Widerstand gegen den Islam als neue Konfliktlinie im Parteiensystem Europas?

Der Anti-Islam-Reflex wird zum europäischen Phänomen, mit dem Wahlen gewinnt und die Regierungsbildungen beeinflusst. Ein wirksames Rezept dagegen wird eigentlich nirgends sichtbar, sodass man sich die Frage stellen kann: Ist das eine momentane Welle oder entsteht hier eine neue Konfliktlinie im europäischen Parteiensystem?

wilders2_130341s
Geert Wilders, führender Kopf der anti-islamischen Bewegung, die in ganz Europa rechtspopulistische Parteien erobert

Seit gut 20 Jahren ist der Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern mal schwächer, mal stärker, – aber eine feste Grösse. Das Neue ist, dass dabei nicht mehr einfach gegen die politische Klasse gewettert wird, auch nicht pauschal gegen AusländerInnen. Nein, neu ist, dass der Widerstand gegen den Islam zur mobilisierenden Kraft geworden ist.

Bis tief in die Mitte der Gesellschaft reicht die Angst, muslimische Zuwanderer könnten den Charakter europäischer Gesellschaften verändern. Selbst wenn die Anteile recht gering ist, Bilder, die eng mit dem Islam in Verbindung gebracht werden, wirken weit herum negativ: Steinigung von EhebrecherInnen stösst auf fast geschlossene Ablehnung, Burkas irrtieren weit herum, und Zwangsheiraten sind mit den Vorstellungen westlicher Liberalität mehrheitlich unvereinbar.

Wo Zukunftsängste angesichts global negativer Trend in Wirtschaft, Umwelt und Politik dominieren, grasiert die Verunsicherung, nicht mehr nur in den Unterschichten, vor allem auch in den Mittelschichten. Das ist der Nährboden für Stimmen zugunsten der neuen antiislamischen Populisten und ihrer Parteien. In der Schweiz, Ungarn und Italien sind sie Teil der Regierungsparteien geworden, in den Niederlanden, Belgien und Schweden hängen die Regierungsbildung von Verhalten der rechtspopulistischen ParlamentarierInnen ab, denn bürgerliche Koalitionen kommen ohne ungeliebte Angebote nach links oder Konzessionen an die Adresse der Rechtspopulisten auf keine tragfähigen Mehrheiten im Parlament.

Geert Wilders, der Niederländer, der so Einfluss auf die Regierung seines Landes nimmt, macht es vor, wie das neue politische Rezept funktioniert. Er setzt konsequent auf den Anti-Islam-Reflex, denn die neuen Islamophie bringt gegenwärtig mehr als die bekannte Xenophobie. Andere, wie die österreichische FPOe, setzen nach dem Vorbild der SVP auf Provokation im Internet oder Plakaten, um die Medienaufmerksamkeit im Wahlkampf für sich zu gewinnen und die öffentliche Debatte auf ihre Themen zu lenken. Genau das zwingt, bürgerliche wie sozialdemokratische Parteien, sich ihnen anzunehmen, in der Hoffnung nicht zu viel Terrain und WählerInnen zu verlieren. Kurzfristig ist das aber keine Erfolgsgarant, denn dort, wo die Probleme unterschätzt wurden, verstärkt dies das eingeleitete Rutschen der politischen Landschaft eher noch.

Bei den Europa-Wahlen 2009 machten die Rechtspopulisten in 10 Mitgliedstaaten mehr als 10 Prozent der Stimmen, in Grossbritannien sogar mehr als 20 Prozent. So wird aus dem anfänglich nationalen Phänomen ein internationales. Im Juli 2010 hat der weit gereiste Wilders seine Internationale Freiheits-Allianz gegründet, mit dem Ziel, den Islam zu stoppen und so die Freiheit zu sichern. Damit sollen die anti-islamischen Kräfte in ganz Europa, ja auch in den USA gebündelt werden. An diesem Wochenende tritt er in Berlin auf, um im Gefolge der Sarrazin-Debatte über die beklagte Selbstaufgabe Deutschlands für seine Sache zu werben. Ausflüsse der medialen Debatte hierzu sind bis in die Schweiz zu spüren. Ein Fingerzeig, was im Wahljahr 2010 auch hierzulande geschehen könnte, ist das allemal.

Darüber hinaus stellt sich die Frage: Entsteht gegenwärtig eine neue Konfliktlinie im Parteiensystem, welche von Dauer sein könnte? Analysen und Einschätzungen des jüngsten Phänomens in der europäischen Parteienlandschaft sind durchaus erwünscht!

Claude Longchamp

Le rideau de rösti vs. Röschtigraben

René Knüsel, Politologe an der Universität Lausanne, interpretiert im heutigen “Le Temps” den gestrigen Röschtigraben in der Volksabstimmung über die 4. AVIG-Revision. Er ortet drei themenspezifische Gründe und eine allgemeine Ursache.

choma
Selbst auf Gemeindeebene zeichnen sich (mit Ausnahme des Kantons Wallis) die unterschiedlichen Mehrheiten zur AVIG-Revision weitgehend entlang der Sprachgrenze ab.

René Knüsel nennt als Erstes die soziale Realität. Diese sei in den verschiedenen Sprachregionen anders, zumal bei der Arbeitslosigkeit. In zahlreichen Gegenden der französischen- wie der italienischsprachige Schweiz kenne man das Phänomen besser, habe sich mehr damit beschäfitgt und wisse um die Folgen. Entsprechend sei die Reaktion auf die Revision heftiger auf Widerstand gestossen. Sie habe auch mehr mobilisiert. Das alles sei an vielen Orten der deutschsprachigen Schweiz anders, weshalb der Einsatz für Arbeitslose weniger zum Politikum werde, das Problem gelegentlich auf tabuisiert werde.

Damit einher geht nach Knüsel ein differentes Staatsverständnis. In der deutschsprachige Schweiz reagiere man sensibel auf Staatsaktivitäten, gerade wenn sie als Eingriffe in die Privatsphäre gesehen werden können. Das gelte nicht nur bei der Arbeitslosigkeit, es findet sich auch bei der Fürsorge, Vorschriften für die Kindererziehung oder bei der Verhinderung innerehelicher Gewalt. Zementiert werde das durch andere Strukturen, denn gerade in der Romandie ist es der Kanton, der sich um soziale Fragen kümmere, während das auf der deutschsprachige Seite öfters die Gemeinden seien. Das erschwere es, politisch koordinierten Druck auszuüben.

