Was nur heisst strategisches Wählen?

Zwei zentrale Aussagen kommunizierte FORS, das Schweizer Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften, gestern mit der Vertiefungsstudie zur Analyse der Nationalratswahlen 2007 im Rahmen einer Sondernummer der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft: Erstens, der Kulturkampf überlagert den Klassenkampf; zweitens, die WählerInnen würden strategisch für ideologische Parteien stimmen, die extremer seien als sie, damit sich überhaupt etwas bewege. Ersterem kann man wohl vorbehaltslos zustimmen. Zweiteres ist jedoch diskussionsbedürftig.

Clip2
Positionen der KandidatInnen und der WählerInnen bei den Nationalratswahlen 2007. Die Polarisierung der KandidatInnen ist vor allem auf der Links/Rechts-Achse grösser als auch der 2. Dimension, welche die Wählenden mehr teilte.

Die Befunde sind recht offensichtlich: Die Wählerschaften der Parteien sind auf der neuen Konfliktdimension stärker polarisiert als auf der alten. Die Kandidierenden indessen trennt die alte Dimension mehr als die Neue. Das führt zu Inkohärenzen zwischen Parteieliten und Parteiwählerschaften. SP, aber auch Grüne sind oben und unten etwa gleich stark für gesellschaftlichen Offenheit, nicht aber wenn es um mehr oder weniger Staat geht. Da denken die Parteiwählerschaften viel pragamtischer als die BewerberInnen für politische Aemter. Aehliches findet sich bei SVP, tendenziell auch bei FDP in umgekehrter Richtung. Die Marktorientierung der Politiker ist akzentuierter als die der WählerInnen.

Die Autoren der Zweitanalyse der Selects-Daten zu den letzten Nationalratswahlen 2007 interpretieren die PolitikwissenschafterInnen (zusammengefasst) so: Gewählt werden nicht die Personen, mit denen man die grösste Uebereinstimmung hat, sondern jene Parteien, von denen man am ehesten erwartet, dass sie die Politik in die gewünschte Richtung verändern.

Das ist zunächst interessant: Denn es deutet darauf hin, dass Themen wie die Migrationsfrage 2007 polarisierten und die Wahlentscheidungen beförderten, das dabei aber PolitikerInnen gewählt wurden, deren primäre Gesetzlichkeiten gar nicht in dieser Frage liegen.

Ob man das alles positiv als strategische Wahl charakterisieren soll, kann man aber bezweifeln. Vielmehr müsste eine kampagnenkritische Untersuchung zeigen, wie es kam, dass eine Thematik zur vorherrschenden und wahlentscheidenden wurde, ob wohl diese gar nicht den Selektionskriterien der Parteien auf Ebene der KandidatInnen entspricht. Gefragt werden müsste auch, ob die Hoffnung, dass Wahlen ein Parlament bestimmen, das in entscheidenden Fragen der Wählerschaft repräsentativ zusammengesetzt ist, in der Mediendemokratie obsolet geworden ist, weil sich zwischen politischer Realität und wahlkämpferischer Medialität eine immer grössere Schere öffnet.

Man kann aber auch noch weiter gehen, nicht nur den Begriff, sondern auch die Interpretation in Frage stellen. Denn die Bi-Polarisierung der Parteienlandschaft, wie sie 1995-2003 die Wahlen in den Schweizer Nationalrat bestimmten, fand 2007 eine mindestens erhebliche Relativierung. Polartig formierte sich nur noch der nationalkonservative Teil der Parteienlandschaft in Form der SVP weiter. Links wuchs nicht mehr, kannte einzig noch eine Verlagerung der Schwergewichte von der SP zur GPS. Neu entstand 2007 die GLP, und mit der BDP, die sich 2008 als Abspaltung von der SVP formierte, setzte sich der Prozess der Neuformierung des politischen Zentrums gleich nochmals fort.

Die Frage ist deshalb berechtigt, ob die Parteien generell, mindestens einige wesentliche davon, die Zeichen der Zeit richtig erkannt hatten oder haben. Denn eine andere als von den Selects-Autoren favorisierte Interpretation des Datenmaterials wäre, dass ein Teil der WählerInnen von der harschen, eindimensionalen Polarisierungen des politischen Diskurses in den Medien und unter den Parteispitzen genug hat, und sich zwischenzeitlich wieder gemässigteren Positionen annähert. Das würde es dann auch heissen, dass strategisches Wählen nicht die Unterstützung von Parteien und KandidatInnen wären, die einem nicht wirklich entsprechen, sondern von Personen und Gruppierungen, die so sind, wie man das gerne hätte, nämlich moderater.

Der Erfolg beispielsweise von smartvote, dem Empfehlungen für KandidatInnen und Parteien aufgrund thematischer Uebereinstimmungen, spricht eher für diese Interpretation. Denn die Analyse von Selects würde dafür sprechen, dass man smartvote zwar verwendet, dann aber ganz anders entscheidet. Das mag ich schlicht nicht glauben, denn wer smartvote einsetzt, macht es, jene Personen und Parteien zu wählen, die ihnen effektiv nahestehen.

