Nun beginnt das Rechnen!

Die Fraktionen in der Schweizerischen Bundesversammlungen haben sich festgelegt, wie sie bei der Bundesrtatswahl von morgen stimmen wollen. Wenigstens anfänglich, denn danach bleiben gewisse der Szenarien aktuell. Massgeblich ist der dritte Umgang.

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Die Ausgangslage in den Fraktionen
59 Mitglieder der SVP-Fraktion wollen für den FDP-Kandidaten Christian Lüscher stimmen. 2 sind für Didier Burkhalter. Von 4 VertreterInnen weiss man nichts.

Bei der CVP ist die Sache klar. Fraktionschef Urs Schwaller wurde einstimmig nominiert. Gibt es keine Abtrünnigen unter GLP und EVP, hat er 52 Stimmen auf sicher.

Bei der SP-Fraktion sind 25 Mitglieder für den CVP-Kandidaten Urs Schwaller, und 15 für den FDPler Didier Burkhalter. Von 10 Personen weiss man nichts, und 1 Sitz ist vakant. Generell hat man sich ausgesprochen, offizielle Kandidaten zu unterstützen.

Nicht eindeutig ist das Verhalten der FDP-Fraktion. Didier Burkhalter ist der Favorit der Fraktion. Christian Lüscher ist der Aussenseiter. Doch beide sind sie KandidatInnen. Damit können die FDP-Mitglieder von Beginn weg ihre individuellen Präferenzen ausdrücken oder auch taktisch stimmen. Und genau darauf kommt es an!

Die Grünen haben die Stimmenverhältnisse in der Fraktion nicht bekannt gegeben. Eine Mehrheit will aber den CVP-Vertreter Urs Schwaller unterstützen. Minderheiten sind für Didier Burkhalter resp. für Dicky Marty. Damit hat Schwaller wohl ein gutes Dutzend grüne Stimmen auf sicher, Burkhalter und Marty wohl ungefähr 5.

Die BDP gab ebenfalls nicht bekannt, wie sich die Stimmen verteilen. Doch ist eine Mehrheit für Burkhalter, eine Minderheit fü Schwaller. Das tönt nach 4:2.

Die Rechnungen
Damit kann man mit rechnen beginnen. Im ersten Wahlgang dürfte Urs Schwaller vorne liegen. Er kann auf 90 bis 100 Stimmen zählen. Wer an zweiter Stelle ist, hängt allein vom Entscheid der FDP-ParlamentarierInnen ab. Setzen alle auf Burkhalter kommt er auf rund 75 Stimmen, und Lüscher macht rund 60. Teilen sich die Stimmen auf, kann Lüscher mit rund 80 Stimmen rechnen, Burkhalter mit 55. Marty dürfte deutlich dahinter liegen. 5, maximal 15 Stimmen sind denkbar. In den ersten beiden Runden ist gut möglich, dass Lüscher vor Burkhalter liegt, um die Karten nicht ganz aufzudecken.

Unter dieser Voraussetzung ist ein Vorschlag von Jean-François Rime aus den Reihen der SVP wenig wahrscheinlich. Denn damit ist nur zu rechnen, sollte es aus dem rotgrünen Lager viele Stimmen für Marty geben, sodass die FDP gezwungen werden könnte, umzuschwenken.

Der dritte Wahlgang ist entscheidend. Es können keine neuen Namen ins Spiel gebracht werden, und es beginnt ein Ausscheidugnsrennen nach hinten. Das ist der grosse Moment für die FDP: Wenn sie geschlossen auf Burkhalter setzt, ist er der Favorit für den Schlussgang, wenn nicht, steht Lüscher im Finale. Die FDP hat es also in der Hand, mit einer Stallorder den Blinker zu stellen.

Die einzige Möglichkeit, das zu unterlaufen: Einige Schwaller-Wählende leihen in diesem Moment Lüscher vorübergehend die Stimme, damit er vor Burkhalter liegt. Dann wenden sie sich aber von Lüscher weider ab.


