Die Implosion der SPD

Die erste Analyse der Wählerwanderungen kommt bei der SPD zu einem eindeutigen Befund: Die Partei ist regelrecht implodiert.
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Die SPD schmerzen nicht nur die 11,3 Prozent, die sie am WählerInnen-Kuchen seit den Bundestagswahlen 2005 verloren hat. Schlimmer noch ist der Befund der Analyse zur WählerInnen-Wanderung, die eine negative Bilanz in alle Richtungen kennt. Bei der Bilanz von Zu- und Abwanderung hat die SPD ein Minus von rund 5 Millionen Wählenden aus dem Jahre 2005.

Den grössten Verlust kennt die SPD gegenüber den Nicht-WählerInnen.
An zweiter Stelle steht die Abwanderung zu anderen Linksparteien.
Als Drittes folgt der Uebergang zur neuen bürgerlichen Koalition.
Und selbst gegenüber Parteien, die kein Mandat erringen konnten, verliert die SPD Stimmen.

Keine Partei kennt ein so umfassend negatives Profil. Die CDU/CSU hat zwar ähnlich wie die SPD Mühe, bestehende WählerInnen zum Wählen zu motivieren, verliert aber nur im bürgerlichen Lager. Und die Linke ist für die Grünen beschränkt zur Konkurrenz geworden.

Das Mobilisierungsprobleme der ehemaligen Volksparteien ist eklatant. Es ist der sichtbarste Ausdruck der grossen Koalition, des Mangels an thematischer Trennschärfe und der fehlenden Wahlkampfstimmung. Bei der SPD kommen wohl auch das Fehlen einer Machtperspektive hinzu, denn ihr blieb letztlich nur die Hoffnung auf die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit CDU/CSU.

Die Situation der SPD erschwert eine eindeutige Korrektur. Geht die Partei nach links, muss sie mir weiteren Abgängen an die Regierungskoalition rechnen. Weicht sie dagegen nach rechts, ist mit einem verstärkten WählerInnen-Anteil insbesondere der Linken, vielleicht auch der Grünen zu rechnen.

In einer solche Situation gibt es in der Regel nur eins: Die Grundposition nicht radikal verändern, das Spitzenpersonal aber gründlich erneuern, die VerterterInnen der verschienen Strömungen besser einbinden und die parteiinterne Arbeit neu machen, bis der Magnet wieder funktioniert.

Wichtiger ist die generelle Erneuerung der Partei, denn sie ist in der bisherigen Form implodiert.

Claude Longchamp

Besser als der Ruf: die Wahlforschung nach den Bundestagswahlen

Kurz vor der Wahl steigt auch unter den ForscherInnen der Adrenalin-Spiegel, sodass Klagen über den Zustand der Profession in der Oeffentlichkeit laut werden. Zwei davon sind in der letzten Woche öffentlich ausgetragen worden. Ein Ueber-, Rück- und Ausblick eines halbwegs Aussenstehenden zur (deutschen) Wahlforschung.

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“Was entscheidet beim Wählen?”, beschäftigt die Wahlforschung. Interdisziplinär ausgerichtet hat sie sich trotz einige Defiziten auf hohem Niveau etabliert.

Klage Nummer 1
Rezensent Frank Decker, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn, nahm das Erscheinen des politikwissenschaftlichen Standardwerkes zu den Bundestagswahlen 2005 kurz vor Ende der Legislatur zum Anlass, um kritische Fragen zur Grundlagenarbeit in der Wahlforschung zu stellen. Konkret monierte er drei Schwächen: Erstens, die Uebersicht zu den Wahlen 2005 erscheint viel zu spät. Fast vier Jahre Produktionszeit für ein Buch sei heute deplatziert. Das wüssten selbst die Herausgeber, die einen Teil ihrer Ergebnisse schon vorgängig publiziert hätten. Zweitens, die Sprache der Wahlforschung leidet. Die Anwendungsforscher seien sich gewohnt, zu einem Publikum aus Nicht-Fachleute sprechen zu müssen; den Grundlagenforscher gehe das mit ihrem Fachjargon ab – beides merke man den entsprechenden Publikationen an. Drittens: Die Theorie- und Methodendiskussion stagniere. Vor allem behandle die politikwissenschaftliche Forschung Wahlen als Entscheidungen in der Mediengesellschaft stiefmütterlich.

