Nobelpreiswürdige Oekonomie

Wenn das Rätselraten über den nächsten Nobelpreisträger (aus der Schweiz) losgeht, fällt fast sicher der Name des (österreichischen) Wirtschaftswissenschafters Ernst Fehr von der Uni Zürich. Was ihn gegenüber anderen Oekonomen auszeichnet, verrät er dem heutigen “Bund“.

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Ernst Fehr, vielfach top-gesetzter Professor für empirische Wirtschaftsforschung an der Uni Zürich

Verhaltensökonom Ernst Fehr steht den Annahmen des homo oeconomicus’ aus zwei Gründen skeptische gegenüber: Er lehnt das Axiom des immer eigennützig handelnden Mensch ab, und er setzt auf Laborexperimente, um Einflussfaktoren auf Verhaltensweisen zu bestimmen.

Der Spitzenforscher verdeutlicht das so: Im Labor kann ich “einen Tausch simulieren, der nur einmal via Internet stattfindet, mit einem Partner, den ich nicht kenne, über den ich keine Informationen habe und den ich nie im meinem Leben treffen werde.” Ohne diese Bedingung gäbe es für einen klassischen Oekonomen keinen Grund, nicht zu schummeln. Und trotzdem klappt der Tausch in viele Fällen.

Weil Menschen zugunsten der Ehrlichkeit auf einen materiellen Vorteil verzichten, folgert der Zürcher Professor. Denn Menschen sind nicht wegen eines Vorteils ehrlich, sondern auch wegen der Norm, ehrlich sein zu wollen.

Doch ist Ehrlichkeit nicht nur eine individuelle Eigenschaft, weiss Fehr; sie muss auch eine kollektive sein. Denn Normen, wissen Soziologen schon lange, sind Teile der Kultur, die durch Institutionen gestützt werden muss.

Institutionellen Anreizssystem kommt deshalb in der Verhaltensökonomie eine zentrale Bedeutung zu. Oder in den Worten des Könners: “Als Oekonom muss ich mich deshalb immer Fragen: Wie ändere ich die Institutionen, damit ich eigennützige Motive in sozial nützliche Bahnen lenken kann?”

Darauf angesprochen, ob Fehr für oder gegen Obergrenzen für Gehälter von Angestellten in Unternehmen sei, lässt er klar durchblick: dagegen, denn sie würden den Wettbewerb behindern. Doch ist er dafür, dass es eine Finanzmarktaufsicht gibt, die Vorschriften macht, wie die Anreizssystem für die Entlöhnung strukturiert sein sollen.

Was mir daran gefällt? Dass ein Spitzen-Oekonom hingeht und sagt, Gerechtigkeit entsteht nicht von alleine, sie muss ermöglicht werden. Und dasselbe gilt auch für Ehrlichkeit, denn auch sie muss gefördert werden. Und wenn man das alles tut, verstösst man vielleicht gegen den homo oeconomicus, nicht aber gegen die gesellschaftlichen Interessen der Menschen.

Noch vor kurzem wäre das auch ein Verstoss gegen die Grundsätze der Oekonomie gewesen. Jetzt ist es auf dem Weg, die höchste Anerkennung zu bekommen. Oder wie sagt es Fehr: Individueller Nutzen muss so gelenkt werden, dass er sozial nützlich wird!

Joe Stiglitz’ Stimme: Kritik des Ersatzkapitalismus’

Im Interview mit der heutigen “Sonntagszeitung” nimmt Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz kein Blatt vor den Mund. Er kritisiert Wirtschaft und Politik für ihr Fehlverhalten in der Finanzkrise. Er wirft dem Staat vor, einen Ersatzkapitalismus zu betreiben, und geisselt das Verhalten der Banker, die während der Krise ein Time-out genommen hätten.

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Joe Stiglitz: Kritiker des Ersatzkapitalismus, indem sich die Wirtschaft darauf verlässt, vom Staat gerettet zu werden.

