Mittelschicht oder Mittelstand?

Was in Deutschland Mittelschicht heisst, wird in der Schweiz unverändert Mittelstand genannt. Obwohl die Mittelschicht gerade hier ausgeprägt vorkommt,und politisch von höchster Bedeutung ist. Eine kurz Begriffsklärung.

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Anteile der Mittelschichtsfamilien, die Ende Monat nichts auf die Seite legen können (Grafik: Beobachter/gfs.bern)

Mit der Industrialisierung traditioneller Gesellschaften änderte sich auch ihre soziologische Beschreibung. Die Ständegesellschaft mit (vereinfacht zusammengefasst) Adel, Klerus und Bauern nahm ihr Ende. Karl Marx teilte die Industriegesellschaft in zwei Klassen: Die Bourgeoisie, bestehend aus den Kapitalisten-Unternehmern, und das (paupersierte) Proletariat mit den Arbeitern.

Zahlreich sind die Kritiken, wonach die marxistische Gesellschaftsbeschreibung die Realitäten nicht trifft. Denn zwischen den Kapitalisten und dem Proletariat entwickelte sich eine dritte Klasse, das (Klein)Bürgertum. Die moderne Soziologie zieht es deshalb vor, von (mindestens) drei Schichten in modernen Gesellschaften zu sprechen: der Ober-, der Mittel- und der Unterschicht.

Für die Entwicklung der Demokratie wird die Ausbildung der Mittelschicht sogar als essenziell angesehen. Denn es waren die Handwerker, Lehrer und Notare, welche die Rechtsgleichheit erstritten, und sich gegen wirtschaftlichen und politische Privilegierungen alter und neuer Oberschichten wehrten.

Der Begriff der Mittelschicht hat sich nicht nur in der Soziologie durchgesetzt. In weiten Teilen des deutschen Sprachraum wird es entsprechend dieser Definition verwendet. Nur in der Schweiz ist das anders. Unverändert spricht man von Mittellstand. Fritz Marbach, Berner Oekonomieprofessor, entwickelte in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts gar eine Theorie des Mittelstandes: zu keinem Luxus fähig, aber der bürgerlichen Lebensweise zugetan, charakterisierte er den Mittelstand. Sogar Unterteilungen führte er ein. Unterschieden werden kann der alte Mittelstand, dem Gewerbe schlechthin, vom neuen, womit die Angestellten in den Dienstleistungsbetrieben gemeint sind.

Seit ich als Sozialforscher aktiv bin, kämpfe ich gegen die Begriffsmengung in der deutschsprachigen Schweiz an – erfolglos, wie ich feststelle. Denn der “Beobachter”, für den unser Instituts jüngst eine Studie zur Lage der Mittelschichtsfamilien erstellt hat, titelt diese Woche über dem ersten Teil der Serie: “Der bedrohte Mittelstand”. Obwohl wir, wie jede soziologisch-statistische Studie heute, die bedrohten Mittelschichten untersucht haben.

Das ist aber auch die einzige Kritik, die ich zum Auftaktbericht der vierteiligen Beobachterserie habe. Denn er geht der zentralen Frage nach, wodurch sich Mittelschichten von Unter- resp. Oberschichten unterscheiden, wenn sie in die Defensive geraten. Die bündige Antwort lautet: Auf mehr als ein Kinder verzichtet man, auf ein Auto nicht!

Landsgemeinde Ja oder Nein: das Beispiel Appenzell-Ausserrhoden

Der Kanton Appenzell Ausserrhoden erwägt, die abgeschaffte Landsgemeinde wieder einzuführen. Am 13. Juni fällt der Grundsatzentscheid an der Urne. Eine Auslegeordnung als Meinungsforscher und Politikwissenschafter.

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Heute präsentierte ich im Café Zäch in Herisau die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung bei 1005 StimmbürgerInnen. Ziel der Studie war es nicht, eine Abstimmung zur Wiedereinführung der Landsgemeinde zu simulieren. Vielmehr ging es darum, den Stand der Meinungsbildung hierzu zu klären.

Auftraggeber war das Komitee, das die Landsgemeinde wieder einführen will. Gewichtige PolitikerInnen sind hier Mitglied. Vertreten war es an der Präsentation durch Hanspeter Spörri, dem Ex-Chefredaktor des „Bund“.