Den dritten Grund ortet der Politologe in den Wahrnehmungen der Wirtschaftsentwicklung. Die deutschsprachige Schweiz verstehe ich trotz Finanz- und Wirtschaftskrise als ökonomische Kraft. Deshalb traue man sich die Ueberwindung der Probleme viel eher zu. Die Romandie habe zwar eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur, doch hängt deren Entwicklungen stärker vom Ausland oder von der deutschsprachigen Schweiz ab. Das lasse weniger Zuversicht in die wirtschaftliche Zukunft aufkommen.

Schliesslich erwähnt der Lausanner auch das, was mit den Proportionen der Sprachgruppen zu tun hat. Die Romand(e)s sind eine Minderheit – und Minderheiten fühlten sich von der Mehrheit schnell mal ausgeschlossen. Das selber nähre das Gefühl, übergangen zu werden. “C’est une relation qui rest extrémement délicate.”

Deshalb füge ich bei, meinte man mit dem Röschtigraben oft nur die Minderheit, auf die man gebührend Rücksicht nehmen müsse. Demgegenüber meint der rideau de rösti meint, dass man schon gar nicht verstehe, was hinter dem Vorhang geschehe und deshalb ausgeschlossen sei.

Claude Longchamp

Hochrechnung zur eidg. Volksabstimmung über die Revision der Arbeitslosenversicherung

Heute stimmt die Schweiz über die 4. AVIG-Revision ab. Regierung und Parlament befürworten sie, die Gewerkschaften haben jedoch das Referendum ergriffen, sodass es zur Volksentscheidung kommt. Die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände befürworten die Revision, die rotgrünen Parteien und die Arbeitnehmerorganisationen hingegen lehnen sie ab. Eine Erstanalyse der Volksentscheidung mit 54,3 Prozent Zustimmung auf der Basis von Kantonresultaten.

04.parsys.93592.2.photo.Photogallery
Ergebnis der Volksabstimmung über die 4. AVIG-Revision nach Kantonen
.

1100
Die Umfragen der SRG hielten eine unterdurchschnittliche Mobilisierungsabsicht fest. Es gab mehr Ja- als Nein-Stimmabsichten, doch hatte keine Seite eine Mehrheit auf sicher; zudem holten die Gegner während des Abstimmungskampfes auf. Deshalb blieb der Ausgang auch 2 Wochen vor der Volksentscheidung offen, wenn auch ein Ja wahrscheinlicher erschien als ein Nein. Erwartbar ist, dass es zu einer grösseren Differenz zwischen den Sprachregionen mit der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz an den Polen kommt.

1245
Der Trend ist gesetzt. Es liegen interne Informationen aus 19 Kantonen vor, 16 mehr als bei den ersten Endergebnissen. Sie legen drei Aussagen zum Abstimmungsausgang nahe:
. Es gibt ein Ja,
. es gibt einen rideau de rösti, und
. es gibt eine unterdurchschnittliche Stimmbeteiligung.

1305
Die erste Hochrechnung liegt vor. Sie legt einen Ja-Anteil von rund 55 Prozent nahe; die Fehlerquote beträgt noch maximal +/-3 Prozent fest. Das Ja ist sicher.
Von den Trendkantonen, die schon fertig gezählt haben, zeigt Schaffhausen genau das Gleiche. Denn er nimmt die Vorlage mit 54,8 Prozent an.

1335
Die zweite Hochrechnung ergibt erneut 55 Prozent Zustimmung zur 4. AVIG-Revision. Die Sprachregionen geben die beste Erklärung für kantonalen Unterschiede. Die Differenz zwischen der deutschsprachigen Schweiz einerseits, der französisch- und italienischsprachigen anderseits beträgt rund 18 Prozentpunkte. Die Extremwert sind bei den Kantonen Appenzell-Innerrhoden oder Obwalden mit einer hochrechneten Zustimmung von rund 70 Prozent resp. im Kanton Jura zu finden, wo das Endergebnis vorliegt und ein Nein mit 76 Prozent dokumentiert.

1405
Die dritte Hochrechnung ergibt 54 Prozent Zustimmung. Die Veränderung gegenüber der zweiten markiert keinen Trend; sie entsteht aufgrund einer verbesserten Datenlage. Es liegen alle Gemeinden für die Hochrechnung vor; und die real eingetroffenen Kantonsresultate sind verarbeitet.

alv
Bild anklickbar
Höhe der kantonalen Arbeitslosigkeit zur Erklärung des Abstimmungsergebnisses nach Kantonen.

Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit im Kanton und Abstimmungsergebnis ist hart, und zwar in beiden Sprachregionen. Es gilt: Je höher die aktuelle Arbeitslosenquote in einem Kanton ist, desto stärker fällt der Widerspruch zur Revision aus.
Im Einzelfall gibt es Verstärkereffekte. So ist das Nein im Kanton Jura noch deutlicher als aufgrund der Arbeitslosenquote erwartbar. Im Wallis, in Fribourg und Neuenburg entspricht sie genau dem Erwartungswert. Sie ist dafür in der Waadt und in Genf etwas geringer. In der deutschsprachigen Schweiz sind die Ausreisserkantone etwas weniger zahlreich. Uri, sowie beide Basel haben etwas weniger Ja als erwartbar gewesen wäre, Zug und Thurgau etwas mehr Ja.

1415
Der Vergleich mit früheren Volksabstimmungen in ähnlichen Fragen zeigt, dass die Zustimmung heute etwas tiefer sein wird als vor 8 Jahren. Gewachsen ist die Polarisierung zwischen den Sprachregionen, und zwar von 9 auf 18 Prozent im Mittel der deutsch- und französischsprachigen Schweiz.

alv2
Bild anklickbar
Zustimmung zur AVIG-Revision 2002 als Vergleich zur Zustimmung bei der aktuellen Abstimmung nach Kantonen.

In Innerschweizer Kantonen wie Obwalden und Zug steigt beispielsweise die Bejahung, während sie in Kantonen wie Neuenburg und Jura klar heute tiefer ist. Auch der Kanton Tessin kennt eine deutlich verstärkte Ablehnung. Schliesslich sei auch auf die Entwicklung im Kanton Waadt verwiesen, wo innert 8 Jahren aus einer knappen Zustimmungsmehrheit eine klare Verwerfung wurde.

1510
Die Stimmbeteiligung betrug an diesem Wochenende gesamtschweizerisch hochgerechnete 35 Prozent. Das ist ein unterdurchschnittlicher Wert. Krass ist der Wert für die Teilnahme im Kanton Glarus. Mit knapp 22 Prozent mobilisierte das Thema in diesem Kanton gerade mal halb so viel wie sonst bei eidgenössischen Volksabstimmungen.

betdiff
Bild anklickbar
Zustimmung zur Vorlag und Minderbeteiligung in den Kantonen: In deutschsprachigen Schweiz bei hohem Ja, in der Romandie bei starkem Nein eine verringerte Beteiligung gegenüber sonst.

