit 1995 regelmässig zu und hat sie ihren Wahlkampf amerikanisiert. Doch schon bei der FDP gehen die Tendenzen auseinander. Mindestens im Inseratebereich lag die Partei an zweiter Stelle, und dennoch verlor sie die Wahlen exemplarisch.

Wichtiger wäre es, mehr über den Zusammenhang zwischen Medienpositionierungen und Inseratevolumen zu erfahren. Denn das gehört, genauso wie die Wahlkampfausgaben der Parteien, zu den tabuisierten Themen der Medien. Zwar ist es sicher nicht so, dass hier die Nachfrage alleine das Angabot bestimmt, die Parteifinanzen die Medienpositionen bestimmen. Doch sind gerade in Zeiten, in denen Medien an allen Ecken und Ende sparen müssen, vergrösserte Kampagnenbudgets in erster Linie für die Medien relevant. Bekannt ist, dass kleine Zeitungen dringend darauf angewiesen sind, und der Verdacht liegt nahe, dass die Kommentierung von Parteien resp. die Brücksichtigung von KandidatInnen davon nicht unbeeinflusst ist.

Bisher zu wenig beigetragen zur Versachlichung der Diskussion hat die hiesige Politikwissenschaft. Zwar diskutiert sie seit den 80er Jahren Zusammenhänge zwischen Geld, Macht und Politik theoretisch, ohne dass seither gültige Instrumente zu ihrer empirischen Bestimmung entstanden wären. Das ist ein offensichtliches Manko, der sich auf der Intransparenz ableitet, diese aber nicht wirklich verringert. Immerhin, professionelle Wahlkampfmanager wie der frühere CVP-Generalsekretär Hilmar Gernet kündigen an, im Wahljahr sein Wissen, das in einer Dissertation zusammengetragen hat, auf den Tisch legen zu wollen. Das ist lobenswert, denn es ist der unerlässiche erste Schritt zur Regulierung des sensiblen Themas in der Wahldemokratie.

Claude Longchamp

Top-Nutzungen auf Zoonpoliticon 2010

2010 ist aus dem Experiment, gelegentlich zu politikwissenschaftlichen Themen zu bloggen, ein immer mehr genutzter Politblog geworden.

zoonpoliticon

Das auslaufende Jahr brachte meinem Fachblog “zoonpoliticon” einen grossen Aufschwung. Der Einsatz der Plattform bei den Berner Wahlen liess die Nutzungszahlen rasch ansteigen – und was mich besonders freut, eine erhöhte “Stamm-” wie auch eine erweiterte “Laufkundschaft” entstehen. Der Zoonpoliticon-Blog ist heute besser vernetzt denn je, sei es auf google oder anderen Blogs. Und er wird klar mehr verwendet als in den ersten zwei Jahren seines Bestehens (2008: 46000 Besuche, 2009: 225000 Besuche, 2010: gegewärtig 460000 Besuche).

Zoonpoliticon hat sich in fünf Kategorien durchgesetzt: der Politikwissenschaft, der politischen Kommunikation, in Fragen der Volkswahl des Schweizer Bundesrates, zu Berner Wahlen und mit der Rubrik “in eigener Sache”. Hier die Liste der Kategorien mit den meisten Aufrufen:

6358 Aufrufe In eigener Sache
5706 Aufrufe Volkswahl des Bundesrates
3118 Aufrufe Politische Kommunikationsforschung
1583 Aufrufe Politikwissenschaft
1557 Aufrufe Berner Wahlen

Bei den einzelnen Beiträgen gibt es zwischenzeitlich einige, die dauerhaft aufgerufen werden. 2008 oder 2009 verfasst, werden sie immer wieder abgefragt. Ungestürm an die Spitze arbeitete sich die Ankündigung vor, bei den Berner Regierungsratswahlen erstmals den Blog zur Resultatevermittlung einzusetzen. Die Verwendung der Plattform bei den jüngsten Bundesratswahlen zeigte ähnliche Effekte. Mit anderen Worten: Von wichtigen politischen Ereignissen kann man als Blogger enorm viel profitieren. Selber Themen zu setzen, ist aufwendiger, gelingt aber gelegentlich auch!

