“Ja. Nein. Schweiz.”

Knapper geht ein Titel nicht. Vor allem nicht, wenn es sich um eine Doktorarbeit handelt. Doch in diesem Fall macht das Plakative Sinn. Denn die Zürcher Dissertation von Sascha Demarmels handelt von “Schweizer Abstimmungsplakaten im 20. Jahrhundert”. Ihr Thema sind Emotionen in der Massenkommunikation.

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Der Anlass
Das politische Plakat ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Bei Schweizer Volksabstimmungen tauchte es nachweislich während der national(istisch)en Begeisterung im Jahre 1898 erstmals auf. Seine erste Blüte erlebte es mit dem Ersten Weltkrieg und dem Aufbrechen des sozialen Gegensatzes zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft.

Quantitativen Höhepunkte des politischen Plakatierens gibt es viele. In den 20er, 30er, 50er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Und heute. Das “schnelle Denken” (Daniel Kahneman), das gerade die politische Kommunikation der Gegenwart fördert, hat zu einem Revival des Plakates im Abstimmungskämpfen geführt. Konkret: Nie in der Schweizer Politgeschichte gab es so viele Abstimmungsplakate wie seit 2003.

Grund genug, sich wissenschaftich damit zu beschäftigen.

Die Studie
Sascha Demarmels, eine Kolleginnen an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft, hat es als Erste eine Uebersicht zur politischen Plakatkommunikation gewagt. 2004 hat sie mit ihrer Doktorarbeit begonnen; in diesem Jahr ist sie in Buchform erschienen. Entstanden ist so eine knapp gehaltene Geschichte des politischen Plakates, die ein zentrales Thema verfolgt: die Emotionalisierung politischer Diskurse während Abstimmungskämpfen.

Auf Plakaten vermutet Sascha Demarmels Reizwirkungen auf drei Ebenen:

erstens auf der materiellen Ebene, wobei es um Farben und Schriften auf dem Plakat geht,
zweitens auf der kognitiven Ebene, wobei Ueberraschungen oder Widersprüche Aufmerksamkeit sichern soll, und
drittens auf der emotinalen Ebene, die kulturübergreifend, kulturspezifisch, gruppenspezifisch oder individuell erzeugt werden, um die Meinungen zu beeinflussen.

Letzteres ist am interessantesten, denn hier geht es beispielsweise um Schlüsselreize bei besonders plakatierbaren Themen wie “Kinder”, “Geld”, “Freiheit” und “Gerechtigkeit”. Es zählen aber auch Archetypen der politischen Kommunikation wie “Hintergangene”, “Uebermächtige”, “Gute und Böse” hierzu, die dank radikalen Vereinfachungen in Bild und Text eine klare Zuordnung im politischen Kampf ermöglichen. Die Emotionalisierungsstrategien beziehen sich auf den Raum und die Landschaften, die Mythen und Geschichten, und auf die eigene Gesellschaft. Denn sie schaffen gerade bei Volksabstimmungen Identifikationsmöglichkeiten, um kollektive und individuelle Adressaten wie “Arbeiter”, “Mieter”, aber auch “Schweizer” ansprechen zu können.

Die fast 1000 Plakate, welche Sascha Demarmels für ihre Doktorarbeit untersucht hat, erschliessen den Interessierte die ganze Palette der Plakatkultur in der Schweiz. Materielle Emotionalisierungen finden sich in 80 Prozent der Fälle; sie konstituieren die Kommunikationssorte quasi. Gut belegt sind Emotionalisierungen auf sozialer Ebene (in drei Viertel der Fälle, vor allem mittels Verunsicherung und Angst) resp. mittels Schlüsselreizen (in zwei Drittel der Fälle).

Auch wenn sie nicht einfach zu quantifizieren sind, die Autorin hält die kulturspezifischen Strategien der Emotionalisierung für die wichtigsten, insbesondere, wenn es um Mythen geht – klassischen wie “Tell”, “Gessler” und “Helvetia”, aber auch neue wie “Unabhängigkeit”, “Neutralität” und “Steuerparadies”.

