Volksabstimmungen sind kaum käuflich, sagt Forscher Hanspeter Kriesi

Es ist schon viel geschrieben worden zur Frage, ob der Ausgang von Volksabstimmungen in der Schweiz käuflich sei oder nicht. Jetzt gibt der Zürcher Politologe Hanspeter Kriesi eine neuartige Antwort und kommt zu differenzierten Schlüssen..

Die Kritik
“Ja” sagte Hans-Peter Hertig 1982, als er die Frage nach der Käuflichkeit von Abstimmungsergebnissen beantwortete. 1994 pflichtete ihm der Oekonom Silvio Borner bei. “Kaum” erwiderte ihnen Wolf Linder, als er die Studienbelege sah. Hanspeter Kriesi, der führende Zürcher Politologe, stellte sich bisher dazwischen. Generell sagte er nein zur Käuflichkeit von Abstimmungergebnissen, einen Einfluss des Geldes gegen die Regierungsposition hielt er aber für erwiesen.

Nun kritisiert Kriesi in der Festschrift zur Emeritierung von Wolf Linder alle bisherigen schweizerischen Untersuchungen hierzu. Seine eigenen nimmt er nicht aus. Denn die Ausgaben in Abstimmungskämpfen seien keine unabhängige, sondern eine selber abhängige Grösse. Das Mass, in dem in einen Abstimmungskampf investiert wird, hänge nämlich vom erwarteten Ausgang ab. Und dieser sei, vereinfacht gesagt, umso geringer, je gespaltener das Regierungslager ist. Das gelte besonders bei bei fakultativen Referenden, während es bei obligatorischen und Volksinitiativen weniger klar zu Tage tritt.

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Die Grafik zeigt erstmals die Ausgaben der Regierungs- und Oppositionsseite bei eidg. Volksabstimmungen in Funktion des erwartbaren Ergebnisses (Quelle: Kriesi)

Die Befunde
Mit dieser Erwartunghaltung kann Kriesi in einem ersten Schritt die Ausgaben in Abstimmungskämpfen untersuchen. Dabei zeigt sich, dass das Regierungslager meist etwas mehr ausgibt. Absolut am meisten investiert es, wenn Ausgänge zwischen 50 und 70 Prozent erwartet werden können. Das Oppositionslager steckt dann viel Geld in eine Kampagne, wenn es aus seiner Sicht mit einer Zustimmung von mindestens 40 Prozent rechnen kann.

Berücksichtigt man dieses unterschiedliche Investitionsverhalten, gilt nach Kriesi: Die Ausgaben der Gegnerschaft sind (unverändert) der beste, aber bei weitem nicht einzige Prädiktor für eine hohe Ablehnung der Regierungsposition. Jene der Befürworter sind der beste für eine hohe Zustimmung. Führt die Regierungsseite jedoch klar, nutzt sich der Effekt für das Regierungslagers ab. Das gilt auch, wenn die Ausgaben des Regierungslagers jene des Gegnerlagers deutlich übertreffen.

Diese geldbezogenen Einflussgrössen auf den Abstimmungsausgang müssen in einen erweiterten Kontext gestellt werden. Die Abstimmungskonstellation ist eine eigenständige Erklärungsgrösse. Der Stand des Regierungsvertrauens modelliert die Zustimmungswerte zusätzlich, während undurchsichtige Konsequenzen einer Vorlage ihre Befürwortung verringern.

Kommentare
Das “sparsame Modell”, wie es Kriesi nennt, erklärt nicht weniger als die Hälfte der Varianz in den 218 Abstimmungsergebnissen zwischen 1981 und 2006. Das hat ihn bewogen, sich ganz Wolf Linders Einschätzung zur Käuflichkeitsthese anzuschliessen. Zu behaupten, die eine oder andere Seite könne Abstimmungsresultate kaufen, erscheint ihm “ziemlich übertrieben”. Nicht ausschliessen will er aber, dass bei einem ganz knappen Resultat auch ein geringer Effekt letztlich ausschlaggebend sein kann.

Ohne Zweifel präsentiert Kriesi das differenziertes Untersuchungsdesign, das die Schweiz hierzu bisher gesehen hat. Der spieltheoretische Einwand, wonach die Chancen des Abstimmungssieges das Investitionsverhalten mitbestimmten und Auswirkungen auf das Verhalten der anderen Seite haben, trifft die Beobachtungen in der Praxis gut. Das gilt auch für jede Einbettung finanzieller Kennwerte in einen grösseren, politischen Zusammenhang.

Es bleibt aber die Frage, ob die Ermittlung des erwarteten Ausganges nicht zu theoretisch ausgefallen ist. Gut denkbar, dass das neue Modell noch verbessert werden kann, wenn man diese anhand von Umfragenwerten und Aktionsfähigkeiten der campaigner bestimmen würde.