Die verbleibenden Szenarien

Lüscher dürfte keine Stimme aus den Reihen von CVP, SP und Grünen erhalten. Steht er Schwaller gegenüber, dürfte der gewählt sein, denn bräuchte erhebliche Stimmenhaltungen bei Grünen und SP, dass Lüscher mit seinen Stimmen vorne liegen würde.

Ist dagegen Burkhalter im Schlussgang, kostet das Schwaller möglicherweise 20 Stimmen. Genau die, die es ausmachen, wer Bundesrat wird. Ausser etwa soviele in Reihen wissen nicht, wie man Burkhalter schreibt und legen leer ein …

Claude Longchamp

Umfragen zu politischen Parteien im Vergleich

Mit nur kurzem Abstand erschienen in der Schweiz zwei Repräsentativ-Befragungen zu den aktuellen Parteistärken: Zeit einen Vergleich anzustellen und die Charakteristiken der Umfragen zu benennen!

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Vor gut einer Woche erschien das “Wahlbarometer” der SRG SSR idée suisse Medien. Heute publizierten die Sonntagszeitung und Le Matin ihren “Parteienbarometer”. Dieser basiert auf einer repräsentativen Auswahl von 1002 Wahlberechtigten, die zwischen den 27. August und 10. September 2009 von Isopublic befragt wurden. Demgegenüber interviewte das Forschungsinstitut gfs.bern zwischen dem 10. und 22. August 2035 Wahlberechtigte, um das Wahlbarometer zu erstellen.

Die Reihenfolge der Parteien ist in beiden Untersuchungen gleich. Am generellen Gefüge der politischen Parteien in der Schweiz hat sich seit 2007 nichts verändert. Die Prozentwerte der Parteien in beiden Befragungen variieren aber.

Am grössten ist die Differenz bei der SP. Bei Isopublic schneidet sie um 1.8 Prozentpunkte besser ab als bei gfs.bern. Dafür liegt die SVP bei gfs.bern um 1.5 Prozentpunkte höher als bei Isopublic. Die dritte, noch erwähnenswerte Abweichung ergibt sich bei der neuen BDP. Sie wird bei Isopublic 0.9 Prozent stärker eingestuft als bei gfs.bern.

Alle Divergenzen sind im theoretischen Stichprobenfehler. Dieser suggeriert aber eine zu grosse Unsicherheit, da die maximalen Abweichungen nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 Prozent erreicht oder überschritten werden dürfen.

In der Tat waren beide Institute bei den Nationalratswahlen 2007 genauer als der Stichprobenfehler. gfs.bern hatte eine mittlere Abweichung vom effektiven Parteiergebnis von 1 Prozent. Die Vergleichszahl lag bei Isopublic bei 1,5 Prozent pro Partei.

Eines scheint sich gleich zu bleiben: Die Parteienlandschaft von Isopublic war auch 2007 leicht “linker” als jene von gfs.bern, überschützte das Zürcher Institut für Markt- und Meinungsforschung die SP doch stärker unter blieb es bei der SVP tiefer stehen als das Berner Forschungsinstitut.

Das kann auch mit der Stichprobengrösse zu tun haben: Bei kleineren Stichprobengrössen sind Ausschläge gegenüber der Realität eher zu erwarten. Sollte es sich aber wiederholen, ist davon auszugehen, dass in der Stichprobenbildung der beiden Institute kleinere, in politischen Fragen aber relevante Unterschiede bestehen.

Claude Longchamp

Meinungsumschwung gegenüber Bundespräsident Merz bestätigt

Wirklich überrascht ist man nicht, wenn man das heutige Politbarometer von “Sonntagszeitung” und “Le Matin” sieht. Doch hat man nun eine Bestätigung für den geradezu rapiden Meinungsumschwung der SchweizerInnen gegenüber ihrem gegenwärtigen Bundespräsidenten. Eine Rückblick auf die Ursachen.

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Doris Leuthard und Eveline Widmer-Schlumpf sind die gegenwärtigen Zukunftspolitikerinnen im Urteil der Schweizer Stimm- und Wahlberechtigten.

Im Herbst 2008 erlitt FDP-Bundesrat Hans-Rudolf Merz einen Herzstillstand. Doch kehrte er nach einigen Wochen absenz voller Optimismus ins Leben und in die Politik zurück, und wurde er turnusgemäss neuer Bundespräsident für das Jahr 2009.