Der Schluss
Drei Paradigmen von Botschaften bestimmen gemäss Studie die übergeordneten Themen, die mittels Plakaten in der Schweiz effektvoll vermittelt werden können: nationale Werte, ihre Kritik und der Zusammenhalt der Schweiz in der komplexen Welt. Das macht das Plakat seit mehr als hundert Jahren mit welchselnden Inhalten für die emotionale Kommunikation besonders attraktiv.

Diesem Hauptergebnis kann man ohne Zweifel zustimmen, selbst wenn man unterwegs Fragezeichen in der Durchführung des empirischen Teils der Arbeit hat. Das Verdienst der linguistisch ausgerichteten Studie ist es, das Plakat erstmals systematisch als Mittel der Emotionalisierung der Bürgerschaft untersucht zu haben.

Denn das ist gerade heute wieder von Belang, weshalb sich auch PolitikwissenschafterInnen ein Stück davon abschneiden und sich dem Thema schnell und gründlich beschäftigen sollten.

Claude Longchamp

Menschenrechte und Demokratie gehen auseinander hervor.

In die Kontroverse um Demokratie und Menschenrechte greift nun auch der Staats- und Völkerrechtler Walter Kälin ein: weder das eine noch das andere gelte absolut, ist seine These; Menschenrechte und Demokratie bedingen einander vielmehr und müssen gemeinsam weiterentwickelt werden, schreibt er in der heutigen “NZZ am Sonntag”.

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Walter Kälin, seit 1988 Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern, weltweit anerkannter Experte für Menschenrechtspolitik

Man erinnert sich: Nach der Volksabstimmung über die Minarett-Initiative kritisierte namentlich der Club Hélvetique, der Entscheid sei menschenrechtswidrig und müsse rückgängig gemacht werden. Die SVP reagierte harsch und stellte eine Volksinitiative gegen jegliche Einschränkung von Volksrechten in Aussicht. Polarisierung pur!

Gelassener beurteilt Professor Walter Kälin, Schweizer Mitglied des UNO-Menschenrechtsausschuss, die Sache. Seine These: Menschenrechte und Demokratie bedingen einander: Demokratie ohne Menschenrechte bedeutet Diktatur der Mehrheit. Doch Menschenrechte stehen nicht an sich über der Demokratie, denn beides geht auseinander hervor.

Menschenrechte setzen Demokratien zunächst Grenzen. Denn auch Dmokratie bedeutet nicht ungebremste Herrschaft, wenn das Volk es legitimiert. Entsprechend müssen Minderheitsrechte auch vor demokratischen erzwungenen Einschränkungen geschützt werden.

Das gilt für den Kern von Menschenrechten, etwa dem Verbot unmenschlicher Behandlung, dem Diskriminierungsverbot, dem Anspruch auf eine faires Gerichtsverfahren und dem Schutz vor Zwang zu religiösen Handlungen.

Doch sind auch Menschenrechte gerade in Demokratien nicht sakrosankt. Dient ihre Beschränkung einem legitimen Zweck und geht sie dafür nicht weiter als notwendig, geht das für den Juristen in Ordnung. Denn Menschenrechte schreiben nicht vor, was eine Demokratie zu entscheiden habe, nur was sie unterlassen soll.

Im konkreten Fall des Minarettverbots in der Schweiz postuliert Walter Kälin: Sollten die hohen Gerichte in Lausanne oder Strassburg die Zulässigkeit bestreiten, dürften die Initianten weiter für ihr Anliegen kämpfen. Sie müssten aber Vorschläge unterbreiten, die nicht-diskriminierend seien.

Oder allgemein ausgedrückt: “Gefragt sind weder die Diktatur der Mehrheit, noch die Herrschaft der Richter, sondern die richtige Balance zwischen Demokratie und Menschenrechten. Sie zu realisieren, braucht Besonnenheit und Denken in grösseren Zusammenhängen”, sagt der Experte.

Mathematische Coolness und Verhandlungsgeschick: ein Porträt von Staatssekretär Michael Ambühl.

Die relative Bedeutungslosigkeit der Schweiz war lange Zeit ein Vorteil. Sie gilt als zu klein, um weh zu tun. Geht es aber ums Verteidigen von Schweizer Eigeninteressen, ist das Federgewicht ein Nachteil, schreibt die Hamburger “Zeit” in ihrer Schweizer Ausgabe dieser Woche. Aufhänger für den Befund ist ein Porträt von Matthias Ambühl der als Schwergewicht der Schweizer Diplomatie einen Ausgleich schaffen soll.