Claude Longchamp

Prominenz und Politik

Seit Ronald Reagan es schaffte, US-Präsident zu werden, gibt es einen Mythos mehr in der Politik: Prominenz reiche, um gewählt zu werden. Mitnichten, entgegne ich, und füge bei, gottlob!

corinne_schmidhauser_1_3153744_1257942827
Corinne Schmidhauser, frühere (Riesen)Slalomfahrerin, will als Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga in den Ständerat

Schauspieler, Sportlerinnen und JournalistInnen stehen sichtbar in der Oeffentlichkeit, haben hohe Medienpräsenzen und sind weitherum bekannt. Und Bekanntheit ist eine der zentralen Voraussetzungen, um gewählt zu werden. So reizt es Leute wie Alfred Rasser, den Kabarettisten, wie Adolf Ogi, den Sportsfunktionär, und Filippo Leutenegger, in die Politik einzusteigen. Sie alle hatten beruflichen Erfolg, wurden Nationalrat, in einem Fall reichte es gar bis in den Bundesrat.

Irrig wäre jedoch die Annahme, für jeden Promi sei der Weg in die Politik ein Kinderspiel: Toni Schaller, genauso wie Leutenegger mal Chefredaktor des Schweizer Fernsehens, fasste nie wirklich Fuss in den Parlamenten, für die er sich bewarb. Genauso erging es Ernst Schläpfer, Schwingerkönig, und Adolf Muschg, dem Schriftsteller, oder Schang Hutter, dem Plastiker.

Die Wahlforschung verweist mit schöner Regelmässigkeit auf die hohe Bedeutung der Bekanntheit , insbesondere bei Majorzwahlen. Doch das alleine reicht nicht, sagen letztlich fast alle Studien. Denn die Bekanntheit muss sich mit einem glaubwürdigen Bild eine Politikers, einer Politikerin paaren, welche in Parteien Rückhalt halt, welche politisch kompetent ist, und welche gelernt hat, sich auch auf dem politischen Parkett durchzusetzen. Den Promis fehlt es häufig schlicht an politischer Sozialisation – auf Partei- und Aemterebene.

Im Kanton Bern kann man zur Zeit ein solches Experiment beobachten. Corinne Schmidhauser, weiland eine unserer besten Skirennfahrerinnen, war in den Bergen schnell, wenn es von oben nach unten ging. Jetzt will sie genauso rasch von der FDP-Gemeinderätin in Bremgarten zur Ständerätin Berns werden. Dabei scheut sie nicht, etablierte Kräfte wie Nationalrätin Christa Markwalder herauszufordern. Toll! Aber auch sinnvoll?

Ich will gar nicht in die Falle trampen, bei alten Images von Frau Schmidhauser stehen zu bleiben. Doch bewirbt sie sich für eines der höchsten Aemter, die im Kanton Bern via Wahlen vergeben werden. Da stellen sich andere Fragen als an eine Lokalpolitikerin oder einen Lokalpolitiker. Vor allem auch, wenn die Anmeldefrist für Kandidaturen schon abgelaufen ist. Man kann deshalb der FDP nur raten, solche Experimente nicht zu weit zu treiben. Es mag sein, dass die EU-BeitrittsbefürworterIn Markwalder nach dem ersten Wahlgang auch bei mehr Stimmen als SVP-Kandidat Adrian Amstutz nicht zur bürgerlichen Einheitskandidatin wird. Die Chance aber, dass Schmidhauser dann vor Amstutz liegt, ist noch geringer.

Claude Longchamp

Ständeratswahlen in der Schweiz – ein vernachlässigtes Feld der Wahlforschung

Ueber Schweizer Nationalratswahlen weiss die Wahlforschung recht gut Bescheid. Ganz anders ist das bei Ständeratswahlen: Schon die amtlichen Statistiken des Bundes sind spärlich, zählt man das doch zu den kantonalen Aufgaben, die uneinheitlich verfahren. Und die akademische Wahlforschung hat sich dem Thema nur sehr zurückhaltend angenommen. Zeit, um das grösseres Loch im Wissen über Schweizer Wahlen zu füllen!

wa-statistiken-diagramme-parteipolitische-zusammensetzung-des-sr-nach-den-wahlen-diagramm
Generell gesprochen zeigen Ständeratswahlen im Zeitvergleich eine Polarisierungstendenz wie Nationalratswahlen, was Auffassungen relativiert, das ein ganz anderer Wahlmechanismus spiele.

Ich habe mir vorgenommen, meine Lehrveranstaltungen zur Wahlforschung an den Unis ganz auf die Ständeratswahlen zu verlagern. Denn nirgends ist die Brache so gross, wie bei dieser Art von Wahlen.

Das sozialpsychologische Konzept der Normalwahl eröffnete eine durchaus sinnvolle Angehensweise für Ständeratswahlen. Es unterscheidet zwischen lang- und kurzfristigen Faktoren der Wahlentscheidung. Die Langfristigkeit ergibt sich aus der Sozialstruktur und ihren Auswirkungen auf Parteien. Erwartet wird, dass so die Hausmacht der KandidatInnen entsteht. Kurzfristig auf den Wahlerfolg wirken sich das Personenimage und die Themenpositionen aus, die im Wahlkampf eine herausragende Rolle spielen.

Gemäss der Normalwahlanalyse obsiegt der oder die KandidatIn, welche die grösste Hausmacht hat. Ergibt sich diese nicht aus der eigenen Partei heraus, geht es um Wahlabsprachen zwischen verwandten Parteien. Bei Ständeratswahlen in der Schweiz beginnen hier die taktischen Ueberlegungen. Welche Parteien sind wie gut motiviert, ihre WählerInnen zu beteiligen, und wie gut sind die KandidatInnen in den Allianzparteien akzeptiert.