2211 Aufrufe Hochrechnung zu den Berner Regierungsratswahlen 2010 (2010)
2101 Aufrufe Bundesratswahlen: Wer wählt(e) wen? (2010)
2081 Aufrufe Samuel Schmid im Tief oder Keine Volkswahl des Bundesrates? (2008)
1897 Aufrufe Eskalationsmonitoring (2008)
1856 Aufrufe Meine Top-Ten-Bücherliste zur politischen Kommunikation (2009)
1600 Aufrufe Die Prognose zur Berner Regierungsratswahlen (2010)l
1307 Aufrufe Sind wir Menschen alle ein rreemm? (2009)
1047 Aufrufe Die Schweiz tritt als 25. Land dem Schengener-Abkommen bei (2009)
1030 Aufrufe 13 Gründe warum Barack Obama Präsident wird (2008)
1017 Aufrufe Der Bundesrat im Härtetest (2009)
1001 Aufrufe Drei Thesen zum angekündigten Rücktritt von Moritz Leuenberger (2010)

Claude Longchamp

Demokratisch – autokratisch

Kriegsdrohungen aus Nordkorea.
Geplünderte Staatskasse im Tschad.
Verhaftungen der Oppositionsführer in Weissrussland.
Strenges Mediengesetz in Ungarn.
Misstrauensvotum in Italien.

Das alles sind schlechte Nachrichten für die Politik – gesammelt in nur ein Woche. Dabei machen immer wieder Zweifel an der Demokratie die mediale Runde. Schnell ist von Diktaturen die Rede, von autoritären Regierungen und undemokratischer Kultur. Was ist davon zu halten?

Demokratieindex (gemäss Economist) 2010

800px-Democracy_Index_2010_green_and_red
grün: Demokratien, organge: Hybridsysteme, rot: Autokratien, Quelle: Demokratieindex

Die Politikwissenschaft hat mehrere Messinstrumente entwickelt, um die Evidenz solcher Einschätzungen prüfen zu können. Sie alle basieren auf der Idee, dass Demokratie nicht einfach besteht, sondern anhand von Kriterien bestimmbar ist.

In der einfachsten Variante wird zwischen zwei Systemtypen unterschieden: Demokratie und Autokratien. In der verfeinderten Variante ist der Uebergang nicht statisch, sondern werden verschiedene Uebergänge dynamisch konzipiert.

Aus meiner Erfahrung gut brauchbar ist der Demokratie-Index des Economist. Er basiert auf 5 Indikatoren, die Demokratie empirisch bestimmbar machen:

. der Ausgestaltung von Bürgerrechten
. dem Pluralismus im Wahlrecht
. der Funktionsweise der Regierung
. der Partiziaption der Bürgerschaft und
. der Entwicklung der politische Kultur.

Die fünf Einzelbeurteilung werden zu einem Gesamtindex verrechnet, der von 0 bis 10 reicht. In der Folge werden die Staaten in 4 Gruppen eingeteilt: vollwertigen und mängelhafte Demorkatien, Hybridsysteme und Autokratien.

2010 galten 79 der 168 bewerteten Staaten (48%) als Demokratien, 16 Prozent als vollwertige und 32 Prozent als mangelhafte. 33 waren Hypbridsystem (20%), und 55 Autokratien (32%). In Prozent der Weltbevölkerung lebt genau die Hälfte in einer Demokratie.

Die fünf zu Beginn heraus gegriffenen Staaten werden sehr unterschiedlich bewertet: Nordkorea gilt als das undemokratischste oder autokratischste Regime der Gegenwart. Das trifft praktisch im gleichen Masse auch auf den Tschad zu. Nur unwesentlich besser klassiert wird Weissrussland. Es zählt ebenfalls zu den Autokratien.