Claude Longchamp

Hanspeter Kriesi: Sind Abstimmungsergebnisse käuflich?, in: Adrian Vatter, Frédéric Varone, Fritz Sager (Hg.): Demokratie als Leidenschaft. Festschrift für Wolf Linder zum 65. Geburtstag, Bern 2009, pp. 83-106.

Politikwissenschafterin gewinnt Wirtschaftsnobelpreis

Mit Elinor Ostrom gewinnt nicht nur erstmals eine Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Es erhält ihn, was selten genug ist, eine Vertreterin der Politikwissenschaft – und eine Forscherin, die sich für die nachhaltige Nutzung der Umwelt interessiert.

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Elinor Ostrom, Professorin für Politikwissenschaft und Trägerin des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften 2009

Elinor Ostrom habe die übliche Auffassung verändert, wonach Allgemeingüter schlecht verwaltet würden und deshalb entweder durch den Staat verwaltet oder privatisiert werden müssten, schreibt die Akademie der Schwedischen Wissenschaften in ihrer Mitteilung zur Preisverleihung. Gestützt auf zahlreiche Studien zu Alpweiden, Wäldern, Seen und Quellen sei sie zum überzeugenden Schluss gekommen, dass die Leistungen von Korporationen besser seien, als es in den gängigen Theorien vorhergesagt werde, weil sie entwickelte Mechanismen für Entscheidfindungen entwickeln würden, um Interessenkonflikte unter Wahrung der Ressourcen zu regeln. Zu den Beispielen, die Ostrom zur Untermauerung ihrer Theorie beizog, gehört auch die Walliser Gemeinde Törbel (bei Visp).

Die Geehrte ist 76jährig. Ihr Studium der Politikwissenschaft schloss sie 1954 ab; 11 Jahre später doktorierte sie. Seither wirkt sie als Professorin für Politikwissenschaft an der Indiana University in Bloomington. 1973 begründet Elinor Ostrom gemeinsam mit ihrem Mann Vincent Ostrom einen eigenen Workshop für Politische Theorie und Politikanalyse, der sich zum globalen Netzwerk für Studien zur Nutzung von Allgemeingütern entwickelte. Nach 1980 war sie die erste Frau, die in den USA einem Department für Politikwissenschaft vorstand. 1996/7 präsidierte sie auch die weltweit führende Fachvereinigung, die American Political Science Association.

Vielleicht ist es zeittypisch, dass 2009 nicht nur eine Frau den Nobelpreis gewinnt, sondern auch eine Politikwissenschafterin, welche die nachhaltige Nutzung der Oekologie mehr interessierte als die Möglichkeit des Staates oder des Marktes. Das ist mit Sicherheit sinnvoll!

Claude Longchamp

Ausgewählte Schriften:
Ostrom, Elinor (1990). Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. New York: Cambridge University Press.
Ostrom, Elinor (1992). Crafting Institutions for Self-Governing Irrigation Systems. San Francisco: Institute for Contemporary Studies.
Ostrom, E., Schroeder, L. & Wynne, S. (1993). Institutional Incentives and Sustainable Development: Infrastructure Policies in Perspective.
Boulder, CO: Westview Press.
Ostrom, E., Walker, J. & Gardner, R. (1994). Rules, Games, and Common-Pool Resources. Ann Arbor: University of Michigan Press.

Die Macht der Gewohnheit in Wahlinterpretationen

Kein Philosoph hat die Macht der Gewohnheit so kritisiert wie David Hume, der ihre Hinterfragung zum Ziel der Wissenschaft machte. Das sollten auch Erstinterpretationen von Wahlergebnissen nicht vergessen, in denen es von unbewiesenen Gemeinplätzen nur so strotzt.

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David Hume, 1711-1776, empfahl vor 250 Jahren, die Empirie den Denkgewohnheiten gegenüber zu setzen, um diese hinsichtlich ihrer Wahrheitsgehaltes zu überprüfen
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In Wahlanalysen besteht die Macht der Gewohntheit darin, jede Veränderung in der Zahl der Sitze als Wechsel der WählerInnen zwischen Gewinner- und Verliererparteien zu interpretieren.

Solange die Zahl der Sitze fix und die Wählenden bei zwei Wahlgängen identisch sind, mag das gehen. Doch unterscheidet die Wahlforschung schon längst zwischen dem Wechsel der Wahl einer Partei und die Wechsel der Teilnahme an Wahlen.

Lange tippten die Wahlanalytiker debb auch ohne vertiefte Untersuchungen auf das Wechselwählen, und sie bekamen durch die Forschung in der Regel recht. Denn bei sinkender Beteiligung verloren meist alle Parteien anteilsmässig gleich viel an die Nicht-WählerInnen, sodass die Effekte daraus vernachlässigt werden konnten. Doch seit rund 10 Jahren häufen sich Hinweise, dass dem nicht mehr so ist. Vor allem wenn die Gesamtbeteiligung steigt, ist die selektive Teilnahme an Wahlen wichtiger als das Wechselwählen, um die Veränderungen in den Parteistärken zu erklären.