Gewisse Zusammenhänge zwischen der Beteiligungsveränderung gegenüber anderen eidgenössischen Abstimmungen gibt es. Doch sind sie nicht einheitlich; selbst da zeigen sich sprachregionale Einflüsse. In der deutschsprachigen Schweiz ist bei starker Minderbeteiligung die Zustimmung zur Revision besonders hoch. In der Romandie ist es genau umgekehrt. Hier gilt, dass die Minderteilnahme die Ablehnung beförderte. Mit anderen Worten: In beiden Sprachregionen spürte man, wo die Mehrheiten sein würden. Wer nicht zu dieser gehörte, beteilgte sich auch weniger. Das waren jenseits der Saane die Befürworter der Revision, diesseits ihre Gegner.

1535
Die Endergebnisse der eidgenössischen Volksabstimmung vom 26. September 2010 liegen vor. Bei einer Stimmbeteiligung von 35,7 Prozent wurde die 4. AVIG-Revision mit 53,4 Prozent der Stimmen angenommen.

gerecht
Bild anklickbar
Zustimmung zum Argument “Revision ist gerecht” in den Vorbefragungen zur Erklärung des Abstimmungsergebnisses nach Kantonen.

Die Gegner haben versucht, den Zorn gegenüber des Sozialabbau mit der Abzockerdebatte zu verbinden. Das ist ihnen teilweise gelungen. Ein durchschlagener Effekt lässt sich nicht nachweisen. Angekommen ist das vor allem dort, wo es auch viel Misstrauen in der Behördenpolitik gibt. Wo diese jedoch als ausgewogen angesehen worden, je als gerechte Revision angesehen wurde, versagte die Skandalisierung. Die Stossrichtung der Vorlage mobilisierte zwar über das linke Potenzial hinaus GegnerInnen, doch nicht genug, um daraus in der ganzen Schweiz eine Mehrheit werden zu lassen.

1730
Bilanz: Die 4. AVIG-Revision ist angenommen worden. Die Zustimmung betrug 53,6 Prozent. Die Beteiligung lag bei 35,7 Prozent. Zentrales Merkmal in den Abstimmungsergebnissen ist die erhebliche sprachregionale Differenzierung. Die deutschsprachige Schweiz stimmte zu, die französisch- und italienischsprachige Schweiz war mehrheitlich dagegen. Die Polarisierung zwischen den Sprachregionen war stärker als 8 Jahre zuvor, bei der letzten vergleichbaren Abstimmung. Die Erstanalyse zeigt, dass es einen direkten Zusammenhang mit der regionalen Arbeitslosenquote gibt, die Solidarität mit ihnen von der politischen Position abhängt. Diese war in der Romandie stärkern, in der deutschsprachigen Schweiz gewichtete man die Eigenverantwortung grösser.

persStimmabsicht_CH
Bild anklickbar

Die Kurzanalyse der Meinungsbildung im Trend zeigt, dass die Angaben in den Vorumfragen eine insgesamt richtige Einschätzung erlaubten. Der Ja-Anteil war stärker als der Nein-Prozentsatz. Die Gegner holten in der Kampagne aber auf, ihnen gelang es, Unschlüssige am Ende besser anzusprechen. Das legt auch nahe, dass die Gegner unter den Unschlüssigen mehr Stimmen machten als die Befürworter. Einen Meinungsumschwung gab es in der deutschsprachigen Schweiz nicht, in der Romandie zeichnete er sich schon früh im Abstimmungskampf ab, während dies in der italienischsprachigen Schweiz erst gegen den Schluss erfolgte.

Claude Longchamp

Der Rat an die Vereinigte Zauberlehrlingsversammlung

Im Wochenrückblick bereitet Politologe und NZZ-Redaktor Martin Senti die Rückkehr der SVP mit zwei Sitzen im Bundesrat vor – und nennt die zentrale Bedingung hierfür, wie ich sie hier schon mehrfach skizziert habe.

martin_senti
Martin Senti, Lehrbeauftragter für politische Parteien an der Uni Zürich und NZZ-Redaktor skizziert einen Weg zurück zur Konkordanz

Die Analyse von Martin Senti beginnt mit einem Paukenschlag: “Trotz gerechtfertigtem Anspruch der SVP auf zwei Sitze im Bundesrat hat die Mehrheit der Vereinigten Bundesversammlung 2003 rückblickend einen Fehler begangen, als sie sich sang- und klanglos dem Diktat der SVP gebeugt und ausgerechnet den erklärten Konkordanz-Skeptiker Christoph Blocher (“geteilte Verantwortung ist keine Verantwortung”) in den Bundesrat gewählt hat.” Seither gäbe es einen Domino-Effekt, bei dem Fehler über Fehler begangen werde, sodass die Disparität der Kräfte zwischen Regierung und Parlament heute eklatanter sind als vor 2003.

Immerhin, Senti ortet nach den Bundesratswahlen von 2009 und 2010 eine neue Kraft im Parlament, mit der eine Normalisierung der Verhältnisse im Bundesrat in Reichweite gelange. Konkret geht es um den nachstehenden Deal: Die Bundesversammlung transferiert den BDP-Sitz im Bundesrat 2011 an die SVP zurück – und die SVP akzeptiert, dass das Wahlgremium auf einer echten Wahlfreiheit mit einerm Zweier-Ticket (ohne den abgewählten Blocher) bestehe.

Konkordanz, formuliert der Kommentator, sei die “Einbindung relevanter Kräfte zwecks dauerhafter Machtabsicherung”. Dies basiere auf Pakten zwischen Parteien, weche keine politische Liebesbeziehungen, sondern eine funktionale Notwendigkeit im Konkordanzsystem seien. Den Fusionsabsichten zwischen CVP und BDP erteilt er deshalb eine Absage. Besser wäre es seiner Meinung nach, die Achse zwischen FDP und SP um die SVP zu erweitern.

Warten auf Eveline Widmer-Schlumpfs Entscheidung über Verbleib oder Rücktritt mag Martin Senit nicht wirklich. Er verabschiedet sie “als furchtlose Dompteurin einer Blocher- SVP, die im Siegesrausch die Grenzen des Konkordanz-Verträglichen wiederholt überrschritten habe”. Vielmehr empfiehlt er der “Vereinigten Zauberlehrlings-Versammlung” im Bundeshaus vorauszugehen und zu einer dauerhaften Regierungsformel zurückfinden.

In einem Punkt weicht der Politberater den (mindestens vorläufigen) Realitäten indessen aus: SVP und FDP hätten in seinem Modell die Mehrheit in der Regierung; SP, CVP und Grüne aber die in der Bundesversammlung; schon einmal wurde davon Gebrauch gemacht, weshalb ich sage: Das wird noch zu vermitteln geben!