Damit ist man bei den Wahlkämpfen der KandidatInnen. Ihre Verankerung in der politischen Welt, die Kennzeichnung als Bisherige, die Auftritte in den lokalen Medien, die Erfahrung der Wahlkampfstäbe und die gewählten Kommunikationsstrategien sind hier die wichtigsten Determinanten.

Nicht zu übersehen ist, dass bei Ständeratswahlen (anders als bei amerikanischen Präsidentschaftswahlen) meist nicht ein Wahlgang alleine entscheidet. Im ersten werden deshalb die Ausgangspositionen innerhalb des Lagers bestimmt, um die FavoritInnen in eine möglichst günstige Lage zubringen, während im zweiten Wahlgang die eigentlich Ballotage stattfindet.

Ergebnisse von Ständeratswahlen können aufgrund amtlicher Resultate studiert werden. Wissenschaftliche Umfragen über Wahlmotive stehen dagegen selten zur Verfügung. Hilfreich und machbar sind Monografien zu Wahlkampagnen. Denkbar sind auch Prognosemodelle aufgrund von Personeneigenschaften oder Wahlallianzen. Schliesslich werden Hochrechnungen und Erstanalysen zu Ständeratswahlen medial vermehrt eingesetzt.

Mehr wissen hierzu, ist sicher gefragt: Denn die Komitees von StänderatskandidatInnen fragen nicht selten um Rat, was eine aussichtsreiche Kampagne sein könnte. Sie wollen wissen, welche Allianzen sie eingehen sollen, welche Themen favorisiert oder ausgeklammert werden sollen. Und sie mehr erfahren, welche Imageeigenschaften ankommen, und welche nicht.

Umso erstaunlicher ist es, dass Ständeratswahlen in der Schweiz bisher nur randständig untersucht wurden. In den Selects-Studien gibt es erste Ansätze dazu, genauso wie im Vorfeld es einige Befragungen im Vorfeld von Wahlen gibt. In Kantonen mit innovativen statistischen Aemtern finden sich kleine Untersuchungen zu ständerätlichen Wahlergebnissen.

Ich bin überzeugt, dass man rasch weiter kommen wird und spätestens bei den nächsten Erneuerungswahlen in den Ständerat im Oktober 2011 die besten Arbeitshypothesen testen kann.

Claude Longchamp

Mögliche NachfolgerInnen von Simonetta Sommaruga als Ständerätin unter der Lupe

Es war der erste Arbeitstag von Simonetta Sommaruga als Bundesrätin. Es war aber auch ein Tag mit Ereignissen, was die Nachfolge der ehemaligen Berner Ständerätin angeht. Eine erste Auslegeordnung.

topelement
Positionen der Parteien und KandidatInnen (anhand der NR-KandidatInnen 2007), die aussichtsreiche Bewerbungen für die Nachfolge von Sommaruga im Ständerat anbieten.

Bei der SVP, der grössten Partei im Kanton Bern, ist schon länger alles klar: Adrian Amstutz, der bestgewählte Nationalrat auf der Parteiliste, will ins Stöckli. Die SP, die Nummer 2 unter den kantonalem Parteien, bestimmte ihre Kandidatur dieser Tage: Ursula Wyss, ebenfalls bestgewählte SP-NationalrätIn, will den Ständeratssitz von Sommaruga erben.

Weniger klar ist Situation im bürgerlichen Zentrum: Die liberale Nationalrätin Christa Markwalder galt bisher als Favoritin der FDP, bekam heute aber Konkurrenz. Die Ex-Skifahrerin Corinne Schmidhauser, Grossrätin, will ebenfalls kandidieren. Der Entscheid der Partei fällt nächste Woche. Nicht solange warten will die CVP: Sie kündigte eine Kampfkandidatur aus der Mitte an, ohne Namen zu nennen.

Verzichtet haben die Grünen, und die BDP ist bereits mit einem Sitz bedient. Keine Ambitionen angemeldet hat die GLP; Gleiches gilt vorerst auch für die anderen kleineren Parteien EDU und EVP.

Von den BewerberInnen bringen Amstutz und Wyss die grösste Hausmacht mit. Beide sind klare ParteivertreterInnen: Amsutz ist Vizepräsident der SVP Schweiz, und Wyss ist Fraktionschefin der SP im Bundeshaus. Beide politisieren in der rechten resp. linken Hälfte ihrer Fraktion, was ihrer Bindungsfähigkeit in die Mitte nicht förderlich ist. Beide können aber darauf zählen, sehr bekannt und klar identifizierbar zu sein – und 2007 erfolgreich Panaschierstimmen gesammelt zu haben.

Wyss hat den Vorteil, von den Grünen unterstützt zu werden. Zusammen gibt das knapp 30 Prozent Hausmacht. Amstutz kann nicht damit rechnen, dass die BDP ihn namhaft unterstützt, da er an der Parteiabspaltung direkt beteiligt war. So hat auch er gut 30 Prozent aus dem eigenen Lager als Startbasis.

Um zu den entscheidenden Stimmen zu kommen, braucht jede erfolgreiche Bewerbung jedoch die Stimmen der bürgerlichen Mitte. Da muss man sich personell erst finden. Bei der FDP dürfte es darum gehen, wer von der BDP unterstützt wird, denn nur zusammen haben beiden Parteien Aussichten, vielleicht auf 30 Prozent zu kommen und damit den beiden anderen Lager die Stirn bieten zu können.