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Seit 27 Jahren ist Michael Ambühl im diplomatischen Dienst. Er wirkte in Kinshasa und Dehli, bevor er nach Brüssel entsandt wurde. Dort betreute er in verschiedenen Funktionen die Verhandlungen zu den Bilateralen. Zuerst war er für die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe zuständig, dann Chefunterhändler für die Bilateralen II. Dieser Erfolg brachte den damals 54jährigen 2005 an die Spitze der Schweizer Diplomatie.

Im Vordergrund steht er nicht; das sei die Aufgabe von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey, meint Ambühl. Trotzdem avancierte er 2009 zum führenden Krisenmanager der Schweizer Aussenbeziehungen. “Usain Bolt der Aussenpolitik” titelte ein Boulevard-Blatt, als es die viel gefragte Personen Ambühls vorstellte. In der Tat: Selbst an der 50-Jahr-Feier der Gründung der Schweizerischen Vereinigung für politische Wissenschaft in der Schweiz hielt der vielseitige Staatssekretär das Hauptreferat.

Die wichtigste Voraussetzung für sein Verhandlungsgeschick sieht Ambühl nebst der diplomatischen Ausbildung in seinen analytischen Fähigkeiten. Ausgebildet wurden sie beim an der ETH Zürich. Seine Doktorarbeit widmete er der Spieltheorie, die in Wirtschafts- und Politikwissenschaft für anhaltende Furore sorgt. Das Denken, Wollen und Handeln des Gegenüber vorwegnehmen zu können, bezeichnet er als seine Stärke. Doch darf diese Kompetenz nicht nur theoretisch ausgebildet sein. Sie muss sich auch in der Praxis bewähren. Dossierkenntnisse sind eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung, sagt der promovierte Mathematiker. Denn die Komplexität der Materie muss reduziert werden – auf das Verhandelbare. Am liebsten hat er es, wenn es dabei um eine Zahl geht. Der Rest sei dann Verhandlungspsychologie auf oberster Ebene.

Das bewies Staatssekretär Ambühl diesen Sommer, als es um das UBS-Abkommen zwischen der Schweiz und den USA ging. Die skeptischen Amerikaner gewann er für eine aussergerichtliche Lösung, indem er in der Sache den Schweizer Standpunkt vertrat, aber Nachverhandlungen zuliess, sofern die USA nicht bekomme, was sie erwarten durfte. Das wirkte und die Forderung nach Offenlegung von 52000 Datensätze verringerte sich auf die bekannten 4450 Fälle. Das war einer seiner Erfolge, aufgemuntert von Aussenministerin Calmy-Rey, die im per SMS unterstützte: “Ne lachez pas!”, schrieb sie dem Beharrlichen nach Washington.

2010 wird Ambühl die Arbeit nicht ausgehen. Denn nach dem Schweizer der Libyen-Mission von Hans-Rudolf Merz wurde er zum Chefunterhändler in Sachen Schweizer Geiseln in Tripolis ernannt. Grundsätzlich scheint er gleich rational wie immer vorgehen zu wollen. Und wie immer sind dazu die Medien ungeeignet. “Schreiben Sie, ich sei hier nicht sehr gesprächig”, sagt er dem staunenden Journalisten der “Zeit”. Und lacht.

Die Lektüre der politischen Wesen.

Rund 200’000 Besuche hatte dieses Blog 2009. Zirka doppelt so viele Seiten wurden dabei konsultiert. In einem Drittel der Fälle war es die jeweilige Hauptseite. Zwei Drittel der Besuche steuerten eine Rubrik an oder hatten einen der Beiträge zum Ziel.

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Entscheidend ifür die Nutzung eines Beitrags ist das allgemeine Google-Rating. Hinzu kommen Verlinkungen auf anderen Seiten. Sie bringen punktuellen traffic; gelegentlich bleiben die BesucherInnen länger hängen. Die regelmässige Kundschaft ist recht klein, dafür auch recht treu. Sie kommt im Wochenrhythmus ein- oder mehrmals vorbei, um das Neueste zu konsultieren. Diskussionen flackern leider nur dann auf, wenn tagesaktuellen Themen behandelt werden. Die Nutzung der Beiträge wird von Kommentaren nur beschränkt beeinflusst.