Trotz Krisensignalen auf den globalen Finanzmärkten, horrenden UBS-Stützzahlungen und Aengsten der SchweizerInnen, ihre Arbeitsstelle zu verlieren, ritt Bundespräsident Merz im ersten Politbarometer des Jahres 2009 auf einer Popularitätswelle. 78 Prozent der repräsentativ ausgewählten Stimm- und Wahlberechtigten fanden im Februar dieses Jahres, er sei ein Politiker, der inskünftig eine wichtige Rolle einnehmen solle.

Die Aushandlung von Doppelbesteuerungsabkommen wegzukommen wie auch die Libyen-Krise wegen der vorübergehenden Verhaftung des Sohnes von Staatschef Moammar al-Qhadafi wären solche Profilierungsmöglichkeiten gewesen. Doch sie missrieten dem Appenzeller gründlich: Das erste Betätigungsfeld galt als reine Notmassnahme, um von der grauen Listen der OECD gestrichen zu werden. Und das zweite geriet zum totalen Fiasko für den unerfahrenen “Aussenpolitiker” Merz.

Genau das zeigt nun auch das Politbarometer, das Isopublic aufgrund einer Befragung in den letzten zwei Wochen bei 1002 repräsentativ ausgewählten Personen erstellt hat. Die Superwerte von Merz im Frühling sind auf 59 Prozent im Juni gesunken und haben zwischenzeitlich einen Tiefststand von 47 Prozent erreicht. Von der ersten Stelle unter den amtierenden Bundesräten wurde er bis an die sechste Stelle durchgereicht. Damit ist er nur noch vor seinem Parteikollegen Pascal Couchepin, der seinen Rücktritt bereits genommen hat.

Claude Longchamp

Urs Schwaller im unpräzisen Fadenkreuz der Politforscher

Ein Tag als Medienkonsument. Zwei Auswertungen der gleichen Datenquelle. Und fast beliebig viele Antworten zur Position von Urs Schwaller im Fadenkreuz der Politforscher.

Am liebsten sieht sich Urs Schwaller in der Mitte, wo auch seiner Meinung nach auch seine Partei hingehört. “Wenn ich Mitte sage, meine ich Mitte. Das ist weder Mitte/links noch Mitte/rechts”, rief der Fraktionspräsident in Altdorf den CVP-Delegierten zu, als diese vor gut einem Jahr die Folgen aus den letzten Parlamentswahlen zogen.

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Version NZZ von gestern, 11.9.2009

Zwischenzeitlich wird politisch gerätselt, was seine Wahl in den Bundesrat für Folgen hätte. Die FDP-nahe Leitartikler werten einen solchen Ausgang der Bundesratswahl vom kommenden Mittwoch als Richtungswechsel von Mitte/Rechts zu Mitte/Links. Der Mainstream der Journalisten mag da nicht einstimmen, weil man keine parteipolitisch einheitliche Strategie hinter einer Wahl Schwallers in den Bundesrat sieht. Zwar ist sei in Sozial- und Umweltfragen rotgrün näher als seine FDP-Widersacher, doch ist er in Frage von Law-Order klar konservativer als Didier Burkhalter und Christian Lüscher und tendiert damit eher zur SVP.

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Version SF von gestern 11.9.2009

Das jedenfalls wissen wir aufgrund der “Spider” zu den politischen Positionen der Bewerberinnen, die laufend publiziert werden. Diese sind grundsätlich ein löblicher Teil der praktischen Politikwissenschaft, die in den letzten Jahren zur Positionierung von KandidatInnen und Gewählten entwickelt worden ist.

Doch stehen wir nun vor einer Verwirrung auf höherer Stufe: Statt Klarheit zu schaffen, wo ein Politiker oder eine Politikerin aufgrund ihrer Themenaussagen im Fadenkreuz der Politforscher zu stehen kommt, präsentierten die Massenmedien gestern unter Berufung auf smartvote als Quelle gegensätzliche Aussagen zum CVP-Ständerat aus Freiburg: Die NZZ berichtete am Morgen, Urs Schwaller stehe leicht rechts der Mitte und sei moderat liberal. Auf der Website des Schweizer Fernsehen erscheint derselbe Urs Schwaller leicht links der Mitte, und neigt er recht klar dem konservativen Pol zu.