Für die stimmberechtigte Bevölkerung schmerzhaft ist bis heute der Verlust der eigenen Kantonalbank. Die Wirren um die UBS, an die das Unternehmen damals verkauft wurde, hat das alles noch verstärkt. Am besten verkraftet hat man die Aenderung bei der Appenzeller Zeitung, die vom St. Galler Tagblatt übernommen wurde. Bezüglich der Landsgemeinde erscheinen die Verluste als mittel stark. Selbstredend sind die Verlustgefühle in den älteren Generationen grösser als in den jüngeren.

51 Prozent vermissen die Landsgemeinde nicht. Bei 43 Prozent ist das anders. Nebst dem Alter schlägt hier auch die Parteirichtung durch. Freisinnige trauern der Landsgemeinde verstärkt nach; bei den SympathisantInnen der SVP und der SP ist der Anteil unterdurchschnittlich.

Wie aufmerksam Medien und Bevölkerung das Thema “Landsgemeinde” verfolgen, zeigt der Wissenstand. Fast drei Viertel wissen, dass bei einem Ja zur Initiative die Landsgemeinde nicht automatisch wieder eingeführt wird, sondern zuerst über die Form diskutiert wird.

Wissen und Gefühle sind der Entscheidung gegenüber da, besagt die Auslegeordnung also. Das spricht für eine hohe Sensibilität, ohne klare Mehrheiten. Wer wie stimmt, mehr noch, wer an der Volksentscheidung teilnimmt, weiss man nicht. Das entscheidet sich im Lokalen häufig erst aufgrund des Abstimmungskampfes in den letzten drei Wochen. Deshalb kann heute keine verbindliche Aussage über Mobilisierung, Entscheidungen und den Ausgang der Volksabstimmung gemacht werden.

Als Meinungsforscher hätte ich meine Präsentation heute hier aufgehören können. Als Politikwissenschafter musste ich indessen einige Gedanken hinzufügen. Gerade die politische Theorie argumentiert stark damit, dass Identitätsvorstellungen in den Demokratievorstellungen der Schweiz verbreitet vorhanden sind.

So werden Regierende und Regierte vielfach kaum differenziert. Das ist in Kantonen mit Landsgemeinden ganz besonders der Fall. Denn diese gilt als Ereignis, das die Teilnehmenden sozialisiert und unmittelbare Entscheidungen erleichtert. Der gewichtigste Einwand ergibt sich aus der repräsentativen Demokratietheorie. Demnach überdeckt das gemeinschaftliche Denken die Konfliktaustragung. Der Pluralismus in der Meinungsbildung ist unterentwickelt, und die diesbezüglichen Vorteile politischer Entscheidungen in Parlamenten werden gerne übersehen.

Dem Komitee ist zu raten, nicht aus Nostalgie zum Ritual der diskussionslosen Wahlen und Abstimmungen zurückkehren zu wollen. Jüngeren Menschen ziehen die Debatte vor. Auch SVP und SP wollen, dass man klarer Pro Kontra erörtert. Beides gehört heute zur Streitkultur in der Politik – sei es in Parlamenten oder in Landsgemeinden.

Wahlen in den Zürcher Städten: Zentrum gestärkt, SVP ebenso, Linke geschwächt

Die Wahlen in die Parlament der 12 grössten Zürcher Städten sind vorbei. Gewinner sind die Grünliberalen, die SVP, die Grünen und die BDP, Verlierer die SP, die CVP, die FDP und die EVP. Gestärkt wurde das Zentrum, geschwächt die Linke, während die SVP nach einem kleinen Einbruch 2006 wieder wächst. Warum das alles? – Einige Arbeitshypothesen zur vertieften Diskussion.

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Quelle: Tagesanzeiger, 26. April 2010

Nach den Wahlen in der Kantonshauptstadt liegt nun die komplette Uebersicht über die 12 Gemeindewahlen vor. Sie macht klar, dass die Bi-Polarisierung anhält, wenn auch eingeschränkt und nicht als alleiniges Muster der WählerInnentscheidungen. Denn die SVP und die Grünen als am klarsten rechts resp. links positionerte Parteien haben nicht am meisten gewonnen.

Am meisten neue Sitze zu besetzen fällt diesmal der glp zu. Schliesslich ist die BDP kleine Siegerin. Beide neuen Gewinnerinnen im Kanton Zürich stehen für den zweiten Trend: Wo neue Angebote es schaffen, glaubwürdig in Erscheinung zu treten, schaden sie den Parteien in ihrem Umfeld. Die GLP dürfte in den Zürcher Städten zu Lasten aller Verliererinnen zugelegt haben. Die BDP ihrerseits kann die SVP nicht stoppen.