Wichtiger ist es hier, eine klare Themen-Nische auf dem Web besetzt zu haben, sodass die speziell Interessierten auf zoon politicon vorbei schauen kommen. Die verschiedenen Beiträge zur den Hochrechnung für die SRG sind ein typisches Beispiel dafür.

Was sonst noch häufig konsultiert wurde, zeigt die nachstehenden Zusammenstellung.

20 Beiträge, die 2009 am meisten aufgerufen wurden

1. Samuel Schmid im Tief oder Keine Volkswahl des Bundesrates (ca. 2500 Aufrufe 2009)
2. Meine top ten Liste Buchliste zur politischen Kommunikation (ca. 1900)
3. Sind wir Menschen alle ein rreemm? (ca. 1200)
4. Die Schweiz ist das 25. Land des Schengener Abkommens (ca. 800)
5. 13 Gründe warum Obama Präsident wird (ca. 700)
6. Politologie für die Zeitungslektüre (ca. 650)
7. Freiheiten und Demokratie weltweit vermessen (ca. 600)
8. Die Vorbereitung der Hochrechnung zu Personenfreizügigkeit (ca. 500)
9. Demokratie-Muster (ca. 500)
10. Boulevard-Demoskopie (ca. 500)

11. Hochrechnung von Abstimmungen (ca. 450)
12. Die gläsernen ParlamentarierInnen (ca. 450)
13. Hochrechnungen zum Abstimmungssonntag (ca. 400)
14. Das Tableau der Bundesratswahlen (ca. 400)
15. Warum Julia Onken für die Minarett-Initiative ist (ca. 400)
16. Reimann – der Zukunftstyp des nationalkonservativen Politikers (ca. 400)
17. Samuel Huntington, Autor von “Kampf der Kulturen”, verstorben (ca. 350)
18. Befürworter der Minarett-Initiative waren besonders mobilisiert (ca. 350)
19. Der grosse politische Kompass (ca. 350)
20. Anonyme Beamte, Journalisten und Politologen proben den Regierungssturz (ca. 350)

Wenn mein Wille, ein politisches Wesen zu sein, nicht nächlässt, gibt’s auch 2010 wieder zahlreiche Beiträge zu Themen, die einen Politikwissenschafter oder eine Politikwisenschafterin in der Praxis vielleicht etwas angehen oder von Nutzen sein können.

Es würde mich freuen, Sie und andere mehr weiterhin zu meinen LeserInnen zählen zu dürfen!

Was ist Volkssouveränität? – eine philosophische Antwort.

“Das Volk – was ist das?”, stellt sich in der heutigen NZZ am Sonntag der Zürcher Philosoph Georg Kohler als Frage, um die Antworten auf die Debatte über Volksentscheide nach der Minarett-Abstimmung zu finden. Volkssouveränität sei in erster Linie der Name für Verfahren, die dem Einzelnen zur grösstmöglichen Autonomie in einer liberalen Rechtsordnung verhelfen, folgert er.

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Georg Kohler, Professor für politische Philosophie an der Uni Zürich äussert sich zur laufenden Debatte über Demokratie und Recht, Volk und Souveränität

Für den politischen Philosophen ist die Volkssouveränität der grundlegendste Kriterium einer jeden Demokratie. Es beinhaltet zwei Vorstellungen: Entscheidungen dürfen keine andern Autorität zustehen, und sie müssen nach festen Regeln erfolgen. Denn Volkssouveränität verweist “einerseits auf die Geltung vorgeschriebener Prozeduren, anderseits auf ein durch die Zahl der Einzelentscheidungen erfasstes Stimmenverhältnis.”

Die generelle Gedanke muss gerade im Deutschen noch differenziert werden. Denn “das Volk” steht gleichzeitig für Demos, Ethnos und Natio. Die beiden letzteren Begriffe beinhalten nicht das Staatsvolk, sondern bezeichnen Kollektive mit gemeinsamer Abstammungsgeschichte. Ethnos ist der Stamm, und Demos sind die StimmbürgerInnen. Natio ist am komplexesten, denn die ursprüngliche Vorstellung ist dem Ethnos ähnlich, während heute reduziert Nationalität als Besitz des BürgerInnenrechts verstanden wird.