“Das System hat nicht funktioniert. Wir konnten einzig mit Ach und Krach verhindern, dass es nicht kollabiert”, bilanziert Joesph E. Stiglitz das Verhalten der Regierungen auf die Finanzkrise. Der dafür bezahlte Preis sei hoch, “Menschen stehen auf der Strasse, weil sie ihr Haus verloren haben, und die Löhne des Mittelstandes stagnieren, ja sie fallen sogar”, fährt der Oekonomieprofessor fort, um zur Bilanz zu gelangen: “So haben sich die Menschen einen funktionierenden Kapitalismus weiss Gott nicht vorgestellt.”

Stiglitz hat für die Kritik der gängigen Markttheorien mit anderen den begehrten Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen. Effizient wären die Märkte, doziert er, wenn die Information perekt wäre, das heisst alle Marktteilnehmer alles wüssten. Doch das stimme in der Praxis nie; vielmehr seien die Informationen ungleich verteilt, was zu Verzerrungen und zu Blasen führe.

Führende Oekonomen, vor allem in der US-amerikanischen Notenbank unter Alan Greenspan und Ben Bernanke, würden das gerne übersehen, täuschten sich erstens jedoch, verklärten zweitens das Marktverhalten zur Religion und begründeten drittens ein Anreizsystem, das mit riesigen Boni zu dummem Handeln anleite.

Stiglitz wendet sich vor allem gegen den Ersatzkapitalismus, weil in dem vor allem die Banker risikolos mit der Herde laufen könnten. Letztlich hätten sie immer darauf gesetzt, dass der Staat sie retten würde. “Wir waren alle Keynsianer – für sechs Monate”, scherzt er im Interview, und doppelt gleich noch nach: Nach dem Ausbruch der Krise hätten die Waalstreet-Banker ein Time-out genommen, seien nach Florida gegangen, um Ferien zu machen. Jetzt, wo sie dank Rettungsplänen wieder Boden unter den Füssen hätten, kämen sie wieder an die Börse und würden vom Staat verlangen, den Gürtel enger zu schnallen, um die Staatsdefizite zu senken.

Die Antwort des kritischen Oekonomen ist anders: Der Staat müsse intelligent investieren, um Wachstum zu ermöglichen, mit dem man Schuldenabbau betreiben könne. Besser Schulen und bessere Infrastrukturen empfiehlt er hierfür; Ausgaben für Militär bezeichnet er dagegen als Geldvernichtung, um Feinde zu bekämpfen, die nicht existierten. Generell plädiert er für eine sinnvolle Partnerschaft zwischen Staat und Markt, wie sie etwa in Kanada praktiziert werde.

Der frühere Berater Bill Clintons rechnet damit, dass die Vereinigten Staaten in absehbabrer Zukunft die grösste Volkswirtschaft bleiben, ihr politischer Einfluss in der Welt aber abnehmen werde, nicht zuletzt weil der soziale Zusammenhant in der amerikanischen Gesellschaft schwinde, Interessengegensätze zwischen Banken und Gewerbe zunähmen. Das blockiere nun die Politik.

Ein erhellendes Interview, das die Gegenwartspolitik in ihren Zusammenhängen und einer vertieften Diskussion Wert ist, füge ich (nach einer Ferienwoche und Abwesenheit auf dem Blog) hinzu.

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Jan-Egbert Sturm ist der Schweizer Oeffentlichkeit kein Unbekannter, nimmt der Leiter des KOF doch regelmässig Stellung zu den Konjunkturaussichten. Nun hat er das Projekt “Oekonomenstimme” mitinitiiert, mit dem er und seine Kollegen mit einem Blog in den wirtschaftspolitsischen Diskurs der Oeffentlichkeit eingreifen will. Eine Rundschau “vor Ort”.