Für den ersten Wahlgang vom 13. Februar 2011 zeichnet sich kein eindeutiger, keine eindeutige FavoritIn ab. Es würde nicht überraschen, wenn am Wahltag die Bewerbungen von SVP und SP vorne liegen würden, ohne eine davon das absolute Mehr geschafft hätte. Entscheiden würde so ein zweiter Wahlgang, indem die FavoritIn ihre persönlichen Vorteile zum Tragen bringen könnten.

Man kann gespannt sein!

Claude Longchamp

PS: Ich habe vor, regelmässig über die Ständeratsersatzwahlen im Kanton Bern (und darüber hinaus) zu bloggen, das aber auf www.bernerwahlen.ch.

“Basels industrielles Erbe macht die Stadt konservativ”

Man nehme: ein Vorurteil. Man widerlege es mit einem Mix an Zahlen. Und man schaffe ein neues Vorurteil. So funktioniert der Journalismus der Basler Zeitung, seit sie mit Markus Somm einen neuen, konservativen Chefredaktor hat.

topelement1
Ueber alle Abstimmungsergebnisse hinaus betrachtet ist Basel eindeutig liberal, nicht konservativ

“Im Herzen Europa, trinational und weltoffen”, beginnt der Bericht von Alan Cassidy über das Abstimmungsverhalten Basels, typische Worte des Stadtmarketings zitierend. Stimmt nicht, sagt der Autor. Basels industrielles Erbe habe die Stadt konservativ gemacht, kontert er.

Gestützt wird das Ganze durch Material aus einem Vortrag von Michael Hermann, führender Politgeograph der Schweiz, der jüngst an der Uni Basel referierte. Sein Thema war das Stimmverhalten der fünf Schweizer Grossstädte im internurbanen Vergleich. Untersucht wurden dabei 20 eidgenössische Abstimmungen seit 1970 zur aussenpolitischen Oeffnung und zur einer restriktiveren Migrationspolitik.

Was im Bericht der BaZ folgt, ist ein Verwirrspiel mit zwei Sorten von Vergleichen. Denn Hermanns Aussagen beziehen sich auf die Unterschiede der 5 grossen Städte zum nationalen Mittel. Die BaZ aber interpretiert das als Trend in der Stadt angesichts der Veränderungen durch die Industrialisierung und ihren Folgen.

Fakt ist: Die höchsten Ja-Werte in den genannten Themenbereichen gibt es in den deutschschweizer Grossstädte regelmässig in Bern. Bei der aussenpolitischen Oeffnung ist das seit dem EWR-Entscheid 1992 immer so gewesen. Und in der Migrationsfrage gilt dies seit den Einbügerungsabstimmungen von 1994. Der Schock der Städter, in der ersten Europa-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 von den Miteidgenossen in der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz zurückbunden worden zu sein, hat nicht nur in der Bundesstadt, sondern weitgehend im grossurbanen Bereich den Stadt/Land-Konflikt in Sachentscheidungen an der Urne ansteigen lassen. Das war noch in den 70er und teilweise in den 80er Jahren ganz anders. Denn die deutschschweizer Grossstädte votierten in den 70er und 80er Jahren konservativer als die gesamte Schweiz, wenn es beispielsweise um Ueberfremdungsfragen ging.

Doch das wäre der Baz keine Schlagzeile Wert gewesen. So spitzte sie zu. Sie macht aus “konservativer” im interurbanen Vergleich (imn Text) schlicht “konservativ” im absoluten Sinne (im Titel) und interpretiert das als Folge der sozialen Entwicklungen in der Stadt. Hinhalten muss dafür die “Verbürgerlichung der Industriearbeiterschaft”, die mit dem Wirtschaftsaufschwung zu Eigentum und Vermögen gekommen sei und seither am Bewahren des Erreichten Interesse. Das alles kann man in anderen Städten auch beobachten, doch passt nicht zur These des Artikel, der alles umkehrt: “Basels industrielles Erbe macht die Stadt konservativ”.

Nun ist das alles nicht ganz falsch, im genannten Zusammenhang aber nicht wirklich erklärend. Denn der Trend in allen urbanen Gebiete geht seit fast 20 Jahren in Richtung Oeffnung und Offenheit – nicht umgekehrt. In Basel ist dieser Trend bei Oeffnungsfragen ein wenig schwächer, aber gleich gerichtet. Dieses Delta der Verönderung ist es, das die Baz hochstiliert, und aus dem Kontext gerissen ins Gegenteil gewendet und in der Schlagzeile gesetzt zu werden.

Um es klar zu sagen: Konservativ ist die Schweiz auf dem Land, nicht aber in den Grossstädten. Doch das passt nicht zur Brille des neuen Chefredaktors, selber vom linksliberalen Schreiberling zum rechtskonservativen Propagandist mutiert. Und da er nun auch in Basel vordenkt, muss ganz Basel alles so lesen werden, wie er es gerne hätte. Auch wenn das Material dazu so gar nicht passen will.

Wie gesagt: Images sind immer vereinfachend, lassen sich fast immer widerlegen, was noch lange kein Grund ist, neue Images kreiieren zu müssen! Besser wäre es, auf Images zu verzichten, und über die Realität zu berichten. Zum Beispiel, dass Basel Oberschicht, der Daig, von Grund auf konservativ ist und solchen Interpretationen ihrer Stadt nachhängt, weil Freisinnige, Linke und Grüne längst andere Schwergewichte gesetzt haben.