Eine Klärung tut Not, werte KollegInnen bei smartvote und sotomo!

Claude Longchamp

13 Stimmen zur Lage der Nation: Herzlichen Glückwunsch Schweizerische Eidgenossenschaft zum Geburtstag!

Am 12. September 1848 wurde die erste Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Kraft gesetzt. Das ist unser eigentlicher Geburtstag. Doch: In welcher Verfassung ist die Schweiz? Die “Schweizer Monatshefte” haben bei 13 AutorInnen des Landes nachgefragt. Hier ihre Thesen zur Lage der Nation – quasi als Diskussionsgrundlage zum 161. Geburtstag!

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Peter Ruch: “Standfestigkeit ist von gestern. Gefallenwollen liegt im Trend. Das Gesicht wahren. sich rechtfertigen. So nimmt der Etatismus zu. Und eigenverantwortliches Handeln ab. Einspruch!”

Andreas Rieger: “Die Schweiz hat sich als Land der Rosinenpicker und Profitjäger profiliert. Schade. Denn wir hätten viel mehr zu bieten. Es braucht eine Rückbesinnung auf die bürgerliche Mission von einst aus gewerkschaftlicher Sicht.”

Martin von Orelli: “Die strategische Wende von 1989/90 hat die schweizerische Sicherheitspolitik durcheinandergebracht. Seither wird reformiert. Und debattiert. Was fehlt, ist eine nationaler Konsens über den Auftrag der Schweizer Armee.”

Karin Keller-Sutter: “Die Schweiz konnte sich dank der guten Sicherheitslage lange viele Freiheiten leisten. Doch bröckelt das gesellschaftliche Fundament. Der Staat kann nichts tun. Das können allein die Individuen. Doch wollen sie auch?”

Max Frenkel: “Die Medien sehen sich als Garanten der Demokratie. Angesichts ihres Wandels zur Unterhaltungsindustrie ist dieser Anspruch bloss noch eine Anmassung. Die angeblichen Hüter sind politische Neutren mit etwas Linksdrall und ohne Massstäbe.”

Cédric Wehrmuth: “Die Politik hat in der Schweiz nicht mehr viel zu sagen. Die Wirtschaft triumphiert – auch in der Krise, die sie selber verschuldet hat. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein!”

Lukas Reimann: “Wir haben den Staat ausgebaut. Die Bürokratie. Die Gesetze. Die Regulierungen. Dabei wäre weniger mehr. Es ist Zeit für eine Politik, die wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellt.”

Matthias Jenny: “Der Staat ist auch in der Schweiz auf dem Vormarsch. Das ist nicht nur der Erfolg der Linken. Auch die Bürgerlichen haben wacker mitgewirkt. Eine Kritik bürgerlicher Politik aus liberaler Sicht tut Not.”

Lena Schneller: “Reagieren geht über studieren: so oder ähnliche könnte das Motto unserer Landesregierung lauten. Die oberste Exekutivbehörde ist sich bloss darin einig, dass sie nicht einig ist. Wir brauchen eine Regierungsreform. Je früher, desto besser.”

Martin Janssen: “UBS; Bankgeheimnis, schwarze Listen: die Landesregierung war nicht vorbereitet. Sie ist es noch immer nicht. Dabei hätte die Schweiz Verhandlungsspielraum. Sie müsste ihn bloss nutzen.”

Katja Gentinetta: “Die Schweizer Wirtschaft handelt global. Die Politik jedoch denkt lokal. Es braucht Führungskräfte, die diese Spannung aushalten. Gibt es sie auch?”

Peter Gross: “Wir leben in einer freiheitlichen Marktgesellschaft. Das ist gut so. Aber die Freiheit hat ihren Preis. Wir brauchen nicht mehr Führungsstärke. Wir brauchen mehr Herzenschwäche.”

Na denn, happy birthday Switzerland!