Klage Nummer 2:
Andreas Wüst, ein junger Wahlforscher im akademischen Sektor, geriet in Wallung, nachdem Mathias Jung, Direktor der Forschungsgruppe Wahlen im ZDF verkündete: “Knapp, aber sicher.” Damit meinte dieser den Vorsprung von CDU/CSU und FDP in den Wahlumfragen. Er machte das am Freitag vor der Wahl zur eigentlichen Prognose, einem Moment, zu dem sich ARD und ZDF verpflichtet hatten, keine weitere Umfragen mehr zu machen. Der Politikwissenschafter nahmen das zum Anlass, um über die Trendwende unter dem Demoskopen zu spekulieren. Demnach gebe die Wahlforschung an, prognosefähig zu sein, selbst wenn sie den Prozess der Meinungsbildung nicht bis zum Wahltag verfolge. Oder die Umfrageinstitute machten Erhebungen kurz vor der Wahl, die sie nicht veröffentlichten.

Rück- und Ausblick

Nun wissen wir es wenigstens im Nachhinein alles besser: Die Wahlforschung hat bei den deutschen Bundestagswahlen 2009 korrekt gearbeitet. Der Ausreisser 2005, der bei allen Umfrage-Instituten die Wähleeranteile der CDU/CSU-Stärke betraf, hat sich nicht wiederholt. Unter dem Druck der öffentlichen Schelte von 2005 haben sich die Praktiker weiterentwickelt, selbst wenn ihre Lösungen die Methodenspezialisten nicht immer befriedigen.

Demoskopie ist und bleibt daten-getrieben, auch wenn gelegentlich Erfahrung und Intuition die reine Wissensbasis ergänzt. Das hat mit den Bedingungen zu tun, unter denen Wahlrealitäten entstehen: Diese werden durch den produktiven Wettbewerb der politischen Konkurrenten bestimmt. ForscherInnen, die anwendungs-orient arbeiten, sind dem näher als grundlagen-orientierte WissenschafterInnen.

Die grösste Schwäche der Wahlforschung bleibt, dass es keine genuin politologische Theorie des Wählens gibt, die uns gestern schon klar gemacht hätte, warum man heute nicht mehr SPD, aber FDP wählte. Weil das spezifisch Politologische an der Wahlforschnung fehlt, bleiben die parteiunspezifischen Zugänge der Oekonomen, Psychologen und MedienwissenschafterInnen stetige Verlockungen sind, wenigstens interdisziplinär der Sache auf der Spur zu bleiben.

Von der Politologen-Kritik im kritischen Moment bleibt damit nicht viel übrig, – am ehesten noch, dass die Grundlagen- und Anwendungsforschung auch in Deutschland verschiedene Sphären des wissenschaftlichen Arbeitens sind, die nach je eigenen Gesetzmässigkeiten funktionieren und dabei nicht immer zum Vorteil der Profession Klagen auf dem Marktplatz der öffentlichen Eitelkeiten austragen.

Claude Longchamp

Prognosetools im Praxistest

Die zweite Vorlesung an der Uni Zürich zur Wahlforschung bot am Freitag vor der Entscheidung Gelegenheit eine Uebersicht zu den Prognosen zu den deutschen Bundestagswahlen zu geben. Jetzt kann man sie die eher theoretischen Ueberlegungen aufgrund des Praxistests überprüfen.

Zur Sprache kamen (unter anderem) Stärken und Schwächen der drei Tools, die bei den Bundestagswahlen 2009 angewandt wurden: politökonomische Schätzgleichungen, Wählerbefragungen und Wahlbörsen.

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Weitere Ergebnisse finden sich hier aufgearbeitet.

Zwischenzeitlich kann man nicht nur eine konzeptionelle Beurteilung vornehmen, vielmehr ist es auch möglich, die Instrumente zu bewerten.

. Die Befragungen lagen grösstenteils richtig. Generell wurden die grösseren Parteien leicht überschützt, während die kleineren minimal zu schwach ausgewiesen wurden. Damit lag die Ueberzahl der Institute bei den Koalitionsaussagen richtig.
. Die Wahlbörsen überschätzten die SPD recht klar, und sie lagen auf der bürgerlichen Seite leicht zurück. Die Koalitionsaussage war bis eine Woche vor der Wahl falsch, suggerierte sie doch eine Fortsetzung der grossen Koalition.
. Die Schätzgleichung zu deutschen Wahlen, die Thomas Gschwend entwickelt hat, lag für die siegreiche Koalition von CDU/CSU und FDP richtig, wenn sie auch den Wähleranteil überschätzte.