Das hat eine Konsequenz: Eine Partei, die heute gewinnt, gewinnt vor allem, weil es ihr gelingt, im Wahlkampf bisherige Nicht-WählerInnen zu mobilisieren. Das ist umso wahrscheinlicher, als es sich um eine Protestpartei in der Opposition handelt. Und es ist auch wahrscheinlich, dass eine Partei aus der Regierung, die verliert, vorwiegend durch Abgänge zu den Nicht-Wählenden geschwächt wird.

Ich schreibe das bewusst am Tag nach den Genfer Parlamentswahlen. Und ich sage: Es ist gegen niemanden persönlich gewendet – gegen keine Journalistin und gegen keinen Politologen. Doch drängt sich mir heute die Frage auf, wie nach so vielen kantonalen Parlamentswahlen, die über die ohne auch nur halbwegs gesicherte Erkenntnisse mit der Macht der Gewohnheit argumentiert wird.

Die Politologen in der Schweiz trifft der Einwand doppelt. Denn im Ausland haben sich für die Erstanalyse von Wahlen Wählerströmanalysen etabliert. In Oesterreich gehört es zum Fernsehservice des Wahlabends. Und in Deutschland und Frankreich liegen solche Analyse auf der Basis von effektiven Wahlergebnissen in den Zählkreise oder aufgrund von Wahltagsbefragungen in den erstern Tagen nach der Wahl vor. Nur in der Schweiz haben sich gewisse Wahlforscher im Auftrag des BfS gegen diese Art der Analyse (aus dem Ausland) gestemmt, sodass wir Schweizer Insulaner Wahlinterpretationen meist ohne aufwendige und deshalb seltene Ueberprüfungsmöglichkeit hinnehmen müssen, selbst wenn sie weniger plausibel sind als Wahluntersuchungen mit gewissen Mängeln.

David Hume, der grosse britische Aufklärer, würde sich ärgern, wenn er das sehe. Denn als Erstes würde der alles bezweifeln, was nicht hinterfragt wurde, und als zweites würde er fragen, was, das wir nachprüfen können, spricht für die kommoden Interpretation. Meist nichts als der Wunsch, der die Spekulation nährt, würde er hinzufügen.

Claude Longchamp

Neues Phänomen in Genf: SVP wird rechts überholt

Noch liegen die definitiven Wahlergebnisse nicht vor, doch ist eines sicher: Die Genfer WählerInnen verschieben die Parteienlandschaft nach rechts. Siegerin ist das Mouvement Citoyens Genevois (MCG).

Tagesschau vom 11.10.2009

Nach den Hochrechnung des Kantons am späten Nachmittag kommt das MCG neu auf 17 Sitze. Es legt 8 Mandat und gut 7 Prozente unter den Wählenden zu. Die SVP, bisher stärkeste Rechtspartei im Genfer Kantonsparlament, verlor. Voraussichtlich hat sie noch 9 Sitze, zwei weniger als in der letzten Legislatur. Sie büsste auch rund ein Wählerprozent ein.

Grösste Partei im Kanton Genf bleiben die Liberalen. Für sie sieht die Hochrechnung noch 20 Sitze. Mit den 3 möglichen Verlusten wäre die LP auch die grösste Verliererin des Tages. Elektoral würde sie gut 2 Wählerprozente zurückgehen. Beschränkte Verluste zeichnen sich auch für die FDP ab, denn auch sie dürfte einen ihrer Dutzend Sitze verlieren; zudem weist sie eine negative WählerInnen-Entwicklung von rund 1 Prozent auf. Schmerzen dürfte sie, dass zwischenzeitlich die CVP in der Entende Bourgeoise, die sich halten könnte, vor ihr ganz knapp liegt.

Zu einem Positionstausch kommt es auch auf im linken Spektrum. Erstmals sind die Grünen, neben dem MCG der zweite Sieger des Tages, die stärkste Partei links der Mitte. Sie gewinnen zwar nur 1 Mandat hinzu und verbessern sich auch nur um 1 Prozent. Doch verliert die SP zwei Mandate und wohl auch 2 Prozent an WählerInnen. Kein Durchbruch scheint der äusseren Linken zu gelingen. Anders als vor vier Jahren traten diesmal Solidarité und der Partei du Travail gemeinsam an, scheiterten aber auch so knapp an der 7 Prozent-Hürde, die es für den Einzug ins Genfer Kantonsparlament braucht. Gleiches gilt auch für die Rentnerpartei, geführt von ehemals links Exponenten, die mit 5 Prozent WählerInnen-Anteil ausserhalb des Grossen Rates bleibt.