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Die Präsentation der KOF-Zahlen hat zwar grosse Ressonanz. Doch erfolgt sie nach einem streng ritualisierten Medienschema. Das hinterlässt Lücken, ungedeckte Erwartungen und Mängel in der Vermittlung, die von Tageszeitungen und Wirtschaftsmagazinen nur ansatzweise behoben werden. Blogs eröffenen darüber hnaus bisher kaum vorhandene Möglichkeiten, die Expertendiskurse sichtbar zu machen.

Genau mit diesem Ziel ist die Plattform www.oekonomenstimme.org jüngst begründet worden. Pate stand das Forum www.voxeu.org, das sich konsequent in Englisch innert kurzer Zeit zum prominenten Treffpunkt für die Diskussion ökonomischer Themen entwickelt hat. 34 Oekonomen haben sich nun verpflichtet, ebenso konsequent auf Deutsch ihre Gedanken in Kolumnenform als Oekonomenstimme in die hiesige Oeffentlichkeit einfliessen zu lassen.

Die Erwartungen an das Blog sind hoch, das zeigt sich unter anderem auch daran, dass die Tags zu den Beiträgen nach der JEL-Klassifiaktion erfolgen, die für die Verortung von Fachartikeln nach amerikanischen Muster gebräuchlich ist. Bis das wirklich Sinn macht, wird es aber noch einige Zeit brauchen.

Vorläufig interessanter sind die Nutzungszahlen, die zeigen, dass die erste Kontroverse mit Ressonanz den Auftritt von Oekonomen in der Oeffentlichkeit selber betrifft. Rüdiger Bachmann,deutscher Forscher an der University of Michigan, fasst dabei zusammen, wie sich alte Ordinarien und Jungspuntökonomen verbale Gefechte zur Profilierung des Faches bei Gegenwartsfragen lieferen. Der “neue Methodenstreit“, wie er das nennt, macht zwei Ausrichtungen des Fachs deutlich, die generationenabhängig sind:

Das sind auf der einen Seite die ordnungspolitisch beeinflussten Traditionalisten, ganz bewusst normativ ausgerichtet, die mit Interventionsgeschick in den öffentlichen Diskurs intervenieren, sei es in die Finanzpolitik, die Wirtschaftspolitik, oder auch die Mehrung des Glücks von Menschen. Auf der anderen Seite finden sich die Modelltheoretiker, stark empirisch ausgerichtet, die beanspruchen, an der Spitze des Fachs zu stehen, gleichzeitig aber auch eine Fachsprache pflegen, die abstrakt, formal und mathematisch ausgerichtet ist, und im öffentlichen Diskurs nicht ankommt.

Mehr als 2000 Mal ist der Beitrag im ersten Monat angeklickt worden. Das verspricht einiges. Dafür habert es noch mit den Kommentaren. Gerade mal drei Anmerkungen wurde bis anhing öffentlich gemacht. Damit bleibt die grösste Verheissung des neuartigen Fachblogs vorerst uneingelöst.

Das braucht es sich noch einen Entwicklungszyklus. Wer weiss, vielleicht propheizeit und Jan-Egbert Sturm bald, wann der einsetzt!

“Rettet sie, die Alte Tante!”

Ich lese die NZZ täglich aufmerksam. Denn sie berichtet über Vieles, das mir wichtig ist, zuverlässig. Nur über die NZZ, die mir auch wichtig ist, erfährt man in der NZZ wenig. Jetzt hilft die “Zeit” aus, die Danielle Muscionico, während 18 Jahren bei der “Neuen Zürcher Zeitung” angestellt, den Niedergang analysieren lässt. Hier ihre Thesen des Textes.

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2002 erwischte es das Unternehmen NZZ schwer. 50 Millionen Schweizer Franken Defizit fuhr man ein – und präsentierte der Redaktion drei Jahre später bei der 225 Jahr Feier des Weltblattes auf dem Bellevue Platz Suppe im Zelt. Nun hat das “Kulturgut der Willensnation Schweiz” (Eigenzitat im Geschäftsbericht) einen CEO, was die Redaktion als Bruch mit der statutarisch fixierten Vorrangstellung der Publizistik über die Oekonomie interpretiert.