Ungarn und Italien gelten dagegen als mangelhafte Demokratien. In Italien wird die Funktionsweise der Regierung kritisiert, verbunden mit der eingeschränkten Bürgerpartizipation. In Ungarn kommt eine wenig entwickelte demokratische Politkultur hinzu.

Die politischen Systeme beider Länder sind aber einiges davon entfernt, bereits als Hybridsysteme zu gelten, indenen sich eindeutig demokratische und autokratische Elemente mischen. Treffender ist es, von Fehlern im demokratischen System zu sprechen.

Ich bringe das nicht auf, um die Probleme in Italien oder Ungarn schön zu reden. Ich bin aber überrascht, wie schnell journalistische Urteile auftreten und in den politischen Alltagsdiskussionen aufgeben. Ihnen mangelt es nicht selten an Uebersicht – über die ganze Spannweite der Ausprägungen politischer Systeme und die Positionierung einzelner Länder in dieser Landschaft.

Da finde ich, hat die theoretisch und empirisch angeleitete Betrachtungsweise der Demokratiemessung, wie sie die Politikwissenschaft entwickelt hat, klare Vorteile.

Claude Longchamp

PS:
Die Schweiz befindet sich regelmässig unter den 10 Top-Demokratien. Bemängelt wird einzige die zu wenig ausgeprägte BürgerInnen-Partizipation bei Wahlen. Ganz oben ist dieses Jahr Norwegen – eine konstitutionelle Monarchie mit parlamentarischem System …

Rück- und Ausblick auf aktuelle Wahlen in der Schweiz

Was nur bringt uns das Wahljahr 2011?

fot_elements

In der Regel beschäftige ich mich mit Themen bevor sie medienaktuell werden. So auch bei Wahlen. 2010 war deshalb ein Jahr der Vorbereitung auf die Schweizer Wahlen 2011. National- und Ständerat, aber auch der Bundesrat werden gesamterneuert, wobei das Klima, indem die Wahlen stattfinden werden, von grösster Bedeutung sein dürften, sich aber erst in Ansätzen abzeichnet. So habe ich mich in diesem Jahr mit Wahlforschung, ihren Instrument, ihren Fragestellungen zur Parteien, Regierungsmitgliedern und Medien auseinander gesetzt. Anbei ein Querschnitt zu meinen vorläufigen Ergebnissen als Rück- und Ausblick.

Januar:
An der Grenze der Bi-Polarisierung angelangt
Februar:
Politische Internetnutzung erreichte 2009 neue Höchstwerte
März:
Die SVP vor der grössten Herausforderung ihrer Geschichte
April:
Mit Leidenschaft gegen den Zerfall der Medienkultur
Mai:
Von der Bi- zur Tripolarität des schweizerischen Parteiensystems
Juni:
Der Zorn der Zeit
Juli:
Drei Thesen zum angekündigten Rücktritt von Moritz Leuenberger
August:
Konkordanzen verschiedenster Art
September:
Bundesratswahlen: Wer wählt(e) wen?
Oktober:
Ständeratswahlen in der Schweiz – ein vernachlässigtes Feld der Wahlforschung
November:
Von unseren verschiedenen Seelen
Dezember:
BundesrätInnen im Wahlkampf

Frohe Festtage – auf jeden Fall!

Claude Longchamp

Die Sorgen der SchweizerInnen – gestern, heute und morgen

Mögen Sie sich noch erinnern an 1977? Genauer an den Chiasso-Skandal bei der Credit Suisse? Nicht! Dann fasse ich das Wesentliche und die Folgen hier schon mal zusammen.