Wer könnte von wem profitiert haben? Als Arbeitshypothesen seien formuliert:

. Die glp gewinnt von der SP, den Grünen, der FDP, der CVP und der EVP hinzu.
. Die SVP legt bei legt bei FDP, SP und CVP zu.
. Die Grünen gewinnen bei der SP, verlieren aber an die GLP.
. Die BDP wächst zulasten der FDP.

Die SP verliert an die GLP, die SVP und die Grünen. Die CVP hat Abgänge Richtung glp und SVP. Die FDP verliert an SVP, BDP und glp. Die EVP kann Abgänge an glp nicht vermeiden.

Vereinfacht ausgedrückt heisst das SVP verstärkt sich im bürgerlichen Lager, beschränkt auch im linken. Die glp gewinnt im linken Lager wie auch im Zentrum und im bürgerlichen Lager hinzu.

Unübersehbar gestärkt wurde bei den diesjährigen Stadtparlamentswahlen des bevölkerungsreichsten Schweizer Kantons das Zentrum gestärkt. Parteipolitisch ist es aber zersplittert. Die SVP bietet hierzu die Alternative an, während die Linke darbt.

Der Vulkan, die Politik und die gegenwärtigen Stimmungslagen

Der Eyjafjalla-Vulkan war dieser Tage in aller Leute Mund. Wahrscheinlich hat sein überraschender Ausbruch mit den unerwarteten Folgen wie kaum ein anderes Ereignis der jüngsten Zeit uns beeindruckt. Zurecht, ja gerade treffend für die Eruptionen in der politischen Landschaft, sage ich da!

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Ausbruck des Eyjafjalla-Vulkans im April 2010

Fulvio Pelli, der Präsident der FDP, brachte es am Samstag auf den Punkt: Die innerparteilichen Spannungen um das Bankgeheimnis und Schwarzgelder seien “explodiert wie ein Vulkan”. Losgetreten wurde die Debatte durch FDP-Unternehmer. Sie fürchteten, die Partei könnte angesichts des Abzocker-Images untergehen. Die Partei müsse sich von Bankeninteressen emapnzipieren, und gleichwert an der Werkplatz Schweiz denken. Das rief umgehend die Vertreter der Banken und Versicherungen auf den Plan, die der verlangten Weissgeld-Strategie eine Abfuhr erteilen. wollten. Ganze Kantonalparteien empörten sich, und unter den Parteimitgliedern brodelte es mächtig, ja kam es bei den Berner Wahlen zu einer eigentichen Explosion. 10 Wochen dauerte die Auseinandersetzung an.

Zurecht verglich Fulvio Pelli die Lage der FDP mit der eine Vulkans. Denn tief unten in der Partei sind unverändert starke Ueberzeugungen aktiv. Angesichts der Verkrustung an der Oberflächte kommen sie aber kaum mehr zum Tragen. Das erhöht den innern Druck seit längerem. Dieser verschaffte sich Raum, als die Parteispitze in der Bankenpolitik eine Kehrtwende vollzog. Das legte allseits die Emotionen offen. Die Medien feuerten die verschiedene Protagnisten an, sodass alles ausser Kontrolle geriet. Der angerichtete Schaden zwang zur inneren Einkehr, wie es der Parteipräsident gestern formulierte.

Erstmals das Gefühl einer vulkanartigen Stimmung hatte ich letzten Herbst bei den Genfer Wahlen 2009. Der grosse Ueberraschungssieger war damals das MCG, eine rechte Protestbewegung, die bei den Parlamentswahlen richtiggehend Wählerstimmen absahnte. Mit der Grenzgängerproblematik nahm sie ein Thema auf, das im Lokalen seit längerem für erhebliche Spannung sorgte, die von keiner Partei aufgenommen und einer Lösung zugeführt wurden. So brauchte es nur einen Strassenwahlkampf des Aussenseiters während einigen wenigen Wochen, und schon stand Genf Kopf. Die Volksseele kochte,und bei der Neubesetzung des Genfer Grossen Rates entlud sie sich eruptiv. Doch schon bei den nachfolgenden Regierungsratswahlen scheiterte der Spitzenkandidat des MCGs, und die bisherigen Regierungsparteien setzten sich wieder durch. Der Genfer Vulkan war schnell wieder erloschen.