Autorin Muscionico weiss, was der Grund ist: “Im Aktionariat tobt ein Kulturkampf. Denn aus den früheren altersmilden Idealisten und liberalen Philantropen sind hungrige Investoren geworden”, berichtet sie. Am kommenden Mittwoch treffen sie sich wieder zur ordentlichen Generalversammlung, sodass man sich die bange Frage stellt, was nun geschieht?

Symptom des Niedergangs der NZZ ist für Muscionico die Dezimierung des Netzes an AuslandkorrespondentInnen. Und die Vorverlegung des Redaktionsschlusses, um in günstigere Vertriebssysteme zu gelangen. Bilanz in eigener Sache: “24 Seiten dünn und ein Hybrid aus wenig Aktuellem, viel Aufgebackenem vom Vortag und Agenturmeldungen.” Das hat der NZZ Auslandausgabe wichtige Reputationspunkte gekostet, sodass die Verbesserung der Verschlechterung zwischenzeitlich Chef(redaktoren)sache ist.

Mit Gerhard Schwarz, gerne das ordnungspolitische Gewissen der NZZ genannt, verlässt auf Ende Jahr einer der profiliertesten Redaktoren das Blatt Richtung “Avenir Suisse”. Er sagt: “Mir fehlen die Perspektiven für einen beseelten Journalismus”, sodass Muscionico nachhakt: Wo sitzt die Seele des Journalismus? Im Herzen, im Hirn, oder im Geldbeutel?

Die Frage ist zwar präzise gestellt, erhält eine Antwort aber nur über einem historischen Exkurs zum Phänomen NZZ. Das Blatt sei ein Produkt der Zücher Aufklärung. Den Ruf als unabängiges Weltblatt habe es im deutsch/französischen Krieg sowie im Ersten und Zweiten Weltkrieg erarbeitet. In der Schweiz sei es sie das publizistische Organ des Freisinns gewesen, der einst visionären Kraft. Das habe der NZZ den nötigen Hintergrund gegeben – jedenfalls bis zum Swissair-Grounding.

Eric Honegger, damaliger VR-Präsident der NZZ, gelernter Historiker, gepriesener Bundesratssohn und gescholtener Mitverantwortlicher für das Debakel der nationalen Fluggesellschaft musste in der Folge gehen. Und seither positioniert Conrad Meyer, Ordinarius für Betriebswirtschaft an der Universität Zürich, die NZZ-Mediengruppe neu. Die NZZ als stand alone product hat nach ihm keine Zukunft mehr. Ohne breit verankertes Internet-Portal mit gleichem Namen sieht man entsprechend keine Zukunft für die alte gewordene Tante.

Nun muss die Zeitung sparen, sieht sich als cash-cow, die man melkt, um ihre Kälber zu füttern. Doch eigentlich ist der kritische Reporterin klar: Die Kälber werden überleben, und sich nicht um den armen Hund, der sie ernährt hat, kümmern.

Die virtuos vorgetragene Analyse in der aktuellen “Zeit” entbehrt nicht der Ironie, denn die Revolution frisst bekanntlich ihre eigenen Kinder. Und der Kapitalismus, dozierte einst Nationalökonom Joseph Schumpeter, ist nicht da, um Zeitungen, sondern Gewinn zu schaffen. Und wo dies ausbleibe komme es zur schöpferische Zerstörungen mit Neuanfang. Dies hat man gerade in der NZZ und ihrem Umfeld immer für richtig gehalten. Entweder gilt es auch hier, oder es war immer ein Irrtum.

Erotisches Kapital in der Politik

Ein neues Thema füllt die Feuilletons der Magazine erreicht: das erotische Kapital in der Mediengesellschaft. Die politische Kulturforschung täte gut daran, sich den Veränderungen der politischen Kommunikation auch in der Schweiz vertieft anzunehmen.