Aus diesen Beobachtungen heraus kann man zwei Folgerungen ziehen: Umfragen, die kurz vor Schluss gemacht werden, sind das präziseste Prognosetool. Der Ausreisser von 2005 hat sich nicht wiederholt; bedingt war er durch die Unsicherheit, die durch die neu auftretende Linke entstanden war. Politökonomische Schätgleichungen haben sich etabliert, auch wenn man noch zu wenig Erfahrungen mit ihrer Robustheit hat. Schliesslich können auch Wahlbörsen eingeschränkt verwendet werden.

Es ist nicht auszuschliessen, dass sich die drei Tools gegenseitig beeinflussen: Schätzgleichungen liefern als Erstes Prognosen. Die können Umfrageergebnisse beeinflussen, namentlich die Gewichtung von Rohdaten. Schliesslich bestimmt beides Erwartungshaltungen, auch die der Börsianer.

Claude Longchamp

Live-Bloggen zur Hochrechung am Abstimmungssonntag

Die Schweiz stimmt ab, über die befristete Erhöhung der IV-Zusatzfinanzierung und über den Verzicht der Einführung einer neuen allgemeinen Volksinitiative. Hier berichte ich aus dem Hochrechnungsstudio über meine Eindrücke zum Ausgang und zu den Gründen hierfür, die Ergebnisse selber findet man hier.

09 30
Das Hochrechnungsteam ist vollzählig vor dem Zürcher Studio Leutschenbach eingetroffen. Je sechs Personen arbeiten für die Analyse und als Telefonteam. Wichtig ist, dass die Infrastruktur klappt, und die Teams plangemäss zusammenarbeiten. Doch funktioniert alles nur, wenn uns die rund 100 Referenzgemeinden ihre kommunalen Resultate übermitteln. Hoffen wir das beste!

10 00
Das Studio 8, aus dem normalerweise die Arena gesendet wird, bevölkert sich. Marianne Gilgen, die verantwortliche Redaktorin, begrüsst alle. Sie zeigt mir die Wege intern, denn ich arbeite für SF, DRS und TSR – in verschiedenen Studios. Zum Schluss gibt es einen Fliegentest, weil ich mich heute für blau entschieden, was auf dem Bildschirm gerne flimmert. Ich habe Glück, meine bevorzugtes Accessoire besteht die kritische Prüfung.

1100
“Das ist ein Ausreisser!” Da höre ich genau hin. Doch ich würde besser hinsehen. Denn es ist kein Gemeindeergebnis, sondern ein Haar an meiner Augsbraue. In der Maske wird es gekappt. Wäre es eines der Resultate aus einer ausgewählten Gemeinde gewesen, hätte wir das nicht machen dürfen. Denn das verfälscht das Bild!

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Die ersten Resultate aus den Referenzgemeinden sind da. Es sind solche Orte, die um 10 oder 11 Uhr die Urnen geschlossen haben und rasch auszählen. Das ist in Kantonen wie Aargau, Graubünden und Zürich möglich. Einen ersten Eindruck habe ich so, doch das reicht nicht einmal für eine Trendaussage. Es ist bloss das interne Signal: Von nun an gilt es ernst. Meinen Einsatzplan findet man übrigens hier.

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Seit 10 Minuten läuft alles auf Hochtouren. Bei der allgemeinen Volksinitiative werden wir um 1230 eine Aussage haben. Das ist bei der IV-Zusatzfinanzierung an sich schwieriger. Denn es geht nicht nur um eine Zahl zum Volksmehr, sondern auch eine zum Ständemehr. Und das kann knapp werden. Da ist Vorsicht angesagt, wenn man zwischen 50 und 55 Prozent Zustimmung ist.

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In der Zwischenzeit ist viel gegangen. Ein klares Ergebnis zeichnet sich bei der Volksinitiative auf. Der Verzicht auf ihre Einführung wird gemäss Hochrechnung mit 68 Prozent Ja und Zustimmung in allen Kantonen eindeutig angenommen. Bei der IV-Zusatzfinanzierung wird es eine positive Zustimmungsmehrheit beim Volksmehr geben. Bei Ständemehr ist aber alles offen. Hier liegen Ja und Nein vorerst gleich auf.