Mitarbeiter dieser Tessiner Filiale der damaligen Schweizerischen Kreditanstalt hatten in grossem Stil in Italien Gelder angeworben gehabt und in undurchsichtige Gesellschaften nach Liechtenstein verschoben. Alles das aufflog, resultierte ein Verlust von 1,7 Milliarden Franken – für die seinerzeigigen Verhältnisse der grösste Verlust für die Bank. Das Ganze blieb nicht ohne Folgen: Die Nationalbank und die Schweizerische Bankiervereinigung beschlossen eine neue Sorgfaltspflichtvereinbarung. Und unter dem Druck dieser Krise brach die SKA zu neuen Ufern auf und wandelte sich in der Folge vom Zürcher Traditionsinstitut zum internationalen Finanzdienstleister.

Tagesschau vom 17.12.2010

Doch damit nicht genug: In der Schweiz startete die SKA eine Offensive, um neues Vertrauen zu gewinnen. Dazu gehörte auch die Modernisierung des hauseigenen Bulletins, dem weltweit ältestesten Mitteilungsblatt eines Bankeninstituts. Bei dieser Gelegenheit wurde das Sorgenbarometer geworden. Eine repräsentative Umfrage bei SchweizerInnen sollte jährlich aufzeigen, wo im Alltag der Schuh drückte. Seit 1995 führt das Forschungsinstitut gfs.bern die Umfrage durch: heuer zum 15. Mal unter meiner Leitung.

Zu den Hauptergebnissen der Ausgabe 2010 zählen, dass Arbeitslosigkeit, die Zukunft der Sozialwerke und die Neuausrichtung des Gesundheitswesens als zentrale Herausforderungen angesehen werden. Angestiegen sind im aktuellen Jahr die Sorgen mit der EU, den AusländerInnen und der Sicherheit im eigenen Land. Gleichzeitig gewachsen ist das Vertrauen in eigene Sache. Die Schweiz wird unverändert als fähig angesehen, ihre Probleme selber zu lösen. Die globale Finanzmarktkrise hat diese Auffassung noch verstärkt. Wirtschaft und Politik sind gefordert, als Problemlöser aber auch akzeptiert.

Das Projekt Sorgenbarometer ist zwischenzeitlich diversifiziert worden; es hat nun drei Bestandteile, die alle vom Forschungsinstitut gfs.bern bearbeitet werden: die Sorgenwelt der SchweizerInnen insgesamt (wie heute dargelegt), das Lebensgefühl der Jugendlichen (Jugendbarometer, anfangs Woche erstmals publiziert) und das Selbstverständnis der Schweizer und SchweizerInnen (Identitätsbarometer, das in zirka 2 Monaten als Spezialbericht erscheint). Alle drei Unterfangen sollen Auskunft geben, wie sich die Schweiz fühlt, sieht und entwickelt – heute und mrgen. Die aktuelle Bestandesaufnahme habe ich über Mittag kurz vor den Prüfungen meiner Studierenden in den Hallen der Universität Zürich für die Tagesschau zusammengefasst.

Claude Longchamp

Der Dozent kann sehr gut reden …

Heute ist Prüfungstag. Für meine Bachelor-StudentInnen an der Uni Zürich. “Wahlforschung in Theorie und Praxis” war mein Vorlesungsthema im Herbstsemester. 13 zweistündige Veranstaltungen liegen hinter uns. Die nun wurden von den Studierenden evaluiert. Eine Art Prüfung für den Dzenten.

14321240
Quelle

Das Schlechte gleich vorweg: Die einzige (knapp) Ungenügende (3,9 auf einer 6er Skala) habe ich bei der Frage bekommen, es sei klar, was man lernen müsse, um den Leistungsnachweis zu erhalten. Wenn das nicht ganz so klar war, macht das aus meiner Sicht wenig. Denn dann hat man nicht nur das auswendig gelernt, was bekanntlich geprüft wird. Sondern auch anderes büffeln müssen. In diesem Zusammenhang sehe ich auch die Kritik, zu viel zur Vorlesungsvorbereitung lesen zu müssen. Da sind wohl Generationen zwischen dem Dozenten (54 Jahre alt) und der Studierenden (20-25 Jahre).