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Mara Carfanga, Gleichstellungsministerin in Italiens Regierung, machte das beste Ergebnis aller KandidatInnen bei den jüngsten Regionalwahlen

55700 Stimmen machte Mara Carfanga bei den jüngten Regionalwahlen in Italien. Damit realisierte die Ministerin aus der Reihen der Berlusconi-Partei “Popolo della Libertà” das beste Resultat aller KandidatInnen.

Weit herum bekannt wurde sie durch einen peinlichen Patzer des Cavaliere: “Wenn ich nicht schon verheiratet wäre, würde ich sie sofort heiraten”, soll der Silvio Berlusconi über seine Gleichstellungsministerin gesagt haben. Damit versetzte er seine Frau Veronica in öffentliche Rage, und die Scheidung der Ehe der Berlusconis nahm ihr Lauf.

In den Medien geht Carfanga seither der Ruf der “schönsten Ministerin” voraus. Carfanga ist damit nicht alleine: Präsidenten, die sich wie Nicolas Sarkozy stark wähnen, lieben es, sich mit erotischen Frauen zu umgeben, nicht nur des Vergnügens wegen, sondern auch um Aufmerksamkeit zu mehren und WählerInnen zu gewinnen.

Erotisches Kapital in der Sozialforschung
“Erotisches Kapital” nennt der kanadische Soziologe Adam-Isahia Green das Phänomen. Gemeint ist damit die Energie von Frauen und Männern, die von ihren natürlichen, künstlich geschaffenen oder erlernten Eigenschaften ausgehen und auf andere wirken. Das beschränkt sich nicht nur auf unser Alltagsleben, sexuelle Beziehungen Heirat oder Kinderkriegen. Es erfasst in hohem Masse die mediale Kommunikation in Werbung und Unterhaltung, Sport und Kunst, Arbeitswelt und Politik.

Für die TheoretikerInnen eben dieses gibt es keine einheitliche Form des erotischen Kapitals. Vielmehr ist dies eine Folge der Entwicklungen vor allem von Mediengesellschaft, insbesondere ihrer sexualisierten Oeffentlichkeiten. Dabei werden ökonomisches, soziales und kulturelles Kaptial als tauschbare Handlungsressourcen von Individuen durch das erotische erweitert. Immerhin, die Forschungen zum erotischen Kapital macht mindestens sechs Bestandteile sichtbar: die Schönheit, die Attraktivitäten, die Lebenslust, die Präsentation, die Sexualität und die Vermehrung, insbesondere bei Frauen.

Soziologin Catherine Hakim, Forscherin an der London School of Economics, ist überzeugt: “Women generally have more erotic capital than men because they work harder at it. Given the large imbalance between men and women in sexual interest over the life course, women are well placed to exploit their erotic capital.” Fasziniert von Cleopatra, Madonna, Catherine Deneuve und Tina Turner, kritisiert sie die bisherigen politischen Theorien, denn das Patriarchat habe den Frauen verboten, ihr erotisches Kapital zu nutzen, um in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu Erfolg zu kommen, und die feministische Theorie habe die moralischen Vorschriften, an die sich Frauen halten müssten, noch verstärkt. Doch das breche in der gegenwärtigen Gesellschaft auf und müsse empirisch untersucht werden, verlangt sie und kündigt für 2011 schon mal ein Buch hierzu an.

Evidenzen auch in der Schweizer Politik?!

Die politische Kulturforschung würde gut daran tun, sich den aktuellen Veränderungen auch in der Schweiz systematisch anzunehmen. Denn Hinweise hierfür gibt es genug, auch wenn sie meist belächelt werden.

So meinte Georg Lutz jüngst unter Verweis auf Adrian Amstutz und Nathalie Rickli, Schönheit werde auch in der Schweiz gewählt, wenn man das Parlament besetze. Feministin Regula Stämpfli kritisierte ihn, und Nationalratspräsidentin Pascale Bruderer dazu, weil die Genossin der Versuchung, sich nicht über das Sein, sondern den Schein zu verkaufen, nicht wiederstehen könne. Klaus Stöhlker wiederum ist sicher, dass Doris Leuthard von ihrer äusserlichen Erscheinung politisch profitiere und Moritz Leuenberger sich nur deshalb im Amt halten könne. Die FDP-Frauen kümmern solche Unterstellungen wenig: Für ihre Geburtstagsparty zum 60. luden sie jüngst mit dem Hinweis ein, ihr erotisches Kapital ganz bewusst in die Politik einzubringen. Karin Keller-Sutter dankt es ihnen!