Man könnte hier auch die Minarett-Initiative anfügen, um ein nationales Beispiel zu haben. Und sicherlich gibt es in vielen Städten ähnliche Stimmungslagen, die zu vergleichbaren Ausbrüchen führen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass die Ausbrüch kaum vorhersehbar sind. Wenn sie erfolgen, beeindrucken sie uns gewaltig, um auch recht schnell wieder an Strahlkraft einzubüssen.

Wer solche Eruptionen auslösen, wer sie steuern und wer sie zu seinem Instrumenten machen kann, der ist sich des politischen Erfolgs gegenwärtig sicher. Davor scheint fast niemand mehr sicher zu sein. Doch wen es trifft, den rüttelt es gründlich durcheinander. In seinem Umfeld kommt es zu erheblichen Schäden. Und so fragt sich natürlich, wer 2011 rechtzeitig vor den Wahlen nicht nur 1. August-Kracher loslassen wird, sondern ganze Vulkane zum bersten bringen kann. Das Ausland? Die Wirtschaft? Oder die SVP?

Rechtsradikale Parteien in Europa und der Schweiz: Wer zählt dazu?

In seiner Doktorarbeit schlägt der Fribourger Historiker Damir Skenderovic eine Typologie zur Bestimmung rechtsradikaler Parteien vor. Sie hat erhebliche Konsequenzen auf die Bestimmung der entsprechenden Wähleranteile in europäischen Demokratien – auch in der Schweiz.

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Die neue Typologie …

Die wichtigsten unter rechtsradikalen Parteien sind nach der neuen Definition von Damir Skenderovic die rechtspopulistischen. Ihnen sind drei Eigenschaften gemein: der Bezug auf das “Volk”, das verraten worden sei und von neuen Parteien vertreten werden müsse, die Hochhaltung der kulturellen Differenzen zwischen der Eigengruppe und den Fremdgruppen, und die Anbindung an die Demokratie, insbesondere an ihre direkten Aktionsmöglichkeiten. Ohne Zweifel zählt die Schweizerische Volkspartei (SVP) hierzu.

Die zweitwichtigste ist für Skenderovic die neue Rechte. Anders als die populistischen Parteien ist sie elitär, wird sie von rechtskonservativen Intellektuellen getragen. Sie entwickeln und fördern insbesondere den Diskurs der kulturellen Differenz. In der Schweiz gibt es keine Partei, die dazu passt. In Frankreich sind es die Anhänger von Alain de Benoist.

Und an dritter Stelle rangiert nach Skenderovic die extreme Rechte, klar antidemokratisch, rassistisch und gewaltbereit. Auch dieser Typ rechtsradikaler Partei gibt es in der Schweiz nicht. In Deutschland zählt die NPD hinzu, in Ungarn Jobbik.

Gemäss dieser Einteilung hat die Schweiz den höchsten Anteil Wähler rechtsradikaler Parteien in der Schweiz. Sie resultieren aus dem Ergebnis der SVP. Es folgen die Niederlande und Ungarn mit je 17 Prozent, Belgien und Dänemark mit je 15 Prozent und Oesterreich mit 13 Prozent.

… und ihre Kritik

Mir widerstrebt die Zuordnung aller rechspopulistischer Parteien und deren Wähler zum Rechtsradikalismus. Sie SVP bezeichne sich stilistisch zwar meist auch so, inhaltlich aber überwiegend nationalkonservativ. Das zeigt sich in ihrem Gesellschafts- und Wirtschaftsverständnis, in ihrer europa- und weltpolitischen Programmtik, und ihren Vorstellungen zur Ausländerfrage. Für mich ist die Bindung der SVP an die direkte Demokratie der klarste Beleg, sie nicht tel quel in der rechtsradikalen Parteienfamilie einzuordnen.

Wenn man das so sieht, ist die obenstehende Karte erheblich irreführend. Die Schweiz, das führende europäische Land der Rechtsradikalen, würde wieder weiss eingefärbt werden. Genauer als Wähleranteile, in denen sich auch unterschiedliche Formen des Wahlrechts spiegeln, wären deshalb europaweite Befragungen zu politischen, kulturellen und institutionellen Verständnissen, wenn es gilt, das rechtsradikale potenzial zu bestimmen. Wohl würde man da auch besser sehen, dass zwischen rechtsextrem und neuer Rechte einerseits, und zahlreichen rechts-, national oder auch liberalkonservativen Strömung in den Wählerschaften klare Unterschiede bestehen.