Da liegt nach Georg Kohler die Krux der Volksdefinitionen, die zwischen dem Stamm und dem Staatsvolk osziliere. Vorstellungen der Nation kippten rasch von Nationalität zu Nationalismus, die sich dann nicht mehr auf das Recht, sondern auf die Herkunft beziehen und den Bodensatz für Populismus liefern.

Demokratie, schliesst Kohler, beruhe auf der politischen Erkentnis, dass keine Entscheidung nicht mehr überbrückbare Spaltungen der Gesellschaft erzeugen solle. Im Rahmen der Verfassung sei darum jede demokratische Entscheidung revidierbar. Volkssouveränität “ist in erster Linie der Name für die Verfahren, die dem Einzelnen zur grösstmöglichen Autonomie in einer liberalen Rechtsordnung verhelfen.”

PS:
Der Artikel ist leider nicht auf dem Internet greifbar.

Volksrechte vs. Völkerrecht: zwei Initiativ-Ankündigungen polarisieren das Initiativrecht.

Zwei Wochen nach der Annahme der Minarett-Initiative in der Volksabstimmung wurden heute zwei neue Volksbegehren angekündigt. Staats- und Völkerrechtler schlagen eine “Toleranz-Initiative” vor, während SVP-Präsident Toni Brunner eine Initiative “gegen Beschneidung von Initiativen” in die Diskussion wirft.

Pro Völkerrecht: Toleranz-Initiative statt Minarett-Artikel
Gemäss “Sonntag” wollen die Rechtsprofessoren Jörg Paul Müller und Daniel Thürer einen «Toleranz-Artikel» in der Bundesverfassung verankern. Dieser soll die angenommene Minarett-Initiative ersetzen, um einem kritischen Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zuvorzukommen. Materiell vorgeschlagen werden:

● «Die Religionsgemeinschaften nehmen in ihrer Darstellung im öffentlichen Raum, etwa bei Gebäuden, Aufrufen, Kleidervorschriften für ihre Mitglieder oder Symbolen aufeinander und auf das Empfinden und das Wohl der übrigen Bevölkerung Rücksicht.»
● «Sie vermeiden ein bedrängendes Auftreten und tragen zu einem von Toleranz getragenen Zusammenleben bei. Sie fügen sich in ihrem Wirken in die Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft ein und respektieren die Menschenrechte aller.»

Damit nehme man die Anliegen der Minarett-Initiative auf, ohne diskriminierend zu sein. In den Worten der Verfasser: «Den Glaubensgemeinschaften wird Religionsfreiheit garantiert. Sie sind aber auch an die Grundsätze des demokratischen Zusammenlebens und an die Respektierung der Menschenrechte gebunden.»

Pro Volksrecht: Keine Beschneidung des Initiativrechts
Gemäss “Sonntagszeitung” reagierte die SVP direkt. Parteipräsident Toni Brunner plant man eine eigene Initiative gegen sämtliche Beschränkungen des Initiativrechts. Das Volk solle die bestehende Verfassung so revidiert, dass gar kein Volksbegehren mehr für ungültig erklärt werden könne.

Bei Annahme der Initiative ergäbe sich so eine Garantie, dass Abstimmungen über alle Fragen erlaubt seien, argumentiert Brunner. Allfällige Verstösse gegen zwingendes Völkerrecht wie das Folterverbot hält er für unproblematisch, da in einer funktionierenden Demokratie davon keine reale Gefahr ausgehe. Wichtig sei aber, dass man über sämtliche international relevanten Themen auch inskünftig abstimmen dürfe.

Die Polarisierung des Initiativrechts
Die Vorwürfe sind fast schon reziprok: Die einen beklagen das Aushebeln der Volksrechte, die anderen das Aushebeln des Völkerrechts. Die wachsende Polarisierung erfasst damit nicht nur die Sachfragen und die Repräsentanten der politischen Behörden. Sie greift immer deutlicher auch auf Institutionen über.