Claude Longchamp

Supinos Konter gegen Imhof

Pietro Supino, Verleger der Tamedia AG, kontert die Kritiken an der Qualität der Medien, wie sie beispielsweise Kurt Imhof diesen Sommer prominent vorgetragen hat.

__1.2140745.1236163216
Pietro Supino, Verleger der Tamedia AG, antwortet Kurt Imhof, Mediensoziologe an der Uni Zürich, in einer bisweilen persönlich gehaltenen Entgegnung.

“Medien spielen in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle. Es ist deshalb begrüssenswert, wenn über Fragen der Qualität debattiert wird. Die Vorstellungen darüber, was Qualität ausmacht, gehen allerdings weit auseinander”, schreibt Pietro Supino im Magazin seiner Zeitungen in Zürich und Bern. Wahrhaftigkeit, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und Fairness zählen für ihn generell dazu. Darüber hinaus liessen sich die verschiedenen Mediengattungen zurecht von anderen Qualitätskriterien leiten. Diese erarbeiteten sie gemeinsam intern mit ihren Redaktionen, und institutionalisierten externen Vertretern der Qualitätssicherung.

Analysen, wie die von Kurt Imhof und seinen MitarbeiterInnen am fög, die diesen Sommer in Buchform erschienen sind, hält Supino für unnötig. Da wurden namentlich die online-Medien und die Pendlerzeitungen kritisiert. Der Tamedia-Verleger hält nun dagegen: sachlich überzogen und wissenschaftlich fragwürdig ist sein Antwort. Grund: Die Mediennutzung, ihre Konstanten und ihre Veränderungen, seien nicht hinreichend erfasst worden, weshalb man die Neuerungen in der Medienwelt auch nicht richtig verstanden würden.

Deshalb schlägt für Supino auch der lautstarke Alarm ins Leere, Demokratie könne nur funktionieren, wenn in den Medien ein rationaler Diskurs über die gemeinsam zu lösenden Probleme stattfinde. Hier kontert er unmissverständlich: Das sei Unsinn, und ärgerlich dazu, heisst der Gegenschlag. “Für die Gesellschaft entscheidend ist etwas anderes – nämlich die Frage, ob das Angebot insgesamt genügt, damit die Medien ihre Forums-, Kontroll- und Integrationsfunktion erfüllen können.” Und genau das sieht Supino, mit Verweis auf politologische Studien (unter anderem auch von mir) nicht in Frage gestellt.

Selber plädiert der Verleger für mehr Gelassenheit gegenüber neuen Medien, denen gebildete Oberschichten seit jeher zu skeptisch begegnet seien. Selbstkritisch merkt er an, dem Aktualitätsdruck sollte man nicht immer gleich alles unterordnen. Bei der Auswahl von Themen und Köpfen könnte man mutiger werden. Personalisierung, Skandalisierung und Zuspitzungen ärgerten auch ihn gelegentlich.

Die eigentliche Problematik ortet Supino jedoch weder bei der Gratiskultur der neuen Medien und den Folgen für die etablierten Medien. Vielmehr klagt er die PR-Industrie an, die ihre Mittelgeber und wahren Interessen anonym halten, gleichzeitig aber rasch an Definitionsmacht gewinnen und in unverhältnismässiger Grösse gegen verkleinerte Redaktionen antreten würde.

Immerhin, an dieser Stelle kommen sich Supino und Imhof etwas näher. Der Journalismus brauche wirtschaftlich starke Medienhäuser, heisst es im Magazin – um sich gleich auch wieder vom Widersacher abzusetzen: Qualität sichere man nicht mit mehr Stellen im Journalismus, sondern mit mehr intelligenten Kooperationen, wie sie beispielsweise die Tamedia anstrebe.

Die Auseinandersetzung, die man sich hüben und drüben wünscht, ist eröffnet: über zutreffende Diagnosen, wahrscheinliche Ursachen und geeignete Vorschläge für Verbesserungen – auch via Blogosphäre, die das Magazin einen Ort der Debatte im klassischen Sinne der Aufklärung nennt, auch wenn es nicht immer ganz gelinge. Beweisen sie hier und jetzt das Gegenteil.

Claude Longchamp

Oppositionsmodus der SVP

Der Parlamentsmonitor “Politools” vermittelt uns einen Ueberblick über die fortschreitende Polarisierung im Nationalrat. In der laufenden Legislatur isoliert sich die SVP immer mehr, ist der Hauptbefund.

3723896klein

Man erinnert sich: Ende 2007 wird Christoph Blocher als Bundesrat abgewählt. Eveline Widmer-Schlumpf wird seine Nachfolgerin, gemeinsam mit Samuel Schmid, wir sie aber nicht mehr in die SVP-Fraktion aufgenommen. Diese verabschiedet sich unter Führung der Parteispitze in die Opposition, während die ehemaligen SVP-Mitglieder im Bundesrat zur neu gegründeten BDP wechseln. Erst 2009 kommt es zu einer Korrektur: Ueli Maurer wird neuer SVP-Bundesrat, während die Bundesversammlung Jean-François Rime den Einzug in die Bundesregierung 2010 verwehrt.

Wie sich das alles auf das Verhalten der SVP-ParlamentarierInnen ausgewirkt, hat ein Forschungsteam um den Berner Politikwissenschafter Daniel Schwarz untersucht. Die Zusammenfassung in der heutigen NZZamSonntag fasst der Sutdienleiter wie folgt zusammen: Die SVP hat aus ihrem Oppositionsmodus nicht mehr herausgefunden. Sie lässt sich selbst mit einer Vertretung im Bundesrat immer weniger einbinden.