Der grosse Sieg der rechtspopulistischen Mouvement Citoyens Genevois findet 2009 bei einer gesteigerten Wahlbeteiligung statt, die knapp über 40 Prozent liegen dürfte. Verliererin ist die bürgerliche Entende. Klarer noch als bisher verfehlt sie die Mehrheit im Parlament, sodass sie auf Stimmen links angewiesen ist, um zu regieren.

Aus nationaler Sicht sind die Veränderungen auf der rechten Seite bemerkenswert. Es gewinnt, wer Stimmung gegen GrenzgängerInnen macht und diese verbal diffamiert. Ihr Präsident, Eric Stauffer, hatte schon im Frühjahr 2009 darüber nachgedacht, eine neue Partei rechts der SVP zu gründen. Die Veränderungen, die er nun im Kanton Genf erzielte, sind erheblich. Es siegt eine Partei mit den Mitteln, die bisher von der SVP verwendet wurden – und deklassiert damit auch die kantonale SVP – zwischen Opposition und bürgerlichem Anschluss hin und her gerissen.

Claude Longchamp

Der schweizerische Nationalkonservatismus in der Gestalt der SVP

Die vierte Zürcher Vorlesung zur Wahlforschung war der Entstehung und Transformation von Parteiensystemen in Europa gewidmet. Mit Bezug auf die schweizerische Gegenwart war der Nationalkonservatismus ein zentrale Thema, das von der politischen Philosophie wie auch der massenmedialen Publizistik mehr behandelt wurde als von der Politikwissenschaft.

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Nationkonservatismus wird meist als Sammelbegriff für verschiedene politische und gesellschaftliche Bewegungen innerhalb des Konservatismus verwendet. Ihren gemeinsamen Kern haben sie im Streben nach einem unabhängigen Nationalstaat, und ihr wichtigster politischer Programmpunkt ist die Ablehnung der Einwanderung.

Parteipolitisch gesehen ist der Nationalkonservatismus verschiedenerorts zu Hause: bei den amerikanischen Republikanern und bei den britischen Tories findet man ihn. Ohne Zweifel hat er gerade im alpinen Raum breiten Rückhalt. Das gilt etwa für die österreichische BZOe, die (vormalige) italienische Alleanza nazionale und die Schweizerische Volkspartei. Anti-europäische Haltungen sind gerade in diesen Parteien stark verankert; nationale oder regionale Identitäten werden von Nationalkonservativen als wichtigste Barrieren gegen supra- und internationale Organisationen gesehen, die mit der zugelassenen Migration die Eigenheiten der nationalen und regionalen Kulturen bedrohen. Nicht selten geht der Nationalkonservatismus Verbindungen zu religiösen Strömungen ein, welche die christlichen Werte der westlichen Gesellschaft verteidigen. Gerne kennt er auch Schriftstellern und Intellektuellen Anhänger.

Selber verwende ich den Begriff seit den Wahlen 1999 um die weltanschauliche Entwicklung der SVP zu charakterisieren. Themen wie die Ueberfremdung der Schweiz, der schleichende EU-Beitritt, Probleme im Asylwesen und Missbräuche in den Sozialversicherungen haben der ehemaligen Mittelstandspartei eine neue Identität gegeben, Wahlsiege und Macht gebracht, konservativen Gesellschaftsvorstellungen Auftrieb verliehen und den politischen Stil in der Schweiz durch einen anhaltenden Rechtspopulismus verändert.

Diese Perspektive bevorzuge ich gegenüber der des (alpinen) Rechtsextremismus resp. des Rechtsautoritarismus. Zwar zeigen sich Elemente, wie sie etwa Herbert Kitschelt für die Analyse neuer Strömungen im Parteiensystem herausgearbeitet habt, auch innerhalb der SVP. Und es ist unbestritten, dass sich die SVP als Gegenpol zu linkslibertären Strömungen versteht, wie es Kitschelt in seiner Erweiterung der klassischen Links/Rechts-Achse durch Weltanschauungen herausgearbeitet hat, die für die Gewinner und Verlierer des Globalisierungsprozesses typisch sind.

Doch verstellt die Rechtsextremismus-Analyse den Blick auf das Entscheidende an der Transformation der SVP. Denn anders als der Rechtsextremimus, der durch seine Programmatik in der Regel nur Aussenseiter und Minderheiten anspricht, ist der Nationalkonservatismus eine populäre Strömung innerhalb der Wählerschaft, die sich in einer breiten Unterstützung einer restriktiven Asylpolitik ausdrückt, die den Patriotismus bürgerlicher Parteien kontert und die namhafte Teil der Unterschichten anspricht. Typischer als antidemokratische Haltungen der Rechtsextremen sind bei der SVP zudem staatskritische Positionen aufgrund der propagierten Eigenverantwortung und geforderten Steuersenkungen, die eher dem liberalkonservativen Spektrum zuzurechnen sind.