Claude Longchamp

Hochrechnung vom Abstimmungssonntag

Am Abstimmungssonntag findet, wie gewohnt, eine Hochrechnung von gfs.bern zur eidgenössischen Abstimmung statt. Sie bezieht sich auf den einzigen Gegenstand der Volksentscheidung, auf die 4. AVIG-Revision. Publiziert wird sie in allen SRG-Medien.

P1010710
Abstimmungsplakat zur Volksabstimmung über die Arbeitslosenversicherungsrevision im Berner Hauptbahnhof

Am Sonntag um 12 Uhr schliessen die Abstimmungslokale. Eine Stunde später liegt eine erste nationale Hochrechung mit einer Genauigkeit von +/- 3 Prozentpunkten vor. Bis 14 Uhr steht das hochgerechnete Abstimmungsergebnis verbindlich auf nationaler und kantonaler Ebene fest, bis 15 Uhr gilt das auch die Stimmbeteiligung.

Damit wird die Hochrechnung zum Analyseinstrument. Geprüft werden erste Zusammenhänge zwischen dem Kontext und Abstimmungsentscheidungen, wie etwa der Auswirkung der kantonalen Arbeitslosenquote auf die Volksentscheidung.

Am Ende des Abstimmungssonntags folgt ein Bilanz zum Abstimmungstag mit Rück- und Ausblick.

Nachstehend die wichtigsten Sendetermine:

SF1 1230 / DRS1 1240
Trendmeldungen

SF1 1300 / DRS1 1315
Hochrechnung Abstimmungsergebnis gesamtschweizerisch und nach Sprachregionen

SF1 1400 / DRS1 1345
Hochrechnung Abstimmungsergebnis, Vergleich mit ähnlichen Volksabstimmungen 1997 und 2002

SF1 1500
Hochrechnung Stimmbeteiligung, Sockel- und Zusatzmobilisierung, Rückblick Abstimmungskampf

SF1 1600
Erstanalyse 1: kantonale Arbeitslosigkeit und Abstimmungsergebnisse

SF1 1700
Erstanalyse 2: kantonale Parteistärken und Abstimmungsergebnisse

SF1 1830
Würdigung: Rück- und Ausblick auf Volksabstimmungen am Beispiel der AVIG-Revision

Ueber den Verlauf von Trend-, Hochrechnungen und Erstanalysen informiert sie auch die neue Website von gfs.bern. Mit fünf Minuten Verzögerung finden sich da auch alle Informationen.

Zurücktreten? Abwahl riskieren? Bei der CVP andocken? Oder ganz einfach Wahlen gewinnen?

Kaum sind die Bundesratswahlen vorbei, wird die Diskussion über die richtige Sitzverteilung in der Schweizer Regierung neu lanciert. Stabilitätswunsch hin oder her. Die NZZ präsentiert einen Vorschlag des Luzerner CVP-Ständerates Konrad Graber, der einen Verbleib der BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Bundesrat auch über 2011 vorsieht.

HBwsGCeh_Pxgen_r_800x534

Mitten in aktuellen Spannungsfeld befindet sich BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Mit der Gesamterneuerungswahl 2011 wird man sie unter keinen Umständen mehr als gewählte SVP-Bundesrätin bezeichnen können. Ob ihre Partei, die BDP, selber auf 10 und mehr Prozent kommt, ist fraglich, sodass es an einem numerischen Grund für die Ersetzung des SVP- durch einen BDP-Sitz fehlt.

“Die SVP wird sich 2011 nochmals gedulden müssen”, diktierte der Luzerner Ständerat Konrad Graber der NZZ ist elektronische Notizbuch. Er plädiert für einen Uebergang zur (nicht weiter definierten) inhaltlichen Konkordanz. Der Grundsatz ist einfach: Wer die gemeinsame Politik des Bundesrates mitträgt, wird gestärkt, wer das nicht macht, wird geschwächt. Das zielt mit Sicherheit auf SVP und SP.

CVP-Fraktionschef Urs Schwaller möchte die Systemdiskussion gleich im Rahmen der anstehenden Regierungsreform führen. Wähleranteile mag er als einzige Richtschnur nicht gelten lassen: Es gelte Wege zu finden, um die Kräfteverhältnisse im Ständerat besser im Bundesrat abzubilden. Eine Variante sei, die Sitze an Blöcke, nicht an Parteien zu vergeben. Eine andere ist, dass die BDP nach den nächsten Wahlen bei der CVP andocke, um Widmer-Schlumpf abzusichern.

Das Ganze ist als Angebot gedacht, dass FDP und CVP (unter Einschluss der BDP) je zwei Bundesräte bekommen, und sich die Allianz der Mitte die Mehrheit im Bundesrat sichert. Bei sieben Sitzen bedeutet das aber, dass die Polparteien noch drei zu Gute hätten. Die würden aufgrund der inhaltlichen Uebereinstimmungen mit dem Regierungsprogramm vergeben, wobei sich SVP, SP, wohl auch Grüne bewerben könnten.

Das Problem dabei ist, dass die Mitte nur im Ständerat über eine Mehrheit verfügt, nicht aber im Nationalrat. Zudem wäre eine Mehrheit der Allianz in der Bundesversammlung nötig, um das Dispositiv überhaupt aufziehen zu können. Aktuell fehlen hierfür knapp 20 Sitze.

So bleibt die Einschätzung, dass es sich um einen neuerlichen Versuch der CVP handelt, zu einem zweiten Bundesratssitz zu Lasten der FDP zu gelangen. Die Rechnung ginge dann so: Widmer-Schlumpf wird Mitglied der Zentrumsfraktion, die über den Sitz verfügt, wenn sie zurücktritt. Diese überholt auf diese Weise die FDP, die dann nur noch vierte politische Kraft ist, und gemäss Aussagen Pellis 2011 auf einen Sitz verzichten müsste. Der wiederum könnte auch jener der Romandie sein, wenn Rime als SVP-Vertreter in den Bundesrat einzieht.

Denn die SVP ist längst entschieden. Als wählerstärkste Partei propagiert sie seit 2003 die rein arithmetische Verteilregel, basierend auf WählerInnen-Anteilen. Abwahlen auf dieser Basis schliesst sie nicht aus. Ihr Plan A dürfte gegen Widmer-Schlumpf gerichtet sein, ihr Plan B gegen einen weitere Personen. Das bringt auch die SP in Bedrängnis: Sie neigt wie die SVP zur Arithmetik, denn gleich wie die SVP würde sie bei einer inhaltlichen Konkordanz zurückgebunden. Das Abwählen von BundesrätInnen aufgrund von Wähleranteilsverschiebungen war bisher aber Tabu.