Und nun das Gute: Die 5 Tops, die ich erhalten habe, freuen mich ganz besonders:

Der Dozent …

5.9 … vermag mich für den Stoff zu interessieren.
5.8 … gestaltet die Veranstaltung lebendig und engagiert.
5.8 … ist im Umgang mit Studierenden respektvoll.
5.7 … erläutert den Stoff anhand von Beispielen.
5.6 … stellt einen Bezug zwischen Theorie und Praxis her.

Besonders gefreut hat mich die Bemerkung: “Man merkt, dass der Dozent nicht aus dem engen Rahmen der Ui kommt, sondern eine etwas weitere Perspektive hat. Er kann sehr gut und frei reden …”

Auch wenn man es nicht glaubt: Positive und negative Kritien spornen mich nach fast 20 Jahren Lehrtätigkeit an Universitäten immer noch an, nach Neuem Ausschau zu halten!

Für die Prüfung heute Nachmittag alles Gute. In der Ruhe liegt die Stärke, ist wie immer mein Motto!

Claude Longchamp

Zuversichtliche SchweizerInnen

Heute erscheint das Sorgenbarometer 2010. Es informiert uns über die Sorgen der SchweizerInnen, von denen sie durch Massnahmen der Politik Abhilfe erhoffen. Normalerweise werde ich dabei von den Medien befragt, welches Ergebnis man nicht einfach erwarten konnte. Gerne nehme ich das auf und sage ich: dass die Zuversicht in die Zukunft der Schweiz nicht nur verbreitet ist sondern auch zunimmt.

trendvertrauen
Alle Unterlagen dazu finden sie hier.

Das Ueberraschende an der 34. Ausgabe des Sorgenbarometer für die Credit Suisse ist nicht, dass zum x-ten Mal die Sorge um die Arbeit an der Spitze der Probleme unserer Bürgerschaft steht. Wirklich überraschend ist, dass auf die Frage nach dem Vertrauen in Institutionen die politischen erneut zugelegen konnten.

Das widerspricht zunächst der medialen Behandlung von Bundesrat, Ständerat und Nationalrat. Denn fast täglich wird da ein Versagen unterstellt, werden da mehr oder minder deutliche Anlässe skandalisiert und entsteht so ein generelles Klima des Misstrauens.

Ganz anders sind die Ergebnisse im Sorgenbarometer. Denn seit 2004 äussern repräsentative Querschnitte der Bevölkerung mehr und mehr Vertrauen in unsere Behörden.

Den Hauptgrund hierfür sehe ich in der wachsenden Orientierung der SchweizerInnen an der Schweiz. Bei aller Kritik, die an den eigenen PolitikerInnen und ihren Leistungen geäussert wird; bei alle Opposition gegen Entscheidungen die Regierungen und Parlamente fällen: im Vergleich mit dem Ausland schneiden unsere Behörden gut ab.

Das hat zunächst mit der allgemeinen Wirtschaftslage zu tun. Diese wird, was die Schweiz betrifft, weniger negativ beurteilt als die des Auslandes. Von den ganz grossen Auswirkungen der Finanzmarktkrise sind wir in der Schweiz verschont geblieben. Die Zuversicht, die schwierigste Phase hinter sich zu haben, nimmt bereits wieder zu.

Sodann hat auch die Politik in der Krise mehr gewonnen als verloren. Das trifft mit Sicherheit nicht auf jeden Bundesrat oder jede Parlamentarierin zu, insbesondere wenn sie sich profilieren, wenn sie sich streiten, und wenn sie nichts entscheiden. Es gilt aber im Grossen und Ganzen.