Damir Skenderovic: The radical right in Switerland. Continuity and Chance, 1945-2000, Berghahn Books 2009.

“Hung Parliament” – ein Wahlergebnis, das nicht vorgesehen ist, wird wahrscheinlicher

Nick Clegg ist jetzt schon der Sieger des britischen Wahlkampfes, kann aber nicht sicher sein, auch die Unterhauswahlen vom 6. Mai 2010 zu gewinnen. Tut er das auch, gibt es in Grossbritannien trotz Mehrheitswahlrecht ein Parlament ohne genuine Mehrheit.

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Wählerstärken seit Ausrufung der britischen Unterhauswahlen vom 6. Mai 2010 (Stand: 20. April 2010)

Lange Zeit galten die Unterhauswahlen in Grossbritannien als Entschieden. Die regierende Labour Party unter Gordon Brown würde abgewählt werden, und die Convervatives unter David Cameron würden die Nachfolgeregierung stellen. In den besten Zeit der zweiten Legislaturhälfte ging man von einem Vorsprung von bis zu 20 Prozentpunkten im Wähleranteil aus.

Im aktuellen Wahlkampf hat sich nun Wesentliches geändert. Insbesondere die erstmals durchgeführten TV-Debatten haben die Dynamik der Meinungsbildung geändert. Nick Clegg gewann das erste um Längen, und er hielt auch im zweiten einigermassen stand. Das dritte und letzte ist nächsten Donnerstag. Gewählt wird am 6. Mai. Hauptsächlicher Verlierer sind die beiden grossen Parteien, die Konservativen noch mehr als die Sozialisten.

Nun rätselt ganz Grossbritannien, was geschieht, wenn etwas passiert, mit dem niemand rechnet: wenn keine Partei die Mehrheit hat. Denn die Wähleranteile der drei Parteien liegen nahe beisammen. UKPollingReport sieht die Cons bei 33 Prozent, die LibDem bei 29 und Labour bei 27 Porzent. Im britischen Mehrheitswahlrecht könnte das 267 Sitze für Labour geben, 255 für die Conservativen, und 97 für die Liberaldemokraten.

Hung Parliament” nennt man das in Grossbritannien: Parlament in der Schwebe, könnte man es übersetzen. Nur zwei Mal gab es das in der Wahlgeschichte Grossbritanniens: 1929 und 1974. Ein Blick ins Unterhaus zeigt, dass man schon räumlich nicht damit rechnet. Denn anders als in allen europäischen Parlamenten sitzt man in Grossbritannien nicht im Halbrund, sondern in zwei Blöcken, je eine für die Regierung und die Opposition. Und da hat es jeweils nur für eine Partei Patz.

Nun könnten die Liberaldemokraten als kleinste Parlamentsfraktion unter den regierungsfähigen Parteien dennoch den Ausschlag geben. Denn ihne traut man zu, mit beiden Seiten regieren zu können, was den Wahlkampf spannend gemacht hat: Nick Clegg wird persönlich massiv diffamiert, und seine Partei wird zunehmend gefragt, mit wem sie es besser oder schlechter könnte. Mehr als unverbindliche Einschätzungen erhält man dazu nicht.

Und so könnte es sein, dass es in Grossbritannien zu ungewohnten Verhandlungen für eine Koalitionsverhandlung kommt – oder zu einer Minderheitsregierung, welche in Sachfragen auf die Zustimmung weitere ParlamentarierInnen aus anderen Parteien angewiesen ist. Letzteres wäre zwar konsequent im Regierungs-/Oppositionssystem, aber inkongruent mit den Annahmen die man bei der Systembildung traf, um politische Stabilität zu sichern.

Wie sich Politologe Hanspeter Kriesi die Regierungsreform vorstellt

Regierungsreformen haben (wieder) Konjunktur. Auch Verein Zivilgesellschaft Schweiz hat sich damit auseinander gesetzt. Hier die Thesen, die der renomierte Zürcher Politikwissenschafter Hanspeter Kriesi dem eher rechtsbürgerlichen und einflussreichen Diskussionsclub zur Behandlung vorgeschlagen hat.