Claude Longchamp

“Die allgemeine Volksinitiative bietet zu wenig Demokratie”

Es ist eine typisch binnenschweizerische Diskussion. Aber eine, die Grundsätzliches zum Verhältnis von Demokratie und Herrschaft berührt. Denn kurz vor der Volksabstimmung über die Allgemeine Volksinitiative meldet sich Andreas Gross, Politikwissenschafter mit Spezialgebiet direkte Demokratie, mit einem kritischen Votum in der NZZ zu Wort und plädiert für die Abschaffung der Fehlkonstruktion unter den Volksrechten.

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Andreas Gross, der wohl beste Kenner der Philosophie der direkten Demorkatie spricht sich gegen die Allgemeine Volksinitiative aus.

Am 27. September 2009 stimmen die Schweizer Stimmberechtigten über die Nicht-Einführung der Allgemeinen Volksinitiative ab. Das bestehende Initiativrecht soll bleiben, die Verfeinerung, die 2003 bewilligt, bisher aber nicht umgesetzt wurde, soll jedoch wieder verschwinden.

Einen Abstimmungskampf hierzu gibt es kaum. Im Parlament war nur einer dagegen, doch der weibelt in allen Medien. Nun kontert Andreas Gross, vormals Präsident der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates. Dies ist umso glaubwürdiger, als Gross schon im Abstimmungskampf bei der Einführung 2003 gegen das Instrument war.

Ein Drittel aller Volksinitiative, die zur Abstimmung gelangen, verlangen Aenderungen der Bundesverfassung; zwei Drittel zielen auf Korrekturen im Gesetzeswerk der Schweiz ab. Diesem Umstand wollte Bundesrat Arnold Koller Rechnung tragen, als er die allgemeinen Volksinitiative vorschlug. Gemäss der könnte das Parlament entscheiden, ob eine angenommene Anregung aus einer Volksabstimmung in der Verfassung oder im Gesetz verankert werden solle.

Andreas Gross hält die Erweiterung des bestehenden Initiativrechtes durch eine Gesetzesinitiative für die richtige Schlussfolgerung. Die Allgemeinen Initiative bekämpft er mit dem Hinweis, wer Unterschriften für eine Volksinitiative sammle, sei mit dem Status Quo in der Regel nicht einverstanden. Diese Verägerung entstehe nicht selten, weil das Parlament falsche Entscheidungen getroffen habe. Deshalb hält Gross es für im Ansatz verfehlt, dass der mittels Volksinitiative vorgetragene Volkswille im Fall einer Annahme durch die Stimmenden vom Parlament interpretiert werden dürfe.

Oder pointiert gesagt: “Um neue Fehlkonstruktionen und Irrtümer zu vermeiden, muss die direkte Demorkatie aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger verstanden und verfeinert werden und darf nicht aus herrschaftlicher Sicht zurückgebunden werden wollen.”

Claude Longchamp

Das Tableau der Bundesratswahlen

Nun beginnt das Spekulieren zu den Bundesratswahlen. Das ist das Geschäft der Meinungsmacher. Die Analyse der Wahl setzt mit Vorteil auf das, was (un)klar, (un)wahrscheinlich und damit alles (un)möglich ist.

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Wie stimmt die Vereinigte Bundesversammlung am 16. September ab: Das hängt nicht nur von den Kandidaten, sondern auch von Taktik der Fraktionen ab, welche Favoriten es in die Schlussrunde schaffen.

Bundesratswahlen in der Schweiz kann man aufgrund der Positiv- oder Negativpräferenzen der ParlamentarierInnen analysieren. Ersteres zeigt sich normalerweise im ersten Wahlgang, wo man mit dem Herzen stimmt. Letzteres findet sich dagegen im Schlussgang, wenn sich nur noch zwei BewerberInnen gegenüber stehen und Taktik entscheidet.