Zu den Eigenheiten der SVP gehört aber, dass sie sich gegen politischen Bewegungen zwischen dem Nationalkonservatismus einerseits, dem Rechtsextremismus anderseits offen erweist, um das Entstehen einer Partei rechts von ihr zu verhindern. Das ergibt sich aus der Grösse und Funktion der Partei, die zwischenzeitlich am meisten Wählende in der Schweiz hat und die – anders als die Republikaner in den 70er Jahren – für sich beanspruchen kann, das rechtskonservative Spektrum alleine abzudecken.

Claude Longchamp

Literatur:

Analysen des Nationalkonservatismus in der Schweiz
Claude Longchamp (2000): Die nationalkonservative Revolte in der Gestalt der SVP. Eine Analyse der Nationalratswahlen 1999 in der Schweiz, in: Fritz Plasser/Peter A. Ulram/Franz Sommer (Hg.): Das österreichische Wahlverhalten. Wien: WUV, 393-423
Hanspeter Kriesi (u.a.) 2005: Der Aufstieg der SVP. Acht Kantone im Vergleich, Zürich: NZZ-Verlag

Vergleichende Analysen des Rechtspopulismus
Hans-Georg Betz 2001: Exclusionary Populism in Austria, Italy, and Switzerland, in: International Journal 56: 393-420
Oscar Mazzoleni: Nationalisme et populisme en Suisse. La radicalisation de la ‘nouvelle’ UDC. Lausanne 2003

Vergleichende Analysen des alpinen Rechtsradikalismus

Anthony J. McGann/Herbert Kitschelt 2005: The Radical Right in the Alps. Evolution of Support for the Swiss SVP and Austrian FPÖ, in: Party Politics 2/2005: 147-171

Mehrheit lehnt Minarett-Initiative ab

35 Prozent dafür, 51 Prozent dagegen. Das ist das Hauptergebnis einer Repräsentativ-Befragung von Isopublic für den Tages-Anzeiger, die heute abend in der online-Ausgabe erschienen ist.

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Quelle: newsnetz.ch

Mehrheiten für die Initiative gibt es nur an der Basis der SVP. 52 Prozent sind hier dafür, 37 Prozent dagegen. Ueber dem Mittel ist die Zustimmungsbereitschaft bei den Menschen mit einer anderen Konfession resp. bei konfessionslosen BürgerInnen. Hinzu kommt eine leicht überdurchschnittliche Ja-Tendenz bei den Frauen. Doch überwiegt auch hier das Nein. Am klarsten gegen die Initiative eingestellt sind die SP-WählerInnen, gefolgt von jenen der FDP und den Männern. Bei Katholiken wie Reformierten resultieren Nein-Mehrheiten.

Der “Tages-Anzeiger” wertet das Ganze in der online-Ausgabe als “knapp”. Man kann das auch anders sehen, denn bei Initiativen ist es zwar nicht ausgeschlossen, aber wenig wahrscheinlich, dass eine Nein-Mehrheit ins Gegenteil kippt. In der Regel sind Unschlüssige zu Beginn eines Abstimmungskampfes eher spätere GegnerInnen. Ob eine Ausnahme vorliegt, wissen wir nicht mit Sicherheit. Dagegen spricht, dass das bereits die zweite Befragung von Isopublic ist, welche eine Nein-Mehrheit ausweist. Eine erste, für die reformierte Kirche, zeigte noch 37 Prozent auf der Ja-Seite und erst 49 Prozent im Nein-Lager. Trotz der leicht höheren Zustimmung titelten die Medien damals: Mehrheit dagegen.

Claude Longchamp

Von der Schwierigkeit, in der Schweiz Intellektuelle zu identifizieren

Die Schweiz befinde sich im kollektiven Dauerschock, befand Adolf Muschg jüngst in der Schweizer Ausgabe der “Zeit”. Gemeint waren die Einwürfe des Auslandes an die Adresse der Schweiz, denen niemand etwas entgegenzusetzen habe. Nicht einmal die Intellektuellen, die sich in nationaler Selbstgeisselung bescheiden würden.

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Georges Clemenceau, französischer Journalist, Politiker, Staatsmann. Seine Fähigkeit, in Unabhängigkeit zu intervenieren, wo die Oeffentlichkeit versagte, machte ihn zum Ur-Typ des Intellektuellen in der Moderne.

Nun sticht der Tages-Anzeiger ins Wespennest. Nominiert hat er 20 Top-Shots des kritischen Denkens, das in der Oeffentlichkeit stattfindet, um das Selbstbewusstsein einer Nation klüger zu machen und durch Debatten weiter zu entwickeln. Schriftsteller sind dabei, Publizisten und Journalisten auch. Es hat Soziologen, Oekonomen, Historiker und Theologen. Alles Männer. Bis auf zwei Sprachwissenschafterinnen. Ueberhaupt, kein(e) einzige(r) KünstlerIn ist dabei, unseren Filmemachern, Aktionistinnen und Architketen zum Trotz.