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Hanspeter Kriesi ist Leiter des Forschungsprogramms NCCR Democracy

Das Schweizer Regierungssystem hat drei Hauptprobleme:

Erstens leidet es an einer Führungsschwäche des Bundesrates. Dies manifestiert sich darin, dass der Bundesrat nicht regiert, sondern hauptsächlich verwaltet und eher ein neutraler Schiedsrichter als ein starkes Führungsgremium darstellt. Dieses Problem hat seine Ursache in der Konzeption des Bundesrates als „Parlaments-Ausschuss-Regierung“ und der jährlich rotierenden und schwachen Ratspräsidentschaft. Besonders in Krisensituationen zeigt sich diese Führungsschwäche.

Zweitens fehlt dem Bundesrat die Kohärenz. Das Kollegialprinzip funktioniert immer weniger. Die Mitglieder des Bundesrates äussern sich unterschiedlich gegenüber der Öffentlichkeit und machen den fehlenden Konsens damit sichtbar. Diese Problematik rührt daher, dass unsere Konkordanzregierung nichts anderes als eine permanente grosse Koalition darstellt. Durch immer lauter werdende Rufe nach Transparenz und Verantwortlichkeit sowie der medienzentrierten Kommunikation wird diese Problematik noch verschärft.

Drittens stösst der Bundesrat an seine Kapazitätsgrenzen. Durch die immer komplexer werdenden Geschäfte und die wachsenden Departemente sowie der hohen Präsenzzeit in parlamentarischen Kommissionen und Sitzungen werden die Bundesratsmitglieder zeitlich überfordert.

Als Lösung dieser Probleme wird oft die Volkswahl des Bundesrats vorgeschlagen. Dies ist aber nur „une fausse bonne idée“, weil diese das Kapazitätsproblem nicht löst und das Kohärenz- und Koordinationsproblem durch die Mediatisierung der Politik sogar noch verschärft. Alternativen zur Volkswahl sind die „politische Weichenstellung“ und der „sanfte Umbau“.

Die “politische Weichenstellung” beinhaltet die Bildung von kohärenten Regierungskoalitionen mit Koalitionsvertrag aufgrund einer Listenwahl im Parlament. Dadurch können Verfassungsänderungen vermieden und die Voraussetzungen des Kollegialsystems erhalten werden. Eine solche Änderung leistet einen Beitrag zur Lösung der Führungsschwäche, trägt aber nicht zur Verringerung des Kapazitätsproblems bei.

Ein “sanfter Umbau” beinhaltet eine Verstärkung der Regierungsspitze mittels Erhöhung der Amtsdauer des Bundespräsidenten auf vier Jahre. Auch wird der Bundesrat je nach Notwendigkeit und gewählter Struktur auf 9, 11, 13 oder 15 Mitglieder erweitert. Damit werden die Probleme der Führungsschwäche und der Kapazitätsgrenze gemindert oder gelöst, jedoch nicht unbedingt das Kohärenzproblem. Ausserdem ist dafür eine Verfassungsänderung notwendig.

Als optimale Lösung wird nicht eine dieser Alternativen, sondern eine Mischform aus beiden vorgeschlagen. Damit können alle drei Hauptprobleme des heutigen Regierungssystems gelöst werden.

Mit Leidenschaft gegen den Zerfall der Medienkultur

Zu den Ingredenzien der Forschung zählt Kurt Imhof, führender Mediensoziologe der Schweiz, gute ForscherInnen, viele Datensätze, Theorien, Methoden und … Leidenschaft.

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Kurt Imhof, wie er leidenschaftlich lebt und forscht

Auf seine Leidenschaft angesprochen, spricht der Zürcher Professor Kurt Imhof am liebsten über sein Projekt, ein Medien-Observatorium für die Schweiz einzurichten. Dieses soll untersuchen, wie Medien Politik und Wirtschaft beeinflussen. Dabei geht es ihm um den Auf- und Abbau von Zukunftsvertrauen, weil dieses Investitionen lenkt. Es treibt ihn an zu zeigen, wie durch Heroisierung und Skandalisierung die Reputation von Wirtschaftseliten entsteht un vergeht. Und er will bestimmen, wie sich die Veränderung der Qualität im ökonomisierten Mediensystem auswirkt.

Bisher wurden die Ergebnisse summarisch auf einer Online-Plattform veröffentlicht. Mitte 2010 soll das erste Jahrbuch “Qualität der Medien Schweiz” erscheinen. Denn davon ist Imhof überzeugt: Die Medien, die alles und jedes in Frage stellen, sind es sich nicht gewohnt, dasselbe mit sich zu machen.