Die Zentrumspartei der Zukunft

Michael Hermann ist ein profilierter Kommentator der schweizerischen Parteienlandschaft. Sein neuester Vorschlag: Die Mitte in ihre Bestandteile zerlegen, um sie neu z formieren. Ich halte dagegen: Die Schweiz braucht nicht mehr, sondern weniger Parteien, darunter eine starke Zentrumspartei auf nationaler Ebene.

Die These
Für Hermann ist die Zukunft des schweizerischen Parteiensystems klar: Die Gewerbler in der FDP und CVP schliessen sich mit ihren Kollegen in der BDP zusammen. Der ökosozialliberale Flügel der CVP orientiert sich neu an der GLP. Von der FDP bleibt der wirtschaftliberale Block als Sprachrohr der globalisierten Oekonomie – und von der CVP nichts mehr!

Publizistisch passt der Knaller gut in die gegenwärtige Landschaft: Das Zentrum, wie es sich die CVP nach der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat erhoffte, hat letzten Herbst Schiffbruch erlitten. Seither mehren sich Wahlniederlagen für die CVP nicht nur in den Stammlanden, sondern auch im urbanen Gebiet. Besonders in der Stadt Zürich machte die glp der CVP einen dicken Strich durch die Rechnung.

Und dennoch zweifle ich an der Richtigkeit der Analyse. Ohne eine Partei wie die CVP ist die Politik in mehreren wichtigen Kantonen kaum denkbar. Das gilt auch für den Ständerat, wo die Fraktion der CVP entscheidet, ob sich bürgerliche Projekte durchsetzen oder schwarz-rot-grüne.

Die Gegenthese
Der Denkfehler ist die grenzenlose, parteipolitische Polarisierung. Diese hat die schweizerische Parteienlandschaft neu aufgemischt, läuft aber aus: Rotgrün gewinnt nicht, die SVP nur noch abgeschwächt. Zwar haben die katholisch geprägten, ruralen Politlandschaften einen Nachholbedarf gegenüber den reformiert-urbanen, wo der Freisinn in FDP, SP und SVP zerfiel. Das nützt gegenwärtig der SVP und den Grünen.

Die Zukunft von Parteien kann indessen nicht ausschliesslich soziologisch begründet werden: Wollen sie mehr als Wellenreiter mit raschem Auf und Ab sein, müssen sie auch ihre Position in den Regierungssystemen suchen und finden. Und diese funktionieren in der föderalistisch und direktdemokratisch geprägten Schweiz unverändert nach der Kooperation, nicht nach der Ausschliessung.

In einem politischen System, das auf Konkordanz ausgerichtet ist, braucht nach einer langen Periode der Polarisierung wieder mehr Mitte. Perspektivisch gesehen ist eine Zentrumspartei gefragt, die den Kräften rechts wie links Paroli bieten kann. Denn die Regierungspolitik muss von der Mehrheitsfähigkeit ausgehen, die sich bei keinem Pol abzeichnet. Und sie muss an der Umsetzung arbeiten, welche anders als der Aufriss von Problemen nicht die Stärke der nationalkonservativen und rotgrünen Parteien ist. Denn nur das garantiert bei thematisch offenen Entscheidungen politische Stabilität.

Das Projekt
Die Zentrumspartei der Zukunft muss die Funktion der CVP als ausgleichende Mitte wahrnehmen. Sie muss die binnenorientierte Wirtschaft der Schweiz repräsentieren, und sie muss die verschiedenen nationalen, ökologischen, sozialen und konservativen Strömungen gemässigter Natur mit markanten Köpfen einbinden.