Ohne Zweifel: Der Druck auf Eveline Widmer-Schlumpf ist beträchtlich! Soll sie Ende 2011 freiwillig zurücktreten? Soll sie eine Abwahl riskieren? Soll sie bei der CVP andocken? Oder kann sie, ganz einfach, auf einen grossen Wahlsieg zählen?

Die Diskussion, was gut für die für die Schweiz ist, ist lanciert.

Claude Longchamp

Theorie und Praxis der Wahlforschung

Morgen startet meine Vorlesung an der Uni Zürich zur “Wahlforschung in Theorie und Praxis”. Mit einem Anschauungsbeispiel aus der Praxis – und einer Reflexion, was wir eigentlich über Bundesratswahlen wissen (können).

sriimg20031117_4459523_0
Kann man geheimen Wahlen das Geheimnis der Entscheidungen entlocken? Einer der Herausforderungen der Wahlforschung

Den Startschuss gebe ich aus aktuellem Anlass mit einer Instant-Analyse der Bundesratswahlen von gestern. Was ist geschehen? Was weiss kann man wissen, wer wen gewählt hat? Was kann man an Motiven annehmen, und was als Folgen unterstellen?

Anhand dieser Fragen soll diskutiert werden, was die Unterschiede zwischen normativer und empirischer Wahlforschung ist, welche Aussagen Positivisten und Pragmatiker in der Forschung zulassen, und wie sich die Anwendungs- und die Grundlagenforschung unterscheiden.

Das wird uns die Stichworte liefern, um die Wahlen von gestern auch unter zwei übergeordneten Themenstellung diskutieren zu können: Ist die erstmalige Frauenmehrheit im Bundesrat ein Trend oder eine vorübergehender Ausschlag? Und welche Form von Konkordanz haben wir heute eigentlich?

Uebersicht über die Themen
24.09.2010 Einführungsbeispiel/Wissenschaftstheorie                          
01.10.2010 Analyse von Parteiensystemen
08.10.2010 Der Rational-Choice Ansatz in der Wahlforschung
15.10.2010 Der sozial-psychologische Ansatz in der Wahlforschung
22.10.2010 Wahlen in der Mediengesellschaft 
29.10.2010 Nachanalysen der Nationalratswahlen Schweiz: die selects-Studien
05.11.2010 Voranalysen der Nationalrastwahlen Schweiz: die Wahlbarometer-Studien
12.11.2010 Politische Partizipationsforschung und Wahlanalysen
19.11.2010 Fallbeispiel Abstimmungsforschung: EU-Abstimmungen 1992-2006
26.11.2010 Voranalysen Abstimmungen Schweiz: SRG-Trend-Befragung zur den Volksasbstimmungen vom 28. November 2010
03.12.2010 Nachanalysen Abstimmungen Schweiz: Vox-analysen zur Volksabstimmungen
10.12.2010 Fragestunde/Repetition
17.12.2010 Prüfung

Generell lehnt sich die Vorlesung während des ganzen Herbstsemesters im Aufbau an jene im letzten Herbstsemester an. Im Zentrum steht die Analyse von Wahlen, die Erklärung, warum es Parteien gibt, was ihre Aufgaben sind, wie Wahlkämpfe in der Mediengesellschaft funktionieren, ob Wählende eher rational oder emotional entscheiden, und was man mit all dem Wissen machen, wenn man Wahlergebnisse analysiert oder Wahlvorbereitungen trifft. Thematisch wurde die Vorlesung gegenüber dem Vorjahr etwas gekämt, aber auch erweitert: Neu wird es auch eine Veranstaltung zur politischen Partizipation geben, und die Abstimmungsforschung wird systematischer als bisher berücksichtigt werden.

Ich freue mich, auf die riesige Herausforderung, ein hoffentlich gut besuchte Veranstaltung zu haben, die angehenden PolitologInnen etwas Spannendes und Bleibendes mit auf ihren Weg durchs Studium und darüber hinaus gibt. Denn die Vorlesung heisst “Wahlforschung in Theorie und Praxis”.

Claude Longchamp

Bundesratswahlen: Wer wählt(e) wen?

Die zentrale Frage der Wahlforschung lautet: Wer wählt wen? Erste Einschätzungen zur laufenden Bundesratswahl am laufenden Band genau zu dieser Frage.

SCHWEIZ BUNDESRATSWAHL

Ersatzwahl von Moritz Leuenberger

Der 1. Wahlgang ist offen.
Stimmen haben erhalten: Sommaruga 86, Rime 80, Fehr 61, Fässler 10, andere 7. Ungültig 1. Abwesend 1.
Rime macht 14 Stimmen mehr als jene aus seiner Fraktion. Gemäss Erklärungen dürften sie grossmehrheitlich aus der CVP stammen. Da scheint etwas mehr als 1 Viertel von der Wahlempfehlung der Fraktion abzuweichen. Spielchen spielen ist jedoch nicht angesagt. Nur 1 Stimme ist ungültig. Ueber die Herkunft der 86 resp. 61 Stimmen für die offiziellen KandidatInnen weiss man nichts. Keine Fraktion ist geschlossen. Die SP-Frauen kommen zusammen auf 157 Stimmen. Das wird reichen.

Auch der 2.Wahlgang ist offen. Doch gilt es, die FavoritInnen in Position zu bringen.
Stimmen haben erhalten: Sommaruga 96, Rime 78, Fehr 64, andere 7. Ungültig. Abwesend 1.
Rime verliert etwas an Unterstützung. Sommaruga sammelt am meisten Zusatzstimmen seit dem 1. Wahlgang. Sie hat nun anderthalb mal soviele Stimmen wie Fehr, und sie liegt recht klar in Führung.

In den 3. Wahlgang kommt nur, wer im 2. mindestens 10 Stimmen hatte. Das sind Sommaruga, Rime und Fehr. Wer jetzt das schlechteste Ergebnis hat, scheidet aus. Bleiben Sommarugas und Rimes WählerInnen treu, trifft es Fehr. Wechseln die parteifremden Rime-WählerInnen zu Fehr, scheidet Rime aus.
Stimmen haben erhalten: Sommaruga 98, Rime 77, Fehr 70. Abwesend 1.
Rime konnte sich fast halten, und er liegt vor Fehr. Diese scheidet aus. Der Medienliebling ist draussen. Die Favoritin setzte sich durch, wenn auch nicht in einer direkten Ausmarchung. Das ist wohl die Ueberraschung.