Basis für diese Aussagen sind rund 2500 Namensabstimmungen im Nationalrat, die seit 1996 elektronisch dokumentiert vorliegen. Der Befund: Seit dem Parlamentsjahr 2008/2009 steigt die Frontbildung zwischen SP, FDP, CVP und Grünen gegen die SVP rasant an. Im laufenden Parlamentsjahr endete fast jede zweite Abstimmung mit dieser Konstellation. Das ist erstmals mehr als Parlamentsverhandlungen mit einer Uebereinstimmung unter allen grossen und grösseren Parteien. Und: Es ist klar häufiger als die Polarisierung der bürgerlichen Lagers gegen SP und Grüne.

Damit führt die Konsenssuche, mindestens in der Grossen Kammer immer seltener zu einer Einigung. Polarisierung prägen das Bild im Nationalrat. Die Mitte ist (und bliebt wohl auch) minderheitlich, sodass sie auf Unterstützung durch einen Pol angewiesen ist. Dies ist in dieser Legislatur immer weniger bei der SVP zu finden, immer häufiger auf der linken Seite.

Blockierungen der Mitte durch eine unheilige Allianz der Polparteien links und rechts bleiben numerisch unbedeutend, wenn sie auch Aufsehen erregen wie jüngst bei der 11. AHV-Revision. Genauso wie die Polarisierung zwischen FDP und SVP gegen Mitte/Links selten geblieben sind.

Für Daniel Schwarz heisst dies: “Die SVP ist vom bürgerlichen Lager weggedriftet. Sie ist selbst für die FDP kein Partner mehr”. Das hat zwei unterschiedliche Auswirkungen. Die Geschlossenheit der SVP-Fraktion im Nationalrat ist im gleichen Zeitraum leicht rückläufig, denn ein Teil ihrer Mitglieder spürt die Isolierung. Die Partei selber verweist auf die Wahlerfolge, die sich mit ihrer konsequent eigenen Linie in den kantonalen Wahlen einfahren konnte.

Fast wäre man geneigt, eine Schritt weiter zu gehen, wil sich die Kluft zwischen SVP und bürgerlicher Mitte erhöht, während die Spaltung zwischen Zentrum und den Linken seltener wird. Doch täuscht diese Eindruck auch: Denn die Analyse bezieht sich auf die Namensabstimmung im Nationalrat, der viel polarisierter ist als der Ständerat.

Claude Longchamp

Steuergerechtigkeits-Initiative: Auf welcher Nutzen(oder Schadens)erwartung entscheiden wir?

Die Volksabstimmung vom 28. November 2010 über die Steuergerechtigkeit ist auch aus politikwissenschaftlicher Sicht interessant. Denn sie wirft die Frage auf, aufgrund welcher Präferenzen abgestimmt wird.

SGI-Betroffene_Einkommen_de
Kanton, mit direkter Betroffenheit resp. mit betroffenen Gemeinden durch die SP-Steuergerechtigkeitsinitiative

In der Theorie des rationalen Wählens alles einfach: Beim Wählen und Abstimmung optimieren die BürgerInnen ihren Nutzen. Entsprechend stimmen sie ab. Sie haben eine eindeutige Präferenz und aufgrund informieren sie sich und fällen sie anhand der verfügbaren Informationen ihre Entscheidungen.

Von der Steuergerechtigkeitsinitiative der SP direkt betroffen sind 1-2 Prozent der EinwohnerInnen resp. SchweizerInnen. Käme es zu einer direkten, interessenbezogenen Entscheidung wäre das Ergebnis eindeutig. Die Initiative müsste klar angenommen werden.

Die Ja-Seite argumentiert entsprechend: Betroffen seien wenige Reiche. Das schwäche den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz; verhindert werden könne das nur, wenn man die kantonalen und kommunalen Gesetze hinsichtlich der Besteuerung höchster Einkommen und Vermögen einander angleicht.

Die Nein-Seite widerspricht dem, aber nicht direkt. Sie sucht eine andere Entscheidung. Sie will die Problematik auf die generelle Frage des Steuerföderalismus durch Kantone und Gemeinden und auf die indirekten Folgen letztlich für alle SteuerzahlerInnen ausdehnen, wenn die Begüterten abwandern.

Die heute veröffentlichte Repräsentativ-Befragung zu den vorläufigen Stimmabsichten der BürgerInnen in Sachen Steuerinitiative der SP lässt eine erste Beurteilung der vorrangigen Nutzenerwartungen zu: Wäre am 13. Oktober 2010 entscheiden worden, wäre die Initiative aller Voraussicht nach angenommen worden.

Das Spannendste dabei ist, dass die Polarisierung zwischen den Einkommensschichten effektiv gering ausfällt. Die Privilegierung hoher Einkommen führt in breiten Schichten zu Unmut, und die Vereinheitlichung der Steuertarife im Ganzen Land findet Zuspruch. Doch zeigen sich auch Grenzen: Der Steuerföderalismus ist nicht an sich vorbei, und Aengste bezüglich neuer Steuerbelastungen können vor allem im Zusammenhang mit dem Mittelstand thematisiert werden.