Die Klarheiten
Nach der Nominationsphase steht die CVP steht klar hinter ihrem Fraktionspräsidenten, dem Freiburger Ständerat Urs Schwaller. Ziemlich klar sind die Kandidaten der FDP. Im Vordergrund stehen der Neuenburger Ständerat Didier Burkhalter und der Genfer Nationalrat Christian Lüscher. Als Aussenseiter kommen einige weitere Personen der FDP (wie Dick Marty oder Pascal Broulis) in Frage, die aber nicht offiziell nominiert sind. Die SVP ihrerseits behält sich bis zum letzten Moment vor, eigene Vorschläge zu unterbreiten; dafür hat sie den Freiburger Nationalrat Jean-Francois Rime in Stellung gebracht. Verzichtet haben die Grünen. Das klärt die Lage, gegenüber meinem ersten Versuch einer Auslegeordnung.

Die Unklarheiten
Für den entscheidenden Schlussgang gibt es vier Szenarien:

Schwaller vs. Lüscher: Das ist aus heutiger Sicht die sicherste Entscheidung. CVP, SP und Grüne stimmen geschlossen gegen Lüscher und damit für Schwaller. Der ist gewählt, weil die Allianz aus FDP und SVP, vielleicht auch einzelnen aus der BDP nicht reicht. Die klare parteipolitischen Polarisierung von Neuling Lüscher ist sein Vorteil als Kandidat für die rechtsbürgerlichen ParlamentarierInnen, gleichzeitig auch sein entscheidendes Handicap für die Bundesratswahl.

Schwaller vs. Burkhalter: Hier sind die parteipolitischen Ambivalenzen grösser, was für die FDP Chancen eröffnet, aber auch Risiken in sich birgt. Die Chance besteht darin, dass Burkhalter als perfekter Romand, der dem Konkordanz-Denken verpflichtet ist für eine Minderheit der Ratslinken wählbar ist. Die Grünen verbauen sich so die Chance nicht, 2011 selber mit einer Kandidatur antreten zu können. Die SP gibt Teile ihrer Stimmen der wählerstärkeren Partei, mit der Hoffnung, 2011 selber davon zu profitieren. Und die Romands riskieren keine Sprachendebatte wie im Fall einer Wahl Schwallers. Das Risiko der FDP besteht jedoch darin, dass Burkhalter nicht ins Kalkül der SVP passt. Die Partei könnte ihm deshalb die nötigen Stimmen versagen, um in den Schlussgang zu kommen. Das haben die SVP-Tenöre durchschaut, weshalb sie aufrufen, Burkhalter zu schreiben, auch wenn ihnen dabei die Hand anfällt.

Schwaller vs. Rime: Bei diesem Schlussgang hat Schwaller die besseren Karten. Die Ausgangslage ist ähnlich wie in der ersten Paarung, für die Rechte aber unsicherer. Denn die FDP dürfte nicht einhellig für die SVP und gegen sich stimmen. Enthaltungen sind wahrscheinlicher. Die einzige Chance von Rime wäre eine sichtbares Angebot an die linken Ratmitglieder, dass die SVP bei seiner Wahl die arithmetische Konkordanz erfüllt sieht und auf Angriffe gegen linke Bundesräte verzichtet.

Marty vs. Rime: Das ist die Paarung, wenn alles aus dem Ruder läuft. Die Linken favorisieren Marty, die SVP setzt auf Rime, die offiziellen Kandidaten fallen einer nach dem andern durch. Favorit ist in dieser Konstellation Marty, der mit den Stimmen von FDP/BDP, SP und Grünen gewählt werden kann. Rechnerisch reicht es Rime nur, wenn die CVP und die BDP für ihn votieren würde.


Die (Un)Wahrscheinlichkeiten

Natürlich sind die Szenarien nicht alle gleich wahrscheinlich.

Der wahrscheinlichste Schlussgang ist, aus der gegenwärtigen Sicht mit etwa 50 Prozent Sicherheit, die Paarung Schwaller vs. Burkhalter. Die FDP behielte dann ihren zweiten Bundesratssitz, weniger wegen ihrer gegenwärtigen performance, aber dank dem Profil von Burkhalter. Die Tendenz ist aber sinkend, weil die SVP sichtbar zögert, auf Burkhalter umzuschwenken.

Das spricht dafür, dass die Paarung Schwaller vs.Lüscher wahrscheinlicher wird. Die Probalität ist heute wohl 30 Prozent, Tendenz steigend. Die beiden anderen Szenarien erscheinen ins sich wenig durchdacht, und haben bisher keine eigentlichen Zugkraft entwickelt.