Der 4. Wahlgang entscheidet, zwischen SP und SVP, zwischen Sommaruga und Rime. Sommaruga ist die Favoritin, denn sie liegt vorne und dürfte zahlreiche Fehr-Stimmen bekommen. 25 genügen, um sicher über dem absoluten Mehr zu sein.
Gewählt ist: Simonetta Sommaruga 159. Stimmen hat erhalten: Rime 81. Leer 3, ungültig 2. Abwesend 1.
Die Schweizer hat erstmals eine Mehrheit Frauen im Bundesrat. Ein historischer Moment. Bern hat wieder eine direkte Vertretung in der Bundesregierung. Die Ablösung in der SVP-Hochburg ist perfekt. Und die SP repräsentiert die Linke unverändert mit 2 Sitzen im höchsten Leitungsorgan des Staates.

396848_pic_970x641
Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die FavoritIn der Bundesversammlung (und der StimmbürgerInnen) für die Nachfolge Leuenberger bei der Wahlannahme.

Kurzanalyse:
Jean-François Rime kam auf die erwarteten rund 80 Stimmen. Die hatte er von Beginn weg, und er behielt sie mehr oder weniger. Der Grossteil kam aus seiner Fraktion, die geschlossen für ihn votiert haben dürfte. Das heisst, es gab 14 ParlamentarierInnen, aus anderen Parteien, die ihm die Stimme gaben. Gemäss Fraktionserklärungen kam sie wohl zum grossen Teil aus den Reihen der CVP. Einige ungültige Stimmen könnte auch aus anderen Fraktionen gekommen sein. Letztlich sind sie aber alle zu vernachlässigen.
Simonetta Sommaruga wurde mit dem Potenzial, das für die Erhaltung der jetzigen Zusammensetzung des Bundesrates (auf linker Seite) ist gewählt. Da ist zuerst die SP-Fraktion zu nennen, dann die Grünen, die BDP sicher aber auch die FDP. Bei der CVP dürfte die Mehrheit für Sommaruga gewesen sein, bei der SVP niemand.
Bei der FDP dürfte mitentscheidend gewesen sein, dass man noch eine Wahl vor sich hat, und da auf die Stimmen der SP angewiesen ist. Entsprechend äusserte sich auch Fraktionschefin Gabi Huber im Vorfeld der Wahl.
Für die anstehende zweite Wahl verringert sich damit das Dilemma: Entweder bekommt die Schweiz fünf Frauen im Bundesrat, 2 BernerInnen oder 3 Welsche. Jede Variante ist etwas unüblich.

Ersatzwahl von Hans-Rudolf Merz

Im 1. Wahlgang interessiert, ob Brigit Wyss von den Grünen mehr Stimmen als die rotgrünen Faktionen zusammen macht. Nur dann ist ein Angriff auf den FDP Sitz von links und rechts wahrscheinlich. Sonst dürfte die grüne Kandidatin als Erstes ausscheiden und die Konstellation ähnlich wie bei der ersten Wahl sein: Rime von der SVP fordert die Partei des bisherigen Amtsinhabers heraus.
Stimmen haben im 1. Wahlgang erhalten: Rime 72, Wyss 57, Schneider-Ammann 52, Keller-Sutter 44. Cassis 12. Verschiedene 7. Leer 1. Abwesend 1.
Beide HerausfordererInnen liegen etwas zurück. Wyss machte voraussichtlich 33 Stimmen bei der SP. Das wären zwei Drittel der Fraktion, während ein Drittel wohl gleich FDP wählte. Rime macht nur noch 6 Stimmen ausserhalb den eigenen Reihen. Sie dürften wieder von CVPlern aus der Innerschweiz kommen. Die FDP-KandidatInnen haben zusammen aus 103 ParlamentarierInnen hinter sich. Das reicht vorerst nicht für das absolute Mehr. Es braucht noch rund 20 Stimmen. Die Stimmen für Cassis markieren die Farben der italienischen Schweiz. Doch hat auch das nur symbolischen Wert.

Im 2. Wahlgang ist die entscheidende Frage, ob eine der beiden offiziellen Bewerbung der FDP im zweiten Wahlgang bereits klar zulegen kann oder nicht. Denn das könnte schon ein Vorentscheid sein.
Stimmen haben erhalten: Schneider-Ammann 75, Rime 72, Keller-Sutter 55, Wyss 40. Verschiedene 3. Leer 0. Abwesend 1.
Vorteil Schneider-Ammann, der neu an der Spitze steht. Er macht gegenüber dem 1. Wahlgang 23 Stimmen gut. Keller-Sutter erhält 11 zusätzliche Zähler. Sie alle dürfen aus der Unterstützung für Wyss (-17), Cassis (-12) und den verschiedenen Gewählten stammen (-4). Oder haben auch FDPler gewechselt, um Schneider-Ammann gegen Rime zu sichern?

In den 3. Wahlgang kommt es darauf an, wie gut sich Wyss hält und wohin ihre Stimmen gehen. Denn die Grüne wird im 3. Wahlgang wohl ausscheiden.
Stimmen haben erhalten: Schneider-Ammann 78, Rime 72, Keller-Sutter 66, Wyss 28. Leer 0. Abwesend 1.
Wyss scheidet wie erwartet aus. Die Verhältnisse sind ausgeglichener, denn Keller-Sutter hat aufgeholt, während Schneider-Ammann nur noch wenig zulegen kann. Die WechslerInnen von links bevorzugten also die Frauenkandidatur.

Im 4. Wahlgang entscheiden die 28 verbliebenen linken ParlamentarierInnen, die Wyss bevorzugten, über den weiteren Verlauf der Wahl. Denn je nach Verteilung scheiden Rime oder Keller-Sutter aus.
Stimmen haben erhalten: Schneider-Ammann 84, Rime 76, Keller-Sutter 74, Ungültig 11. Abwesend 1.
Das war eine knappe Sache! Karin Keller-Sutter scheidet mit zwei Stimmen weniger als Jean-François Rime aus. Da könnten die ungültigen den Ausschlag gegeben haben. Die Situation ist damit vergleichbar wie bei der ersten Wahl, wohl aber etwas offener. Die Stimmen von Wyss gingen in alle Himmelsrichtungen.