Kontrollieren will Imhof die Medien nicht – zur Selbstreflexion verführen indessen schon. Indem der Medienexperte Medienkritik als Medienevent vermarktet. Zum Pudding seien die Medienberichte geworden, erklärte Imhof jüngst der NZZ, seit Information und Unterhalten vermischt würden, um in der Gratiskultur bestehen zu können. Widerspruch dazu gabs nicht, denn die Pointe gefiel. Doch eigentlich meinte Imhof, dass sich Universalität, Ausgewogenheit, Objektivität und Relevanz der Medienberichterstattung über die Zeit verschlechtert haben. Diese Botschaft wäre so schwieriger zu vermitteln gewesen.

Sein Observatorium müsste eigentlich durch die Medienverlage finanziert werden, meint Imhof. Doch das funktioniere in der Praxis nicht. Schon Einwände in der Theorie gibt es, wenn der Staat das machen würde, denn der lebt von der demokratischen Willensbildung, die zivilgesellschaftlich begründet sei. Unabhängigkeit der Medienforschung am Observatorium will er deshalb durch Wissenschaft, Stiftungen und Donatoren sichern. Zwei Millionen Schweizer Franken sind so schon zusammengekommen.

Als man begonnen habe, das Jahrbuch zu entwerfen, habe er noch nichts davon gehabt – und sei doch gestartet, sagt Imhof mit gewohntem Schalk, “weil letztlich die Leidenschaft die Forschung treibt!”

5 Jahre Medienpapst – eine kritische Zwischenbilanz

5 Jahre ist Benedikt XVI. nun Papst. Und seit fünf Jahren nutzt er Medienauftritte ganz bewusst. Was den Medienpapst ausmacht, analysiert ein neues Buch, das noch vor der laufenden Pädophilen-Debatte geschrieben wurde, ihre Charakteristik letztlich aber genau vorwegnimmt.

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Andreas Hepp und Veronika Krönert sind als MedienwissenschafterInnen an der Uni Bremen tätig. Im Rahmen eines grösseren Forschungsvorhabens haben sie die Kommunikation von Papst Benedikt XVI. (von Papst “Gutgesagt” also) aus kritischer Distanz untersucht.

Ausgangspunkt ihrer umfangreichen Abhandlung ist der Weltjugendtag von 2005, gleichsam der Beginn des neuen Pontifikates, das sie religionssoziologisch und medientheoretisch hinterfragen. Ihre These ist: Die katholische Kirche tritt neu systematisch auf dem medial vermittelten Sinnmarkt auf, um das Potenzial zu nutzen, begibt sich dabei aber in Abhängigkeiten. Die sehen die AutorInnen vor allem darin, dass sich der Papst als wichtigster Kommunikator der einmal gewollten Medieninszenierung kaum mehr entziehen kann – auch dann nicht, wenn er und seine Kirche es wünschten.

Dabei muss man nicht einmal an unrühliche Problemlagen der Aktualität denken. Denn hinter ihnen liegen Mechanismen verborgen, die sich auch bei anderen Protagonisten mit anderen Eigenschaften zeigen würden. Hepp und Krönert sehen das in drei Konsequenzen der Mediatierung von Religion begründet:

. in der sozialen Dimension der Individualisierung,
. in der räumlichen Dimension der Deterritorialisierung und
. in der zeitlichen Dimension zunehmender Unmittelbarkeit.

Was das heisst, erfährt man in den Verallgemeinerungen zur Beschreibung des Weltjugendtages: Denn wo Medien zum Ort des persönlichen Aushandelns von Sinnangeboten werden, wächst der Zwang, sich stets mediengerecht zu präsentieren: heterogen, um Teilöffentlichkeiten und Zielgruppen zu gefallen; translokal, um Netzwerker für sich zu gewinnen und markenorientiert, um sich von anderen Religionen abzugrenzen.

Unweigerlich kommen einem da die Probleme des gegenwärtigen Pontifikates in den Sinn: die umstrittene Polarität von Papst Benedikt zum Islam und Judentum, die durch Annäherung und Provokation gekennzeichnet ist, die heiss diskutierte Integration der Pius-Bruderschaft, die aufgrund falscher Informationen erfolgte, und die Nähe der Kirche zu historischen und politischen Gruppen, denen der Papst einmal nahe stand.