Gewonnen hat seit 2008 insbesondere das Schweizerische. Es steht für Zuverlässigkeit, für Leistungsfähigkeit, für Dauerhaftigkeit. Von dieser Grundbefindlichkeit profitieren auch die politischen Behörden. Denn ihnen traut man zu, das richtige Mass zu finden zwischen dem verbreiteten Wunsch nach Unabhängigkeit und der Einsicht in die Notwendigkeit von Kooperationen.

Hätte man genau diese Grundhaltung in der Schweiz nicht mehr, würden die Misstrauenswerte für Legislativen, Exekutiven und Judikative schon längst ins den Himmel steigen. Doch ist das nicht der Fall. Nicht ein Mal nicht, sondern nun zum 5. Mal hintereinander nicht.

Klar: Man kann auch ein Fragezeichen hinter dieses Ergebnis setzen, orakeln, ob es nicht nur Vorstellungen sind. Anlässe für Missverständnisse Wunsch und Wirklichkeit findet heute jeder und jede. Man kann auch kritisieren, das Fremd- und Selbstbild der Schweiz immer mehr auseinander fallen. Denn was die SchweizerInnen über sich denken, schert manchen im Ausland nicht.

Doch diese Fragen kann das Sorgenbarometer gar nicht beantworten. Es ist aber in der Lage zu zeigen, wie die SchweizerInnen auf die aktuelle Krise reagieren. Probleme nennen sie zuhauf, Unzufriedenheit findet sich in vielen Antworten. Doch steht dem auch ein Urvertrauen in die eigene Stärke gegenüber.

Ich denke, das ist Anlass genug, nicht mit der verbreiteten Alarmismus, der üblichen Selbstanklage oder der herablassenden Besserwisserei auf die Ergebnisse der BürgerInnen-Befragung von heute morgen (8 Uhr) zu reagieren. Vielmehr fordere ich alle LeserInnen auf, nüchtern das aufzunehmen, was uns mehr als 1000 ausgewählte Personen Jahr für Jahr berichten: dass sie die Schweiz kritisieren, dass sie sie mögen, und dass sie ihr zutrauen, die Zukunft zu bewältigen.

Claude Longchamp

BundesrätInnen im Wahlkampf

FDP-Präsident lancierte heute eine heikle Diskussion. Er will, dass die FDP-Bundesräte im FDP-Wahlkampf 2011 eine sichtbare Rolle im Wahlkampf spielen. Solche Engagement können der Partei helfen, dem Bundesrat aber auch schaden.

Tagesschau vom 12.12.2010

Im Bundesbern weiss man es: Seit Bundesrat Ueli Maurer im Wahlkampf der Berner SVP auftrat, als wäre er noch schweizweiter SVP-Parteipräsident, scheiden sich die Geister. Denn die Berner SVP realisiert trotz Abspaltung der BDP ein gutes Wahlergebnis. Vielleicht aus deswegen wirft man Maurer hinter vorgehaltender Hand Bruch mit den Verhaltensregeln von Bundesräten in Wahl- und Abstimmungskämpfen vor.

Genau das nimmt nun Fulvio Pelli, FDP-Präsident, zum Anlass, von “seinen” Bundesräten im kommenden Wahlkampf mehr Präsenz gegenüber der WählerInnen-Basis und dem Wahlvolk zu verlangen. Man habe sich diesbezüglich geeinigt, verkündet er im heutigen “Sonntag”. Das ist, mit Verlaub, kein Problem wegen der FDP, indes ein generelles.

Der aktive Einsatz von Bundesratsmitglieder in Wahlkämpfen geht mit der Veränderung der politischen Kultur einher: Gezielte Kommunikation auf nationaler Stufe einerseits, politische Polarisierung auf der anderen Seite sind die beiden wichtigsten Stichworte.