Es kommt zum entscheidenden 5. Wahlgang. Mit fünf Frauen im Bundesrat ist nichts. Es gibt 2 BernerInnen oder 3 Welsche. In der Ostschweiz wird man leer schlucken. Denn im Finale stehen sich Johann Schneider-Ammann aus Langenthal und Jean-François Rime aus Bulle gegenüber. Schneider-Ammann ist zu favorisieren, denn die 74 Stimmen von Keller-Sutter dürften zur Mehrheit an ihn, nicht an seinen Herausforderer gehen.
Gewählt ist: Johann Schneider-Ammann 144. Stimmen hat erhalten: Rime 93. Ungültig 8. Abwesend 1.
Die FDP verteidigt ihren 2. Sitz im Bundesrat und ist neu mit einem Unternehmer vertreten. Der Angriff der SVP scheitert auch in diesem Fall. Verliererin wohl Eveline Widmer-Schlumpf von der BDP. Das Frauenargument ist weg und der Druck der SVP wird steigen.
Wie erwartet, verteilten sich die Stimmen von Keller-Sutter. Grossmehrheitlich gingen sie aber an die andere FDP-Bewerbung. Denn Schneider-Ammann machte 60 zusätzliche Zähler. Rime machte 17 Stimmen gut, mehrheitlich grüne, vielleicht auch vereinzelte SP-ParlamentarierInnen, welche die FDP-Doppelvertretung als nicht gerechtfertigt kritisiert hatten.

teaserbreitgross
Bundesrät Johann Schneider-Ammann, der Favorit der Bundesversammlung (und der StimmbürgerInnen) für die Nachfolge Merz bei der Wahlannahme.

Kurzanalyse:
Jean-François Rime verbesserte sich gegenüber der Ersatzwahl für Moritz Leuenberger um 13 Stimmen. Die ParlamentarierInnen seiner Fraktion, die Hälfte der Grünen sowie eine kleinere Minderheit von CVP und vielleicht auch SP dürften für ihn resp. seine Partei gestimmt haben. Für einen Sitzwechsel reichte das indessen klar nicht. Der Moment der SVP kommt in einem Jahr, nach den Parlamentswahlen 2011, wo es zur Polarisierung zwischen der SVP und der BDP kommen dürfte.
Auch der Angriff der Grünen scheiterte. Die SP unterstützte den Anspruch mehrheitlich, aber nicht dauerhaft. Ohne eine bürgerliche Partei, welche für die Grünen stimmen würde, ist der Sitz nicht zu haben. Auch sie dürften sich nun auf den Posten von Widmer-Schlumpf konzentrieren.
Die FDP verteidigte ihre zweiten Bundesratssitz mit Geschick. Nach Didier Burkhalter aus dem Kanton Neuenburg hat sie nun auch Johann Schneider-Ammann aus dem Kanton Bern in die Bundesregierung hieven können. Geholfen haben ihr dabei mit aller Wahrscheinlichkeit die grosse Mehrheit der SP, welche sich für die Wahl von Sommaruga bedankte, die Mehrheit der CVP und ein Teil der Grünen. Parteipolitische und personelle Ueberlegungen dürften im Mix den Ausschlag gegeben haben. Denn Unternehmer Schneider-Ammann mit seinem Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft war wegen seiner konservativen Grundhaltung für die bürgerliche Mitte wie für die Linke wählbar.

Erstes Fazit
Die beiden heute neuen BundesrätInnen entsprechen den Hoffnungen der BürgerInnen. Sie hätten die genau gleichen Personen gewählt, hätten sie nur können. Das ist ein gutes Omen für die Bundesregierung, welche in den beiden letzten Jahr stark in die Kritik geraten ist und bisweilen mit dem Rücken zur Wand kämpfte.
Die Konkordanz der grossen Parteien wurde heute gestärkt, wenn auch nicht eingelöst. Es bleibt das Problem der Integration der SVP in den Bundesrat, das nach den Wahlen 2011 gelöst werden muss. Die jetzigen Proprotionen entsprechen weder der Stärke im Volk noch im Parlament.
Die Medien haben im Vorfeld laut darüber nachgedacht, ob zwei BernerInnen im Bundesrat Einsitz nehmen dürften. Die Bundesversammlung hat sich davon nicht leiten lassen sie. Sie hat zuerst auf die Partei geachtet, an zweiter Stelle auf die Kompetenz der KandidatInnen. Sie hat sich von den alten Schemata der kantonalen Repräsentation gelöst. Das will auch die Bundesverfassung von 2000.

Demokratische Unsitte oder Kompromiss gegen Unordnung bei Bundesratswahlen?

Es ist eine interessante Analyse, die Rene Zeller zu den Zweier-Tickets der Fraktionen bei Bundesratswahlen vorlegt. Das Ergebnis fällt differenzierter aus, als man denkt. Anders als der Inlandchef der NZZ empfehle ich jedoch, die jetzigen Standards nicht ab-, sondern auszubauen.

fehr_sommaruga_1.7440051.1283538247SCHWEIZ FDP HEARING BUNDESRATSWAHL

Man weiss es: Die Zauberformel für die Besetzung des Bundesrates ist 1959 mit einem Geburtsfehler aus der Taufe gehoben worden. Zwar einigte man sich auf einen Schlüssel zur Verteilung der 7 Bundesratssitze unter den 4 Regierungsparteien, der bis 2003 Gültigkeit hatte. Doch wählte man, gerade bei den bisher oppositionellen Sozialdemokraten mit Hans-Peter Tschudi nicht ihren Favoriten, Parteipräsident Walther Bringolf, in den Bundesrat.

Die SP hat solche Machtdemonstrationen mehrfach zu spüren bekommen- und daraus gelernt So wurde 1983 ihre Kandidatin für den Bundesrat, Liliane Uchtenhagen, nicht erste Bundesrätin der Schweiz. An ihrer Stelle zauberte die bürgerlichen Mehrheit in der Nacht vor der Wahl Otto Stich aus dem Hut. 1993 stand man vor einem vergleichbaren Problem: Anstatt der Favoritin Christiane Brunner, als Einzige offiziell vorgeschlagen, wählte die Bundesversammlung Francis Matthey in den Bundesrat. Erst nach massiven Protesten der SP-Spitze schlug er die Wahl aus, und aus dem nachgereichten Doppelvorschlag Brunner/Dreifuss wählte das Parlament letztere in die Bundesregierung.

Die SP ist jedoch nicht die Erfinderin der Doppelkandidaturen. 1979 praktizierte die SVP das erstmals nach dem Rücktritt von Rudolf Gnägi, denn Werner Martignoni, der den Berner Sitz einnehmen sollte war nicht unumstritten. So wurde ihm Leon Schlumpf zur Seite gestellt, und der reüssierten dann auch prompt. 1984 zog die FDP nach, indem sie für die Nachfolge von Rudolf Friedrich sowohl Elisabeth Kopp als auch Bruno Hunziker portierte.

SP und FDP setzen seit den 90er Jahren konsequent auf Doppelkandidaturen, wie es auch im aktuellen Beispiel der Fall ist. Bei der CVP hat sich kein einheitliches Muster durchgesetzt. 1999, als man die beiden bisherigen gleichzeitig abzulösen hatte, nominierte die Fraktion gleich 5 KandidatInnen, von denen zwei, Ruth Metzler und Joseph Deiss, gewählt wurden. Doris Leuthard wiederum schwang in der fraktionsinternen Wahl so klar oben aus, dass sie 2006 alleine vorgeschlagen wurde, und die Wahlprüfung erfolgreich bestand.