Eigentliche Prognosen sind momentan nicht möglich, weil sich bei weitem nicht alle schon festgelegt haben. Das bestätigen einem auch ParlamentarierInnen, die nichts zu kaschieren haben.

Claude Longchamp

Wirbel um Brief aus Libyen

Die Medien sind im Besitz einer Abschrift des Briefes, auf den sich Bundespräsident Hans-Rudolf Merz stets berief, als er von einer verbindlichen libyschen Zusicherung in Ausreise der zurückgehaltenen Schweizer Geschäftsleute sprach. Die Interpretationen des Inhalts gehen aber auseinander. Morgen früh nimmt sich die Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates der Sache an.

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Medienkonferenz in Tripolis zwischen den Vertragspartnern Libyen und der Schweiz zur Bereinigung der Konflikte zwischen den beiden Ländern

Mehrfach beteuerte Hans-Rudolf Merz nach seiner Rückkehr aus Tripolis, ihm sei vom libyschen Ministerpräsidenten Baghdadi al-Mahmudi mündlich und schriftlich zugesichert worden, die beiden Schweiz Geiseln seien bis Ende Monat wieder in der Schweiz. Gezeigt wurde das entscheidende Dokument der Oeffentlichkeit jedoch nicht. Beschuldigt wurde jedoch Libyen, nicht Wort gehalten zu haben, während dieses von einem Missverständnis schweizerischerseits spricht.

Nun zitiert die Online-Ausgabe der NZZ heute aus dem ominösen Schreiben vom 26. August 2009, in dessen Besitz die Zeitung gelangt ist. Der entscheidende Satz laute (übersetzt): «Ausgehend vom normalen Ablauf der Dinge in ähnlichen Situationen glauben wir, dass ihr Fall sehr bald entschieden sein wird und dass sie vor Ende Monat aus Libyen ausreisen können.»

Die Redaktion titelt in der heiklen Angelegenheit: “Libyens Premier hat von Ausreise der Geiseln gesprochen”. Im Text wird man dann deutlicher: “Eine explizite Zusicherung oder gar Garantie enthält das Dokument aber nicht.” Geri Müller, grüner Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates, interpretierte das in “10vor10” im Sinne von Merz als Zusage, während SVP-Hardliner Christoph Mörgeli, ebenfalls Mitglied der Kommission, dazu sagte: “Wenn ich ein Los der Landeslotterie kaufe, glaube ich auch, dass ich den Hauptgewinn habe.”

Der Wirbel ist perfekt. Die Medien kennen einen Brief, den die zuständige Kommission noch nicht gesehen und verarbeitet hat. Zwangläufig schiessen die Interpretationen ins Kraut, geht es doch um die Deutungshoheit. Morgen früh um 7 Uhr berät die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates das zentrale Dokument in der Argumentation des glücklosen Bundespräsidenten.

Claude Longchamp

Freudscher Verschreiber

Manchmal ist die politische Berichterstattung tiefgründiger, als sie sich selber versteht. Zum Beispiel in der heutigen NZZ über das bürgerlich-liberale Pro Komitee zur IV-Zusatzfinanzierung.

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Abhandlung von Sigmund Freud, in der er sich mit dem “Freudschen Versprecher” auseinander setzte.

Seit einigen Tagen heizt die SVP mit Inseraten die Volksabstimmung zur IV-Zusatzfinanzierung kräftig an. Das bürgerliche-liberale Pro-Komitee sah sich deshalb gestern gezwungen, mit einer Medienmitteilung zu reagieren. Die verbreiteten Zahlen seien falsch, die Ausgaben für die IV konnte zwischenzeitlich gedrosselt werden; jetzt brauche es noch die Mehreinnahmen, um die IV wieder ins Lot zu bringen, hiess es ganz im Sinne der Vorlage, über die wir am 27. September 2009 abstimmen.