Noch sind beide Vorhaben erst im Stadium der Diskussion, denn vor einer Lancierung gilt es gewichtige Probleme zu lösen: Beim Club Helvetique, der gestern die Toleranz-Initiative diskutierte, hält man nebst der Lancierung einer Volksinitiative auch eine parlamentarische Initiative oder einen Vorstoss des Bundesrates für möglich. Beides würde ein abgekürztes Verfahren bringen, wäre demokratisch aber nicht gleich stark legitimiert wie eine Volksinitiative. Bei der SVP dürfte der angekündigte Kurswechsel zu diskutieren geben: Denn dem Vorteil bei internationalen Verträgen steht der Nachteil gegenüber, dass der Volkswille die Zulassung von Folter nicht mehr ausschliesst.

Was ist wichtiger: Volksrechte oder Völkerrecht?

“Menschenrecht Abstimmen” vs. “Abstimmung gegen Menschenrechte”?

Der “Tagi” bringt heute ein Streitgespräche zwischen Christoph Blocher und Andreas Gross, zwei überzeugten Direktdemokraten, die aus unterschiedlichen Positionen Volksentscheidungen für richtig halten und deshalb zu ganz anderen Konzepten von direkter Demokratie kommen.

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Links: Andreas Gross, rechts: Christoph Blocher

Es überrascht nicht, wenn im Nachgang zur Minarett-Abstimmung politische Spähne fliegen, und es auch nicht an persönlichen Unterstellungen mangelt. Reduziert man die Kontroverse zwischen alt Bundesrat Blocher und National- und Europarat Gross auf ihren sachlichen Kern, entsteht ein aussagekräftige Bild der Kontroverse über die direkte Demokratie, wie sie von aussen- und innenorientierten SchweizerInnen geführt wird. Hier das Dutzend Kernsätze, das bei mir nachhallte:

Andreas Gross, Politikwissenschafter, SP, National- und Europarat

“Ist ist das Wesen der Demokratie, dass sie offen ist. Man darf immer wieder auf demokratische Art auf das zurückkommen, was entschieden wurde. Denn es nicht sicher, dass sich die Mehrheit nie irrt.”
“Das Volk selbst hat in der neuen Bundesverfassung festgelegt, dass es Minderheiten und Grundrechte aller respektieren will.”
“1974, nachdem endlich das Frauenstimmrecht anerkannt wurde, konnten wir der Menschenrechtskonvention beitreten.”
“Ich plädiere dafür, dass wir künftig Initiativen auch auf den Kernbestand der Menschenrechtskonvention hin überprüfen.”
“Ich will die Demokratie nicht einschränken, aber menschenrechtskompatibel machen.”
“Der Menschrechtsgerichtshof schützt die Menschenrechte vor der Tyrannei von Mehrheiten.”

Christoph Blocher, Dr. iur., SVP, alt-Bundesrat und ehemaliger Justizminister der Schweiz

“Das Parlament masst sich an, zu sagen, worüber das Volk abstimmen darf. Und die Richter, dazu erst noch fremde Richter, sollen sagen, was sich umsetzen lässt und was nicht.”
“Wir haben eine klare Verfassungsbestimmung: Die Einheit der Materie und das zwingende Völkerrecht sind die einzigen Schranken für Volksinitiativen.”
“Den Despoten erkennt man bei einem für ihn negativen Volksentscheid. Der Demokrat hingegen sagt: Ich war dagegen, das Volk hat entschieden. Jetzt wird es umgesetzt.”
“In der Geschichte hat sich gezeigt, dass das Volk treuer zu Grundrechten und zur Demokratie stand als Verwaltungen und Parlamente.”
“Die Schweiz ist ein souveräner Staat. Sie muss nur zwingendes Völkerrecht einhalten.”
“Abstimmen ist für viele Bürger auch ein Menschenrecht.”

Wenn man von der Minarett-Abstimmung abstrahiert, erkennt man die Polarität. Für Christoph Blocher ist abstimmen ein Menschenrecht. Für Andreas Gross müssen Menschenrecht vor Abstimmungen geschützt werden.

Was nun gilt? Oder ist beides überzeichnet?

Minarett-Initianten errangen die Medienhoheit.

Die erste Analyse der Medienberichterstattung zur Minarett-Initiative liegt vor. Die Forschungsbereich für Oeffentlichkeit und Gesellschaft/Universität Zürich hat sie aufgrund eines Querschnitts von Medien im Print und elektronischen Bereich erstellt. Ihre generelle These ist: Vor dem Abstimmungssieg errangen die Minarett-Initianten die Medienhoheit.