BundesrätInnen eignen sich mit ihrer Medienpräsenz, Bekanntheit und Themennähe als Treiber der Kommunikation im Wahljahr ganz besonders. Entdeckt hat das Adolph Ogi 1991, der als erster Bundesrat die vornehme Zurückhaltung im Wahlkampf aufgab. Erstmals von einer Partei strategisch eingesetzt wurden die Bundesräte 1995 durch die SP. Otto Stich trat kurz vor den Wahlen zurück, und sein Parteipräsident Peter Bodenmann schlug anderntags 7 KandidatInnen für seine Nachfolge vor, womit er während Wochen den Wahlkampf beherrschte und seiner Partei nach einer langen Durststrecke einen grossen Wahlerfolg bescherte.

2007 erlebten wir den bisherigen Höhepunkt in dieser Entwicklung: Christoph Blocher, damals noch SVP-Bundesrat, überzeugte seine Partei, in der Schlussphase das Ausländerthema wieder in den Hintergrund zu rücken, dafür seine Person als einigendes und mobilisierendes Band rund um alle potenziellen SVP-WählerInnen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu schieben. “SVP wählen, Blocher stärken” hiess der damalige Slogan, der zum bisher grössten Wahlerfolg einer Partei unter Proporzbedingungen für Nationalratswahlen führte. Immerhin, aus der vermeintlichen Volkswahl von Bundesrat Blocher wurde nicht. Keine zwei Monate später wurde er zur Ueberraschung aller vom Parlament aus dem Bundesrat abgewählt.

Das alles ist typisch für heutige Wahlkämpfe: Treiber sind die Parteien, die in erster Linie die Medien für sich gewinnen wollen. Denn sie sind ihr wichtigstes Verbindungsglied zu einer Wählerschaft, die parteipolitisch nicht mehr eindeutig einzuordnen ist, die zwar weiss, ob sie links oder rechts steht und das mit Werten in Verbindung bringt, nebst den Themen vor allem die Köpfe sehen will, welche sie vertreten werden.

Für eine Regierung, die vom Parlament gewählt wird und nach Konkordanzregeln funktioniert, ist das alles ein Problem. Es unterminiert die Rolle der BundesrätInnen als politisch Verantwortliche. Es verringert die Einheit des Gremiums, das die Schweiz führen soll. Nicht umsonst wächst der Ruf nach Persönlichkeiten im Bundesrat, die sich für das Land und die Sache einsetzen, nicht die Handlanger ihrer Parteien sind. Und es ist auch kein Zufall, dass Konkordanz in der Bevölkerung immer weniger mit Formeln für die parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates zu tun hat, immer mehr aber mit dem versprochenen Willen, auch mit VertreterInnen anderer Parteien zusammenarbeiten zu wollen.

So bleibt die Bilanz der BundesrätInnen in Wahlkämpfen zwiespaltig. Als Kommunikatoren sind sie ohne Zweifel von Vorteil, für das Land und für ihre Partei. Ihr Vordringen ins Herz von Wahlkämpfen schwächt sie aber als Regierungsmitglieder, denn sie werden damit ohne Zweifel zu ParteipolitikerInnen, die zur Polarisierung beitragen. Nach den Kritiken aus den Reihen der Geschäftsprüfungskommission hat Bundespräsidentin Doris Leuthard gekonnter, und Besserung versprochen in der Zusammenarbeit des Bundesrates als Gremium.

Zudem hat man hat gerade mit den drei letzten Bundesratsersatzwahlen versucht, einer neuen Generation von Regierungsmitgliedern den Weg zu ebnen, die sich sachorientiert für die Weiterentwicklung der Schweiz einsetzt, und sich von den Hahnenkämpfen wie 2007 zwischen Blocher und Couchepin fernhält. Man würde gut daran tun, das konsequent weiter zu verfolgen, und den Einsatz des BundesrätInnen als parteiische Wahlkampflokomotiven im letzten Vierteljahr vor den Wahlen zu verringern. BundesrätInnen werden gewählt um zu regieren, nicht um zu inszenieren!

Claude Longchamp