Die Online-Radaktion spitzt die Sache noch zu: Wer ist der/die Wichtigste fragt sie, und lässt die LeserInnen mitbestimmen. “Wählen Sie aus unseren Top 20 die allergrösste Schweizer Geistesgrösse”, wird da in Aussicht gestellt. Zur Auswahl stehen:

Bärfuss, Lukas, Autor
Binswanger Daniel, Kolumnist
Bronfen, Elisabeth, Anglistin
Caduff, Corina, Germanistin
Frey, Bruno S., Oekonom

Held, Thomas, Soziologe
Imhof, Kurt, Soziologe
Jost, Hans-Ulrich, Historiker
Kapeller, Beat, Publizist
Koch, Kurt, Bischof

Köppel, Roger, Verleger
Küng, Hans, Theologe
von Matt, Peter, Germanist
Meyer, Martin, Journalist
Muschg Adolf, Schriftsteller

Sarasin, Philipp, Historiker
Schwarz, Gerhard, Journalist
Strahm Rudolf, Oekonom
de Weck, Roger, Publizist
Ziegler, Jean, Soziologe

Leider, muss man beifügen, ist die Liste unvollständig: Nicht, dass der eine oder die andere, den oder die man erwartet hätte, fehlen würde. Darum geht es mir nicht. Doch es sind nur Personen aus der deutschsprachigen Schweiz nominiert worden. Die Romand(e)s sind mitgemeint, mit zwei Deutschsprachigen, die in die französischsprachige Schweiz gingen. Auch die TessinerInnen sind abwesend. Ganz zu schweigen von den Rätoromanen. Lebt Iso Camartin gar nicht mehr, frag’ich da?

Wäre nicht gerade das ein Kriterium für eine(n) wichtige(n) Intellektuelle(n) in der Schweiz, dass er oder sie die Denkströmungen in allen Sprachkulturen kennt, dass man sich in ihnen bewegt und sie beeinflusst? Klug sein ist das eine, streitbar sein das anderes. Doch in einer Gesellschaft verankert sein, und ihre Werte zum Sprechen zu bringen, ist das wichtigste für Intellektuelle.

Oder haben unsere Kritiker doch recht, die meinen, man könne die Schweiz ohne Verlust dreiteilen und den Nachbarn angliedern, denn ausser Roger Federer als Identitätsstifter hätten die SchweizerInnen keine Gemeinsamkeiten mehr?

Claude Longchamp

Volkswahl des Bundesrates: vermehrte Blockbildungen zu erwarten

“Volkswahl des Bundesrates” tönt gut. Denn so drückt sich der Volkswille bei der Bestellung der Schweizer Regierung unvermittelt aus. Denkt man jedenfalls. Doch die Erfahrung lehrt: Es kommt auf das Kleingedruckte an.

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Die angekündigte Volksinitiative zur “Volkswahl des Bundesrates” ist für die Politologen eine reizvolle Denkaufgabe. Institutionalisten sind herausgefordert, über die Wirkungen der Neuerung nachzudenken.

Das Berner Modell
Das Modell, das die SVP am Samstag für ihre Initiative zugunsten einer Volkswahl des Bundesrates gewählt hat, lehnt sich eng an das bestehende im Kanton Bern an. Gewählt wird nach dem (gemässigten) Majorzverfahren, mit einer Sitzgarantie für die Sprachminderheiten. Die Berner Erfahrungen legen nahe, dass die Wahlchancen von Parteien und KandidatInnen je nach Ausgestaltung unterschiedlich ausfallen. Im Wesentlichen kommt es auf zwei Faktoren an:

Erstens, sind vorgedruckte Wahlzettel erlaubt oder nicht? Und:
Zweitens, gehen die Parteien Allianzen ein oder nicht?

Kombiniert kann man drei Szenarien unterscheiden, deren Auswirkungen hier kurz besprochen seien:

Szenario 1: Vorgedruckte Wahlzettel, gemeinsamer Vorschlag der Regierungsparteien
Voraussetzung hierfür ist, dass sich die Regierungsparteien einig sind, wer dazu gehört und wer auf wieviele Sitze Anspruch hat. Als Masstab hierzu könnte der WählerInnen-Anteil bei der jüngsten Nationalratswahlen dienen oder die Sitzzahl unter der Bundeskuppel. Können sich die Regeirungsparteien darüber hinaus auch auf die geeignetsten KandidatInnen einigen, unterbreiten sie den WählerInnen einen gemeinsamen Siebnervorschlag. Nicht auszuschliessen ist, dass sich auch Aussenseiter bewerben, ohne aber grosse Wahlchancen zu haben. Formell kommt es damit zwar zur Volkswahl des Bundesrates, doch ist es im Wesentlichen eine Bestätigung des stillschweigend eingegangene Proporzes. Gegenüber dem Status quo ändert sich nicht viel. Wahrscheinlich ist ein solches Szenario bei parteipolitischer Polarisierung nicht.