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Die Islamisierung der Schweiz war das zentrale Thema der Medienberichterstattung, hält die heute publizierte Analyse zur Minarett-Initiative fest.

Erstens, der mediale Abstimmungskampf dauerte aufgrund der Aufmerksamkeit für das Thema rund 10 Wochen. Lanciert wurde er durch die Plakatkampagne einerseits, das Minarettspiel auf Internet anderseits. Die damit ausgelöste Provokationen sicherten den Befürwortern einen auch im Vergleich mit anderen Abstimmungem hohen Startvorteil. Ueberhaupt, kommt die Studie zum Schluss, kamen die Befürworter in den Medien mehr zum Zug als die Gegner. Drei Viertel aller zitierten Akteue stammen von ihrer Seite. Ihnen gelang es damit, das Verhältnis in der Medienpräsenz im Vergleich zum Abstimmungsverhältnis im Parlament genau umzukehren.

Zweitens, der Vorlageninhalt und die juristisch-ethischen Argumente der Gegner, die in den Behörden ausschlaggebend gewesen waren, dominierten die Mediendebatte nicht. Resonanzvorteile holten sich die Befürworter mit generellen Themen wie der schleichenden Islamisierung, dem islamistischen Terror und der Etablierung einer Parallelgesellschaft mit eigenem Schariarecht. So leiteten sich die überwiegend negativen Stereotypisierung des Islams ab. Die Pauschalisierung habe die Vielfalt muslimischer Strömungen befördert und den Konnex Angehöriger dieser Glaubensgemeinschaft mit radikalen Bewegung im Islam unterstützt. Muslime wurden so als fremd und mangelhaft integriert charakterisiert, was bedrohlich wirkte.

Drittens, die Kurzfassung der Studie stellt die Medienberichterstattung zur Initiative auch in einen zeitgeschichtlichen Rahmen. Ausgangspunkt ist der 11. September 2001. Erst damit ist die Präsenz von Muslimen in der Schweiz thematisiert worden. Die Initiativankündigung erfolgte während des Karikaturenstreits in Dänemark. In diesem Umfeld etablierte sich der Eindruck, Meinungsfreiheit werde sowohl durch den Islam wie auch durch die politischen Eliten bedroht. Während des Abstimmungskampfes verfestigte sich das Bild, einerseits durch die Präsenz der Talibans in Afghanistan und Pakistan, durch die Krise in den Beziehungen zwischen der Schweiz und Libyen.

Eine erste Bilanz
Stark quantitativ angelegt, erhellt der Bericht, dass im Abstimmungskampf eine fragmentierte Oeffentlichkeit entstand: Die Gegner und Befürworter kommunizierten jeweils aneinander vorbei. Dass dabei die Befürworter viel wirkungsvoller waren, war kein Vorteil für die Behörden, kann man daraus schliessen.

Beeinflussung vielfach vermutet, aber nie belegt.

Für PolitikerInnen ist bisweilen schnell alles klar: Umfragen, vor politischen Entscheidungen veröffentlicht, beeinflussen das Ergebnis. Die Wissenschaft nimmt das als Hypothesen auf und überprüft ihre Trifftigkeit. Dabei kommt sie zu anderen Schlüssen als der politische common sense.

Eine Zusammenstellung der diesbezüglichen Forschungsresultate hat jüngst Alexander Gallus, Politikwissenschafter und Professor an der Universität Rostok, der sich auf Demoskopiewirkungen spezialisiert hat, geliefert und sie zuhanden des Deutschen Bundestages resp. der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht.

Zunächst unterscheidet Gallus mögliche Beeinflussungsfelder; namentlich sind das die Beteiligung und die Entscheidung selber. Dann sichtet er Hypothesen, die hierzu entwickelt wurden. Speziell erwähnt er bei den Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung:

. Mobilisierungs-Effekte: Demnach förderten Umfragen, speziell bei unsicherem Ausgang, die Beteiligung an der Entscheidung.
. Defätismus-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Mobilisierung der veraussichtlichen Verlierer.
. Lethargie-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung der angenommenen Gewinner.
. Bequemlichkeits-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung von Unschlüssigen.

Bezogen auf die Auswirkungen auf die Entscheidfindung selber unterscheidet der Autor zwei Effekte:

. Bandwagon-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Gewinners.
. Underdog-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Verlierers.