Die SVP schliesslich stellte sich im Jahre 2000 der Herausforderung, als es um die Nachfolge von adolph Ogi ging. Doch wurden statt einem der offiziellen der wild portierte Samuel Schmid gewählt. Seither hat die SVP mit der Forderungen aus FDP- und SP-Kreisen ein Problem. 2003, bei der Wahl von Christoph Blocher, stand nur er oder die Opposition zur Debatte. 2008 lautete ein erneuter Doppelvorschlag Blocher/Maurer; gewählt wurde Maurer, aber nur hauchdünn, denn der Inoffizielle Hansjörg Walther scheiterte mit nur einer Stimme.

Unter dem Strich gesehen kann man also seit bald 20 Jahren von einem Trend sprechen, die Wahl auf Nominierte einzuschränken, wenn dadurch der Charakter der Auswahl gewahrt bleibt. Das stärkt ohne Zweifel die Bedeutung der Fraktionen. Eine Wahlgarantie gibt es aber nicht. Francis Matthey und Samuel Schmid sind lebende Beispiele für Auslassungen. Umgekehrt ist es nicht so, dass einer Kandidaturen per se ohne Chancen sind; wohl trifft aber zu, dass dies nur bei Mitte-KandidatInnen mit fast sicherem Unterstützungspotenzial rechts wie links möglich ist.

Es wäre wohl Zeit, auch diese Eigenheit bei Bundesratswahlen verbindlich und für alle gleich zu regeln. Rene Zeller nennt die Vorauswahl eine demokratische Unsitte. Ich empfehle genau das Gegenteil: als Kompromiss zwischen Ordnung und Unordnung in der parlamentarischen Wahldemokratie fest zu etablieren.

Leuenberger: Volkswahl für den Primus oder die Prima

In der heutigen Spiegel-Ausgabe empfiehlt der abtretende Bundesrat Moritz Leuenberger einen Paradigmenwechsel beim Bundespräsidium. Der oder die Vorsitzende des Bundesrates soll für ein Legislatur amten, kein Departement führen und vom Volk gewählt werden.

leuenberger_nahaufnahme_1.6503144.1278675505
Moritz Leuenberger, wäre 2011 Bundespräsident geworden, tritt aber als Bundesrat zurück, und macht einen Vorschlag für eine radikale Neugestaltung des Amtes an der Regierungsspitze

Mathieu von Rohr irrt. Der Schweiz-Korrespondent des Magazins Der Spiegel meint, die Schweiz sei für Revolutionen einfach nicht gemacht. Dabei geht es ihm weniger um die Personenentscheidungen am kommenden Mittwoch, nicht einmal um die parteipolitische Zusammensetzung der Bundesregierung. Nein, es geht ihm um einen Vorschlag von Moritz Leuenberger, bekannter Skeptiker, der, wenn eine Regierungsreform schon nötig sei, mit einem Uebergang zu einem Präsidialsystem liebäugelt.

O-Ton Leuenberger: “Wenn schon eine Veränderung, warum dann nicht einen Bundespräsidenten für vier oder fünf Jahre, der kein eigenes Ministerium führen muss und der vielleicht sogar vom Volk gewählt würde?”

Ohne Zweifel wäre das ein Paradigmenwechsel. BundespräsidentIn zu sein, war in der Konkordanz in erster Linie Ehre, ein repräsentative Amt mit beschränkten Koordinationsaufgaben für das Regierungsgremium selber. Dann nahm die Medialisierung der BundesrätInnen in den letzten 20 Jahren zu, und seit gut 10 Jahren sind sie auch viel im Ausland unterwegs. Da eignet sich die jetzige Regierung ohne eine mittelfristig dauerhafte Spitze immer weniger.

Von daher ist es nur verständlich, wenn man, wie mit der Regierungsreform, sowohl über die Institutionalisierung eines neuen Bundespräsidiums diskutiert, als auch, wie es Leuenberger macht, über die Legitimatierung von aufgewerteten AmsträgerInnen. Der jetzige Bundesrat favorisiert ein Bundespräsidium auf zwei Jahre, weiterhin im Rotationssystem unter den Mitgliedern, wobei der oder die InhaberIn zusätzlich zu den Repräsentationsaufgaben im Innern solche im Ausland übernehmen würde.

Was Leuenberger heute im Spiegel erwägt, kommt durchaus einer kleinen Revolution gleich. Statt das Bundespräsidium in Richtung eines Ministerpräsidentenamtes ohne Volkslegitimation weiterzuentwickeln, wie es die parlamentarischen Demokratien kennen, orientiert es sich mehr am Präsidialsystem, wie es in den USA mustergültig existiert. Demnach würde der primus inter pares, wie er heute zelebriert wird, würde verabschiedet. Der neue Primus oder die neue Prima würde durch die Volkswahl gestärkt auf die Regierungsbildung einzuwirken, hätte wohl auch Weisungsbefugnisse in zentralen Fragen, wäre die Schaltstelle im Innern, Ansprechpartner nach Aussen, und in einem erhöhten Masse direkt vom Volkswillen abhängig.

Leuenberger weiss, dass man in der Schweiz sarken Persönlichkeiten distanziert begegnet, weil sie zu oft polariseiren. So definiert er die Rolle des oder der BundesprädisentIn als Integrationsfigur, verkörpert durch eine Person, die mehrsprachig kommunizieren kann, und die Botschaft der Schweiz nach Innen und Aussen vermitteln würde.

Der jetzige Bundespräsident ist aus dem Landammann der Helvetischen Republik hervorgegangen. Napoleon legte den ersten revolutionären Grundstein für das Regierungssystem der Schweiz, dem 1848, dem Revolutionsjahr par exellence, weitere beigefügt wurden. Entwickelt hat sich eine Kollektivregierung, dei nach dem Kollegialsystem funktioniert, das durch die direkte Demokratie kontrolliert, bisweilen auch geführt wird. Das alles ist nicht einfach seltsam, wie man im Spiegel meint, sondern weltweit ohne Vorbild – und damit revolutionär im wahrsten Sinne. Ueberlagert wird das alles durch einen merkwürdigen Strukturkonservatismus in der Schweiz, der mit Leuenbergers Vorschlag einen kräftigen Schups Richtung Führung bekommen hat, für die sich klarer als bisher jemand verantwortlich fühlen müsste. Das kann ich durchaus unterschreiben.

Claude Longchamp