Doch darf die Zentrumspartei der Zukunft nicht mehr auf der konfessionellen Spaltung der vergangenen Gesellschaft aufbauen, denn zerfallende Moral und leere Kirchen sind keine Vorbilder mehr.

In der Zentrumspartei der Zukunft haben lösungsorientierte WählerInnen von CVP, BDP und FDP Platz. 25 bis 30 Prozent sollten so zusammen kommen, und die neuen Partei sollte ein Ziel verfolgen: Je mehr es sind, desto eher wird ihr Projekt zum neuen Magneten in der schweizerischen Parteienlandschaft, an dem sich die anderen reiben müssen.

BDP: die neue politische Kraft im Kanton Bern

Die aussichtsreichste Position für die BDP in der politischen Landschaft ist, jedenfalls im Kanton Bern, im Zentrum. Eigeninteresse, Regierungssystem und WählerInnen-Basis sprechen dafür.

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Uebersicht über die WechselwählerInnen-Bewegungen bei den jüngsten Berner Grossratswahlen

Die BDP war bei den Berner Wahlen der grosse Sieger. Sie errang 16 Prozent der Stimmen und 25 der 160 Sitze im Grossen Rat. Und im Regierungsrat ist sie weiterhin vertreten, neu mit Beatrice Simon. Damit sicherte sie nicht nur die Uebertritt von der SVP im Jahre 2008 ab; die jüngste Partei im Kanton Bern legte nochmals kräftig zu.

Die aussichtsreichte Position für die BDP in der politischen Landschaft ist, jedenfalls im Kanton Bern, im Zentrum. Dafür sprechen drei Gründe:

Eigentinteresse: Die BDP ist als Abspaltung der SVP entstanden. Sie kann die Rolle der “anständigen SVP” einnehmen und sich nur unwesentlich daneben platzieren; dann dürfte die BDP den Ruf nicht los bekommen, kaum eine Alternative im bürgerlichen Lager zu sein. Positioniert sie sich dagegen im Zentrum, spricht links der FDP und in der Nähe der CVP, hat sie eine Chance, eine eigene Kraft zu werden. Insbesondere im Kanton Bern, wo es keine namhafte CVP auf dieser Position gibt, und auch EVP und glp kein Ersatz dafür sind, besteht das grösste Vakuum in der Mitte.

Regierungssystem: Dafür spricht auch, dass die BDP sowohl mit SVP und FDP eine bürgerliche Mehrheit im Grossen Rat hat. Anders als die FDP kann sie aber auch mit SP, Grünen und EVP eine solche herstellen. Damit ist sie die Scharnierpartei zwischen Regierung und Parlament, die andere Mehrheiten kennen. An ihr liegt es, dass es zwischen den beiden wichtigsten Instanzen der politischen Meinungsbildung eine systematische Blockade vermieden werden kann.

Wählerbasis: Schliesslich kann man auch auf die heterogene WählerInnen-Basis der BDP verweisen, um die These zu begründen. Die SVP und FDP haben ihre elektoralen Grundlagen geklärt und sie dabei eher nach rechts gerückt. Sie verloren Wählende gegen das Zentrum, insbesondere an die BDP. Sie hat aber auch bei NichtwählerInnen gewonnen, bei Wählenden der kleinen Zentrumsparteien zugelegt, und – das ist entscheidend – auch bisherige Wähler und Wählerinnen der SP für sich gewinnen können. Das ist einerseits durch die Parteigründung, anderseits durch den zurückliegenden Wahlkampf geschehen.

Die BDP hat das Potenzial, sich neu als dritte Partei im Kanton Bern zu etablieren und das Feld zwischen SVP und SP erstrangig zu besetzen. National wird das schwieriger sein, denn einige der Voraussetzungen sind da im gleichen Masse nicht gegeben. In einem Kanton muss aber anfangen, was dereinst auf nationaler Ebene blühen soll.