Die Arbeitshypothesen lassen sich mit den Theorien des rationalen Wählens resp. mit Identifikationstheorien auch begründen. Doch, und das ist nach Ansicht von Gallus massgeblich, hat die bisherige Demoskopie-Forschung keine stichhaltigen Beweise für für die Trifftigkeit der Hypothesen liefern können. “Handfeste Belege für die Richtigkeit dieser Vermutungen konnten bislang freilich nicht erbracht werden”, fast er den Stand der Dinge zusammen. Das gelte, so der Autor, sowohl für die Beteiligung wie auch für die Entscheidungen selber.

In der Schweiz ist das nicht anders. Das bisher grösste Forschungsprojekt, das sich speziell mit Umfragen vor Abstimmungen beschäftigte, das auch mit Mitteln des Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde, kam zu einem Null-Ergebnis. Belegbar sind einseitige Auswirkungen auf die Meinungsbildung nicht.

Oder anders gesagt. Zu jedem Beispiel, das erwähnt nach der jüngsten Abstimmung erwähnt wird, gibt es ein Gegenbeispiel.

Befürworter der Minarett-Initiative waren besonders mobilisiert.

Viel spekuliert wurde dieser Tage über das Ergebnis zur Minarett-Initiative – und über die Zusammensetzung der beiden Lager. Peter Moser, Politanalyst des Statistischen Amtes des Kantons Zürich, hat nachgerechnet und bringt seine Ergebnisse auf den Punkt..

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Der Kanton Zürich stimmte bei der Minarett-Initiative ähnlich wie die Schweiz: 52 Prozent Ja zur Minarett-Initiative bei einer überdurchschnittlichen Beteiligung von 55 Prozent. Vier bemerkenswerte Ergebnisse fördert die heute veröffentlichte Studie auf Gemeindebasis zu Tage:

Erstens “Anteil Muslime”: Der Zusammenhang zwischen dem Anteil Muslime in einer Gemeinde und der Zustimmung zur Minarett-Initiative ist minimal.
Zweitens: “Weltanschauungen”: Die Zustimmung mit nationalkonservativer Grundhaltung war weit überdurchschnittlich; verworfen wurde sie in Kommunen mit progressiven Werthaltungen, seien sie sozial oder liberal ausgerichtet.
Drittens “Schicht”: In Gemeinden mit hohem Status war man gegen die Initiative, bei tiefem Status, kombiniert mit traditioneller Lebensweise, jedoch dafür. Abgelehnt wurde sie aber beim tiefen Status und individualisierte Lebensweise, wie es in den grossen Städte vorkommt.
Und viertens “Mobilisierung”: Die Mobilisierung war besonders in Gemeinden mit einem hohen Ja-Anteil zur Minarett-Initiative überdurchschnittlich.

Was heisst das zusammenhängend? Mobilisiert wurden vor allem die BefürworterInnen der Minarett-Initiative. Entscheidend hierfür war die weltanschauliche Ausrichtung der Wählerschaft in einer Gemeinde. Verstärkt wurde sie durch die Schicht. Der Nationalkonservatismus kennzeichnet das Ja, zudem ist es bei unterdurchschnittlichem sozialen Status verbreitet. Ob es in der Gemeinde Muslime hat oder nicht, erklärt das Stimmverhalten der Zellen der Zürcher Lokaldemokratien dagegen kaum.

Das ist keinesfalls als Relativierung des Volksentscheides zu werten. Es zeigt aber auch, wie der Mechanismus lief: Da Ja ist ein Protestvotum, das sich aus der Diskussion im Wahlkampf ergab. Es zeigt die andere Seite des Volksempfindes in der heutigen Situation. Das zeigte auch der Wahlkampf in den Zürcher Regierungsrat. Am Anfang brachte Daniel Jositsch mit seiner klaren Position gegen die Manarett-Initiative seinen zögerlichen Widersacher arg in die Bedrouille. Am Ende aber wurde Ernst Stocker, der Kandidat der SVP, von 55 Prozent der Teilnehmenden ZürcherInnen in die Kantonsregierung gewählt – mit nur unwesentlich mehr Ja-Stimmen als die Minarett-Initiative erreicht hat.