Der Konflikt ist zunächst parteipolitisch: Links vs. rechts. Er ist aber auch regional: West vs. Ost. Wie er ausgeht, ist noch offen. Denn zu Beginn einer Kampagnen beurteilen die BürgerInnen das Problem. Das hilft in der Regel der Initiative. Am Ende bewerten sie meist die Lösung des Problems. Das führt bei Volksinitiativen meist zu einem Meinungsumschwung vom Ja ins Nein.

Mit Blick auf die Theorie des rationalen Wählens (und Abstimmens) kann man deshalb folgende Beobachtungen festhalten: Die BürgerInnen haben nicht eine eindeutige Präferenz. Sie haben in der Regel Präferenzordnungen. Auf welche Ebene dieser Hierarchie sie sich entscheiden, ist nicht im Voraus klar. Es hängt davon ab, was ihnen in einer bestimmten Situation am wichtigsten ist, und was in dieser Situation auch am meisten öffentlich verhandelt wird.

Entscheidungen können sehr wohl rational im Sinne der Nutzenoptimierung oder Schadensminimierung interpretiert werden. Die Krux aber ist, was der Nutzen oder Schaden ist. Das sieht anders aus, wenn man sich anhand direkter und indirekte Folgen entscheidet, es sieht auch anders aus, ob man sich als Wirtschaftssubjekt oder als StaatsbürgerIn definiert.

Wie man in diesen Hinsichten hin und her schwankt, kann man ab heute bis zum Abstimmungstag exemplarisch verfolgen.

Claude Longchamp

Einbinden oder ausgrenzen?

Francesco Benini, Redaktor der NZZ am Sonntag, publiziert heute ein Interview mit Wolfgang Schüssel, von 2000 bis 2007 Bundeskanzler der Republik Oesterreich. Thema des Gesprächs ist der Umgang mit dem Rechtspopulismus, der in zahlreichen europäischen Ländern Westeuropas anwächst. Der Ratschlag des Altkanzlers lautet: Die Populisten durch Einbindung entzaubern. Das sehen in Europa nicht alle gleich.

europakarte

Man erinnert sich: Wolfgang Schüssel, designierter Bundeskanzler der OeVP, brach nach den Nationalratswahlen 1999 mit dem üblichen Rot-Schwarz in Oesterreich. Vielmehr ging er 2000 eine Koalition der FPOe ein. Die Legitimierung der Partei Jörg Haiders trug Oesterreich vorerst viel Kritik von der EU ein; die verhängten Sanktionen wurden nach einem halben Jahr jedoch aufgeboben.

In der Folge entwickelte Schüssel seine Umarmungsstrategie gegenüber der FPOe vollumfänglich. Im Rückblick fasst er das wie folgt zusammen: Volksparteien, die mit rechtspopulistischen Parteien koalieren, sollten sich hüten, sich auf das meist einzige Thema ihrer Partner reduzieren zu lassen. Sie sollten ihren eigenen Gesamtentwurf für die Gesellschaft unverändert weiter verfolgen. MinisterInnen rechtspopulistischer Parteien soll man nicht verteufeln, vielmehr ist in einer Regierung Kooperation zum Vorteil des Landes angezeigt. Denn parlamentarische Demokratien sollten sich hüten, von BürgerInnen abgehoben zu funktionieren, weil sie auf die Sensibilitäten von Bürgerbewegungen angewiesen sind. Die Einbindung von Teilen der Rechtspopulisten schwächt, ist sich Schüssel sicher, ihre Attraktivität für Protestwähler. Deshalb können man davon ausgehen, dass rechtspopulistische Parteien in der Regierungsverantwortung Abnützungserscheinungen zeigen – und sich, um Wählerverluste aufzufangen bald schon spalten würden.

Generell müsse man in europäischen Demokratien mit Protestpotenzialen von einem Viertel der WählerInnen rechnen, doziert der Altkanzler in der NZZaSo. Protestpotenziale würden deshalb überall und wiederkehrend auftauchen. Am Anfang solche Zyklen stünden politisierende Ereignisse wie die Ermordnung Pim Fortuyns in den Niederlanden, die brennenden Vorstädte in Frankreich oder die Thesen von Thilo Sarrazin in Deutschland. Das mobilisiere eine Kraft, die einen neuen Diskurs in die etablierte Politik trage. Dem müsse man sich stellen, wenn man Regierungsverantwortung inne habe. Dafür müsse man gelegentlich auch das Unerwartete tun, so der OeVP-Politiker.

Das Erwartbare zeichnet sich für Schüssel in Wien ab. Er rechnet mit einer rot-schwarzen Koalition. Politische und wirtschaftliche Macht vereinige sich so und werde zusammen auch regieren können. Doch bleibe das Unbehagen, etwa mit der Asylpolitik. Denn der Wahlsieger, die FPOe, werde wieder ausgegrenzt. Das würde zwar den Exponenten der Opposition eine Plattform entziehen, sie aber auch nicht fordern. Vor allem aber nehme man so einen wesentlichen Teil der Bevölkerung aus und mit ihm auch das Unbehaben, das zum Wahlentscheid für Rechtspopulisten geführt habe, nicht ernst.

Ohne Zweifel, da argumentiert einer, der als “Drachentöter” in die österreichische Politikgeschichte eingangen ist, in sich kohärent. Für ihn spricht, dass er Jörg Haiser entzaubert hat. Doch stellt sich die Frage, ob das Beispiel Oesterreich wiederholbar, ja verallgemeinerbar ist? Aehnliches wie mit Schüssels Regierung von damals geschieht gegenwärtig in Italien, ohne dass klar ist, wer hier welchen Part spielt und wer von wem entzaubert wird. Das war ja auch in der Schweiz nicht eindeutig, als Christoph Blocher im Bundesrat war.