Wahlanalysen: immer nur Sieger?

Parteieigene Wahlanalysen haben einen Bias: Sie produzieren fast nur Sieger. Doch das täuscht. Systematische Uebersichten über Veränderungen in Wahlen geben ein klareres Bild über wirkliche Gewinner und Verlierer unter den Parteien.

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Die Berner Wahlen galten als Zwischenhalt auf dem Weg zu den Nationalratswahlen. In den Kommentaren der Parteien gab es immer nur Sieger. Die FDP, die am meisten Sitze verlor, verwies auf die Mobilisierungstärke rechts von ihr, die der eigenen Partei abgehe; am Kurs müsse man aber nichts ändern. Die SP, zweitgrösster Sitzverlierer, braucht nicht in die Mitte zu wachsen, denn sie nimmt seit den Nationalratswahlen von allen am meisten zu. Die SVP schliesslich, mit drei Mandaten weniger als vor vier Jahren, erklärte sich zum Sieger, weil sie die an die BDP verlorenen Sitze fast wettmachen konnte.

Das alles sind Interpretationen aus Eigeninteresse, die eine Logik verfolgen: Ja nichts ändern am nationalen Kurs, nur weil eine kantonale Wahl verloren ging. Doch täuscht das nicht selten über den wahren Zustand der Parteien hinweg. Einer der wenigen, der hier kühlen Kopf und Uebersicht behält, ist Daniel Bochsler, Schweizer Wahlforscher in Budapest, der die kantonalen Parteistärken aufgrund von Sitzzahlen in den Parlamenten und Bevölkerungsstärke der Kantone berechnet. Das ist wohl der zuverlässigste Indikator auf Sitzebene. Zudem vergleicht er strickte kantonale Wahlen mit kantonal, und bedient sich nicht des beliebten Trick, nationalen und kantonale Resultate nach Gutdünken zu vermischen.

Demnach hat die BDP seit den letzten Parlamentswahlen auf kantonaler Ebene am meisten zugenommen (+3.0%), gefolgt von der GLP (+1.8%). an dritter Stelle folgt die SVP, die ein praktisch ausgeglichene Bilanz kennt, gleich auf mit den Grünen (je +0.1%).

Grösster Verlierer ist die SP mit einem MInus von 2,3 Prozent, gefolgt von der CVP, deren Anteil sich um genau 1 Zähler verringerte. Leicht rückläufig ist auch der Anteil der kleinen Parteien (-0.4%).

Nicht ganz einfach einzuschätzen ist die Lage bei der FDP. Mit der Fusion zwischen FDP und LPS gehört sie zu den Wachstumsparteien (+2.2%). 3.5 Prozent brachte alleine die LP ein. Faktisch heisst das aber, dass man die Parteistärken von 2007 der beiden Parteien nicht einfach addieren kann, sondern mindestens 1,3 Prozent verloren gegangen sind.

Was heisst das alles? Trotz Zusammenschlüssen wächst die Zahl der relevanten Parteien in der Schweiz um mindestens eine. Der eigentliche Magnet ist dabei die BDP. Egal ob man die BDP zu rechts oder ins bürgerliche Zentrum zählt: Rechts der Mitte wächst um etwa 2 Prozentpunkte. Das Zentrum hat um etwa 4 Prozentpunkte zugenommen, verteilt sich aber auf mehr Parteien ohne eigentlichen Lead. Und links hat um etwas 2 Zähler abgenommen.

Sicher ist, dass es nicht nur Sieger gibt. Die Pole verlieren, es wächst vor allem das Zentrum. Die Verschiebungen sind damit ähnlich wie in Kanton Bern, aber bei weitem nicht so drastisch. Die Besonderheit Berns ist, dass es keine CVP als grössere oder grosse Partei gibt, und damit die Scharnierstelle zwischen links und rechts im Parlament fehlt. In diese Lücke könnte die BDP stossen und so ihre neue Rolle in der parteipolitischen Landschaft entwickeln.