Szenario 2: Vorgedruckte Wahlzettel, mit mindestens zwei Blöcken

Vor allem dann, wenn es keine allgemein anerkannten Regeln gibt, auf welche Parteien und in welchem Masse die sieben Sitze zu verteilen sind, ist bei einer Volkswahl mit einer beschränkten Konkurrenzsituation zu rechnen. Zu erwarten ist ein linker Block, voraussichtlich aus SP und Grünen bestehend, ein rechter, der SVP und FDP umfassen dürfte, sowie ein Zentrumsblock mit CVP und kleinen Parteien. Jeder Block stellt Ansprüche, die über den eigenen Wähleranteile hinausgehen. Gegenwärtig könnten das vier oder fünf rechte Kandidaturen sein, zwei oder drei aus der Mitte und zwei oder drei von links. Damit kommt es zum Parteien- und KandidatInnen-Wettbewerb.Dieses Szenario ist in der gegenwärtigen Situation am wahrscheinlichsten, garantiert aber keine parteipolitische Stabilität, wie die Wahlen in kantonale Regierungen zeigen. Tendenziell bevorteilt es den stärksten Block, voraussichtlich die SVP mit der FDP.

Szenario 3: Keine vorgedruckten Wahlzettel; jede(r) gegen jede(n)

Die dritte Variante leuchtet unter dem Stichwort “Volkswahl” auf den ersten Blick am meisten ein. Demnach wären, wie das im Kanton Bern 2010 erstmals auch der Fall sein wird, vorgedruckte Wahlzettel nicht erlaubt. Allianzbildung zwischen den Parteien sind dann weniger wichtig, weil sie die Aussichten der eigenen KandidatInnen schmälern. Selbst wenn man sich formell gegenseitig empfiehlt, gibt es ohne vorgedruckte Wahlzettel nämlich keine Garantie, dass man übers Kreuz auf die KandidatInnen anderer Parteien wählt. Doch hat auch dieses Szenario zwei Nachteile: Einerseits sind die Amtsinhaber begünstigt; anderseits können sich neue BewerberInnen nur mit landesweiten Wahlkampagnen durchsetzen. Die Werbeausgaben einerseits, die Medienberichterstattung anderseits bestimmen die Wahlchancen in erheblichem Masse mit. Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios halte ich für mittel, geringer ist es, dass die sinnvollste Einschränkung, die Amtszeitlimitierung, beispielsweise auf 8 Jahre, gleichzeitig eingeführt wird.

Erste Bilanz
Kurz gesagt: Bei einer Annahme der “Volkswahl für den Bundesrat” ist damit zu rechnen, dass vorgedruckte Wahlzettel möglich sind, es zur verschärften Blockbildung innerhalb der Regierungslager kommt, der Wettbewerb unter ihnen verstärkt wird und die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates floaten wird. Bevorteilt ist dabei der stärkste Block, und innerhalb dieses die stärkste Partei. Politische Stabilität auf der Basis der Konkordanz wird leiden. Als Varianten kommen reine Bestätigungswahlen in Frage, allenfalls auch der Durchstart zu Bundesratswahlen mit eigentlichen Wahlkämpfen à la américain. Oder noch klarer: In keinem zu erwartenden Fall wird die Parteienmacht gebrochen, allenfalls durch die Medienmacht ergänzt.

Claude Longchamp

Kollegium der Regierung und Diversität des Landes sprechen gegen die Volkswahl

Warum sich Volkswahl des Bundesrates und das System der Konkordanz schlecht vertragen. Eine Replik auf die eben lancierte Volksinitiative.

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Bundesratswahlen in der Schweiz sind mehr als ein Entscheid per Maus-Click, findet die Ueberzahl der PolitikerInnen und Polit-WissenschafterInnen

Alt-Bundesrat Christoph Blocher und alt Nationalratspräsident André Bugnon widersprachen sich am Samstag, als es an der SVP-Delegiertenversammlung darum ging, die Modalitäten der Initiative für eine Volkswahl des Bundesrates zu bereinigen. Der Waadtländer befürwortete das Proporzverfahren mit der Begründung: “Wir dürfen nicht Angst haben vor unserem eigenen Erfolg.” Den siegreichen Gegenstandpunkt vertrat der Zürcher mit dem Argument, dass “damit endlich Persönlichkeiten und nicht mehr Parteiprogramme in den Bundesrat gewählt werden”.

Die Kontroverse entbehrt nicht der Ironie, wenn man sich erinnert, wie die SVP ihr eigenwilliges partei- und fraktionsinternes Auswahlverfahren für linientreue Bewerber begründet. Denn es geht ihr gegen alle Widerstände nur darum, dass die Positionen der Partei in der Bundesregierung “lupenrein” vertreten werden; halbe Bundesräte sind nicht die Sache der SVP.