Nun weiss man, dass die Frontstellung vor allem der FDP.Die Liberalen zugunsten der IV-Revision nicht einfach war. Zuerst musste Bundesrat Pascal Coucepin die Abstimmung verschieben, weil er seine freisinnigen Truppe nicht mobilisieren konnte. Dann hielt sich die economiesuisse mit Aktitvitäten zurück, weil sie eine Steuererhöhung in der aktuellen Wirtschaftslage ablehnte. Schliess fand sich aber, wobei die Einführung bei einem Ja um ein Jahr verspätet erfolgen und eine weiter reichende Revision der IV angekündigt wurde.

Doch scheint einiges an Bedenken in bürgerlicher Redaktionen hängen geblieben sein. Die NZZ erfand nämlich im heutigen Artikel (leider nicht auf Internet nachschlagbar) hierzu eine neue politische Position. Statt das bürgerlich-liberale Pro-Komitee zu zitieren, schrieb man, die Stellungnahme sei vom “gegnerischen Pro Komitee” abgegeben worden ….

Die Definition des Freudscher Versprechers oder Verschreiber lautet: “Bei der Bewertung eines Versprechers als eine „Freudschen Fehlleistung“ wird davon ausgegangen, dass in der Bedeutungsabweichung, die durch einen Versprecher entsteht, eine tief verankertere, unbewusste Aussage ausdrückt wird, die durch das aktuelle Bewusstsein nur unzureichen überlagert ist.”

Claude Longchamp

Der unverrückbare Kern der Konkordanz

Die Schweiz hatte mal eine Zauberformel zur Besetzung des Bundesrates. Zuerst verflog der Zauber, jetzt schwindet auch die Strahlkraft der Formel. Das ist der Zeitpunkt, Konkordanz neu zu verstehen.

Nach 2003 richteten sich die Parteien mehrheitlich an der arithmetischen Konkordanz aus. Die Parteistärke allein solle den Ausschlag geben, wie sich der Bundesrat zusammensetzt. Wie er dabei funktioniert, sei nicht so wichtig. Die aktuelle Fortsetzung dieser Diskussion steckt im Patt: Die FDP macht die Wählerstärke zum Massstab, und die CVP stützt sich auf die Fraktionsstärke.

Vordergründig klärt das Wahlbarometer der SRG SSR idee suisse, das heute erscheint, diesen Parteienzwist nicht. Denn sowohl WählerInnen-Anteile wie Fraktionsstärken interessieren nur Minderheiten. Selbstredend sind Prozentwerte bei der FDP-Wählerschaft wichtiger, Sitze im CVP-Elektorat. Und es sind auch nur Minderheiten, die sich für eine ganz bestimmte Partei ausprechen. Unter ihnen liegt die FDP vorne.

Hintergründig erhellt die Umfrage unter den Wahlberechtigten aber, in welche Richtung sich das Konkordanzverständnis des Elektorates entwickelt. Das Numerische an der Konkordanz ist keine Richtschnur mehr, eher noch eine negative Schablone: Die vier grösseren Parteien sollen, so die Mehrheit der Befragten, auf jeden Fall im Bundesrat vertreten sein. Ihre Sitzzahl genauso wie die fallweise Berücksichtigung anderer Parteien hängt jedoch von der Person der BewerberInnen ab.

Damit sind wir bei der einen Lehre aus dem aktuellen Wahlbarometer: Gefragt sind heute Persönlichkeiten. Man sehnt sich nach Politiker und Politikerinnen, die aufgrund ihrer Ausstrahlung, ihres Auftritts und ihrer Auffassungen zu überzeugen vermögen. Sie sollen das Land regieren. Die zweite Lektion lautet: Gefordert wird, dass die Parteien, die im Bundesrat vertreten sein wollen, zur Zusammenarbeit gewillt sind und dass sie – gerade unter dem Eindruck weltwirtschaftlichem und aussenpolitischem Druck – bereit sind, gemeinsam ein Programm zu realisieren, das der Schweiz dient. Bundesratsbeteiligungen sind nicht mehr eine Frage des Rechenschiebers, vielmehr eine der vertretenen Inhalte.

Das ist der unverrückbare Kern der Konkordanz, wenn es inskünftig um Bundesratswahlen geht.

Claude Longchamp

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