Die AutorInnen sind überzeugt: Das alles muss zwangsläufig in einer Entzauberung des religiösen Zaubers enden. Denn der “Schwarzmarkt der Religion”, wie sie die Medienöffentlichkeit nennen, wird grösstenteils von nicht kirchlichen Akteuren konstituiert, durch ihre Prinzipien bestimmt und durch Zuschauerzahlen legitimiert, die man mit medialen Tricks wie der Eventualisierung erreicht. Religionen werden so zwar populär, aber auch entsakralisiert.

Oder einfacher gesagt: Die Euphorie der Kirchen zu den Chancen eines Medienpapstes ist rasch einer Desillusionierung der Gläubigen gewichen, ohne dass Religion dadurch nachhaltig etwas gewonnen hätte.

UKPOLLINGREPORT

Am 6. Mai 2010 wählte Grossbritannien sein neues Parlament. Umfragen berichten über den Stand der Meinungsbildung. Und UKPOLLINGREPORT berichtet bis zum Wahltag über die demoskopischen Berichte. Ein Porträt der Metaberichterstattung.

Die Umfragen zu den britischen Parlamentswahlen überschlugen sich die letzten drei Tage. Mit der TV-Debatte zwischen den Spitzenkandidaten änderte sich die fast fixe Hackordnung unter den Parteien. Die Liberaldemokraten setzten sich gemäss Umfragen von BPIX und YouGov knapp an die Spitze, gefolgt von den Konservativen und den Sozialisten. Vergleiche der Vor- und Nachbefragungen zum Medienevent zeigten, dass insbesondere die unter 40jährigen, etwas weniger auch die Frauen mit ursprünglich konservativer Präferenz zur Meinungsänderung beitrugen, der schon festgeschriebene Umschwung das Wochenende aber kaum überlebte.

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Stand der Dinge bei den britischen Parlamentswahlen: Uebersicht über die einzelnen Umfragen zu den Wahlabsichten gemäss UKPR

UKPollingReport ist eine Plattform zu Umfragen vor den britischen Parlamentswahlen. Sie wird in Kooperation mit YouGov betrieben, berücksichtigt aber alle publizierten Polls. Das alleine hilft, die Uebersicht zu bewahren. Zudem erstellt UKPR einen Index der Parteistärken, der alle Resultate der letzten 20 Tage berücksichtigt. Und es findet sich eine Umrechnung der ermittelten Parteistärken auf erwartete Sitze im Unterhaus.

Beide Indikatoren sind naturgemäss stabiler als einzelne Ergebnisse. Demnach können die Konservativen unter David Cameron mit 34 Prozent der Stimmen rechnen, Labour unter Premier Gordon Brown mit 28 und die Liberaldemokraten unter Nick Clegg mit 27. Umgerechnet in Sitze könnte Labour mit 271 Vertretern stärkste Kraft bleiben, dicht gefolgt von den Conservativen mit 265 Sitzen und den Liberaldemokraten mit 82 Abgeordneten. Mit anderen Worten: gerechnet wird mit einem hung parliament, das heisst einem Unterhaus ohne Mehrheitspartei.

Selbstredend hängt das alles von den Methoden der Umrechnung und der Gewichtung von Umfragen im Index ab. UKPR weiss darum. Doch die alles entscheidende Frage ist welche. Und da gehen die Annahmen auchin Grossbritannien auseinander. Deshalb empfiehlt die Plattform die vergeschlagenen Index als gesichertere Annäherungen, die von tagesaktuellen Ausschlägen und methodischen Unterschieden zwischen den Instituten bereinigt sind.

Ein Blog macht die Plattform zusätzlich interessant. Teilweise resultieren Unmengen von Reaktionen auf Beiträge, wie etwa auf die Umfrage mit den Liberaldemokraten an der Spitze. Da meldeten sich schon mal 1000 Kommentatoren in weniger als 72 Stunden, um ihrer eigenen Analyse Ausdruck zu geben.

Am 6. Mai weiss man, welches Institut genauer resp. welcher Kommentar treffender war, als das rollende Mittel durch den Wahlkampf. Vorher ist dieses sicher zuverlässiger als die Aufgeregtheit einer einzelnen Stellungnahme zu einem einzelnen Medienbericht. Das könnte sich auch die Berichterstatter in den Schweizer Medien zu den britischen Parlamentswahlen zu Herzen nehmen.