Doch das ist gar nicht der Punkt meines Beitrags. Denn in den Kommentaren zum Nebenschauplatz “Wahlverfahren” ist die Würdigung des Hauptsachverhaltes “Volkswahl” bisweilen untergegangen. Ganz anders als dies in Behörden und Wissenschaft der Fall ist, die im Zusammenhang mit der Staatsleitungsreform die Frage gründlich behandelt haben und dabei in der überwiegenden Zahl zu einem negativen Schluss gekommen sind.

Die Botschaft des Bundesrates nennt hierzu drei generelle Argumente:

Erstens, die verschiedenen Kriterien wie Zugehörigkeit zu Partei, Sprache, Landesteile und Geschlecht können nicht mehr umfassend einbezogen und zeitgemäss weiterentwickelt werden. Faktisch würde mit der vorgeschlagenen Version die labile Balance zwischen allem mit der doppelten Sitzgarantie für die Lateiner geregelt.

Zweitens, insbesondere die Einzelwahl der BundesrätInnen weicht das Prinzip der Kollegialbehörde weiter auf. Angesichts der Diversität des Landes, die höher ist als jene der Kantone, ist das nicht noch zu fördern. Faktisch ist damit zu rechnen, dass gerade amtierende Bundesräte mit dem Portfolio ihre Departementes Wahlkampf führen würden, während vielerorts verlangte Gesamtsicht in den Hintergrund geriete.

Drittens, schliesslich wird mit einem vermehrten Einfluss der Medien auf die Politik gerechnet, die sich an der Personalisierung bereits heute festmachen lässt, was die Kommunikation erleichtert, aber nicht immer zu einer sachorientierten Politik beiträgt. Zu befürchten ist, dass die Gesetze der Medien noch mehr als heute jene der Politik bestimmen würden.

Mit Didier Burkhalter, könnte man beifügen, hat die Bundesversammlung jüngst den Zeiger in die diametrale Richtung zur SVP-Initiative gestellt. Gewählt wurde mit ihm nicht nur der Repräsentant der Romandie, sondern auch der überzeugte Vertreter der Konkordanz und der Anti-Held der Medien.

Claude Longchamp

Zur Verortung von Grundlagen- und Anwendungsforschung in den Sozialwissenschaften

Die heutige dritte Vorlesung an der Universität Zürich zur Wahlforschung war der Wissenschaftstheorie und -praxis gewidmet. Dabei stellte ich ein Schema vor, das ich speziell zur Verortung von Grundlagen- und Anwendungsforschung in den Sozialwissenschaften entwickelt habe.

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Karl Popper Wissenschaftstheorie bildet den Ausgangspunkt. Wirklichkeit und Wissenschaft werden getrennt. Wissenschaft ist der Wahrheitssuche verpflichtet. Dabei nähert sie sich der Realität heuristisch an. In dieser Phase müssen fehlerhafte Beobachtungen und widersprüchliche Konsequenzen ausgeschlossen werden. Was sich darüber hinaus bewährt, wird verallgemeinert. Etablierte Theorien zeichnen sich dadurchaus, dass sie in der Regel Ableitungen zulassen, die Prognosen liefern, welche mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

Doch bin ich nicht bei der klassischen Zweiteilung von Induktion und Deduktion stehen geblieben. Vielmehr habe ich die Logik der Forschung nach dem deutschen Soziologen Volker Dreier viergeteilt, der die Wissenschaftspraxis untersucht hat. Demnach kommen die Konstruktion und Reduktion hinzu. Denn die Beobachtung der Forschung selber zeigt, dass die Induktion nur zu brauchbaren Hypothesen führt, auf denen eigentliche Theorien konstruiert werden müssen. Und die Deduktionen sind selten so trennschaf, dass sie ohne Reduktionen der entwickelten Vielfältigkeit zu eindeutigen Ergebnissen führen. Das Erste ist eine Präzisierung der Arbeit in der Grundlagenforschung, das zweite in der Anwendungsforschung.

Damit bin ich beim eigentlichen Zweck des Schema. Die Grundlagenforschung, meist von akademischen ForscherInnen betrieben, beschäftigt sich vor allem mit der Entwicklung von Theorien. Dabei setzt sich zunächst auf die Falsifikation von Irrtümern, zusehens aber auf die Bestätigung und Verfeinerung von an sich bewährten Hypothesen. Minimales Ziel ist die Erklärung von bestehenden Sachverhalten, maximales die Prognose neuer Zustände oder Trends. Die Anwendungsforschung übernimmt diese zwei Operationen, erweitert sich aber durch zwei andere Kompetenzen: die Beschreibung des Ist-Zustandes einerseits, die Deutung dessen, was ist anderseits. Beides kommt dann zum Zug, wenn es um Realitätsausschnitte geht, für die noch keine gesicherten Theorien bestehen. Das ist so, ob ausseruniversitäre oder universitäre WissenschafterInnen angewandt forschen.

Claude Longchamp