Ein kleiner Ueberblick über die weitere Länder mit starken rechtspopulistischen Parteien zeigt, dass es auch andere Vorgehensweisen gibt. Beispielsweise nahm Nicolas Sarkozys UMP die Anliegen des aufstrebenden Front National auf, um ihn bei den nächten Wahlen erfolgreich zurückzubinden. Beispielsweise grenzen sich die schwedischen, dänischen und niederländischen Bürgerlichen ab, sind aber bereit, Konzessionen zu machen, damit ihre Minderheitsregierungen von den Rechtspopulisten geduldet werden. Anders verfahren linke Regierungen, wie jene Norwegens, welche die Fortschrittspartei ganz ausgrenzt, auch wenn sie 23 Prozent der WählerInnen-Stimmen hinter sich weiss.

Einschätzungen zum Dilemma im Umgang mit Rechtspopulisten sind erwünscht!

Claude Longchamp

Durchbrüche am Gotthard – und in der Wahlforschung

Am 15. Oktober 2010 um 14 Uhr eine Vorlesung halten zu wollen, ist ganz einfach. Denn just in dem Moment, wo man beginnt, geht die TV-Uebertragung zum Durchbruch am Gotthard in die entscheidende Phase. So tun, wie wenn nichts wäre? Nein, denn heute schauen sich Studierende auf ihren Labtops und iPhones das an, was sie wollen. Besser ist es also, den Durchbruch gleich miteinzubeziehen und zum Thema zu machen.

Schweiz Gotthard Tunnel

Das passte in der heutige Veranstaltung gar nicht so schlecht. Es ging um den Vergleich der beiden wichtigsten Theorien in der Wahlforschung: dem rational-choice-Ansatz einerseits, dem sozialpsychologischen anderseits. Jürger Falter, einer der führenden Wahlforscher in Deutschland, geht davon aus, dass Durchbrüche in diesem Fach dann zu erwarten sind, wenn es gelingt, aus einer Kombiation beider Ansätze ein verbessertes, neues Vorgehen vorzuschlagen.

Zu den wesentlichen Unterschieden beider Ansätze gehört das Menschenbild. RC-Theorie reduizeren den Menschen auf einen Käufer, der Entscheidungen trifft. Er hat klare Präferenzen, die sich aus seinen Interessen ergeben, und er wählt aus den Produkten jenes aus, das diesen am nächsten kommt. Das mag beim Kauf von Gegenständen so sein, bei politischen Entscheidungen ist das wohl zu einfach: Kennt man die Produkte hinreichend, wie das die Theorie annimmt? Und hat man so eindeutige Präferenzen wie unterstellt werden? Vor allem aber, wägt man immer wieder von Neuen ab, wenn man vor der gleichen Kaufentscheidung steht?

Der Mensch der Sozialpsychologie ist anders. Er wird durch die Sozialisation, in Familie, Schule und Medien geprägt. Das geschieht meist in den Jugendjahren intensiv, und das Ergebnis daraus, bleibt bestehen: Nicht ohne Einflüsse auf die Politik, auf grundlegende Ueberzeugungen, geteilte Werte und politische Vorlieben. Ueber Parteien richtet man nicht vor der Wahl aufgrund einer gänzlichen offenen Situation, sondern urteilt man aufgrund von Identifikationen mit ihnen, ihren Programm und Personen meist längerfristig konstant. Doch auch diese Ansatz ist nicht ohne Probleme: Denn stabile Parteiidentifikationen scheinen weltweit zurückzugehen, instabiler, ja multipler zu werden, sodass die verhaltenssteuernde Funktion rückläufig ist, wenn gewählt werden soll. Und je nach Angebot der Parteien kann es auch sein, dass man die Richtung teilt, nicht aber die KandidatInnen, dass man die aktuellen Positionen gut findet, das damit verbunden politische Umfeld aber nicht teilt. Das alles schafft Probleme.

Karl Popper prägte den Begriff, dass das sozialwisssenschaftliche Ansätze Schlaglichter auf die Realität seien. Jeder Ansatz kommt einem Scheinwerfer gleich, der etwas anderes von der Realität ausleuchtet, mehr oder weniger scihtbar macht und damit erklärt resp. bestenfalls Veränderungen auch vorhersieht. Durchbrüche wären demnach zu erwarten, wenn es gelänge, in der Wahlforschung komplexere Menschen- und Gesellschaftbilder zu entwickeln, die uns in einem einen Blick auf die Realitäten bei Wahlen werfen.

RC-Ansätzen ist eigen, dass sie sich um das Thema der Emotionen in der Politik viel zu wenig gekümmert haben. Umgekehrt beschäftigen sich die Ansätze aus der Sozialpsychologie zu wenig mit Fragen der Informationsaufnahme und -verarbeitung und der Folgen, die daraus für Wahlentscheidungen entstehen. Menschliche Einstellungen, könnte man folgern, müssen auf beidem aufbauen, gesellschaftliche Realitäten die Kommunikationsprozess in der Mediengesellschaft miteinbeziehen.

In der kommenden Veranstaltung werden versuchen, auf dieser Basis denkbare Durchbrüche in der Wahlforschung zu diskutieren.

Claude Longchamp