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Die Unsicherheit bei der IV-Zusatzfinanzierung verkleinert sich. Das Volksmehr ist im Ja und beim Ständemehr ist es momentan 11 zu 10 Standesstimmen. Es fehlen noch zwei Kantone: Bern und Aargau. Wenn einer dafür ist, ist es mit dem kinappest möglichen Ergebnis Ja beim Ständemehr, sonst nicht. – Gerade in solchen Momenten war die Unterstützung durch das Team, das im Hintergrund recherchiert, komplementiert und avisiert, was Sache ist, von höchster Bedeutung.

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Der Kanton Bern ist gemäss Hochrechnung im Ja. Das ist zwischenzeitlich klar. Das heisst die Hochrechnung zeigt ein Ja zur IV-Zusatzfinanzierung. Das Volksmehr liegt bei 54,6, und das Ständemehr ist bei 12:11.
Die Ergebnisse stehen fest. Unser Telefonteam ist mit der Arbeit fertig. Gut gemacht!

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Zwischenzeitlich ist es definitiv: 54,5 Prozent haben der IV-Vorlage zugestimmt, und bei den Kantonen sind es 12 zu 11 Standesstimmen. Das ist nun offiziell. Letztmals aufgetreten ist ein so knapper Ausgang beim UNO-Beitritt. Bis auf vier Kantone finden wir in beiden Abstimmung das gleiche Resultat. Vom Nein in Ja ewechselt haben Tessin und Graubünden, vom der Zustimmung zur Ablehnung übergegangen sind die Kantone Solothurn und Zug. Sonst ist alle gleich.

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Die Stimmbeteiligung liegt bei rund 40 Prozent. Das ist weniger als im Schnitt der letzten Jahre. Bei der IV stimmten etwas mehr, bei der Volksinitiative etwas weniger. Die Ereignisse während des Abstimmungskampfes waren ganz durch die Bundesratswahlen bestimmt, und durch die Libyen-Affäre. Kampagnen gab es zur allgemeinen Volksinitiative gar nicht, zur IV schon. Doch letztlich mobilisierten sie nicht so, wie man das in der Konstellation kannte. Ein einziger Kanton kannte heute eine überdurchschnittliche Beteiligung: Uri. Die lokale Auseinandersetzung rund um die HarmoS-Schulreform gab da den Ausschlag!

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Die Erstanalyse der IV-Zusatzfinanzierung gibt drei Hinweise: Zunächst den Unterschied zwischen den Sprachregionen, vor allem zwischen den Sprachregionen. Dann die Wirkung der SVP-Opposition, die im eigenen Umfeld sehr gut funktioniert hat, darüberhinaus aber nur beschränkt wirkte. Und schliesslich der Faktor Betroffenheit: Je höher der Anteil IV-BezügerInnen insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz ist, desto stärker fiel die Zustimmung zur Zusatzfinanzierung aus. Das heisst: Die politische Oppositon gegen die Vorlage hatte vor allem dort seine Grenze, wo man selber oder im Umfeld negative Konsequenzen für IV-BezügerInnen befürchtete. – Die Erstanalyse der zweiten Vorlage ist einfacher: Dort, wo man gewöhnlich mit den Behörden stimmt, war die Zustimmung hoch; wo das auch sonst nicht der Fall ist, gab es mehr Nein-Stimmen. Oder anders: Am Schluss votierte man nicht wegen der Sache, sondern wegen der Konstellation dafür.

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Mein Analyseteam packt zusammen. Was man heute sagen konnte, ist berechnet, interpretiert und kommuniziert. Die Diskussionen hier im Studio Leutschenbach verlagern sich. Die Schweizer Abstimmungen verlieren an Aufmerksamkeit, dafür steigt die Sensibilität für alles, was in Deutschland bei den Wahlen geschieht. Ich werde mich schnell kundig machen müssen.

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Die Schweiz hat abgestimmt: Sie hat Ja gesagt zur IV-Zusatzfinanzierung. Damit wird die Mehrwertsteuer für 7 Jahre leicht angehoben. Das bedingte eine Verfassungsänderung, weshalb Volk und Stände zustimmen mussten. Das Volk hat das mit einer recht klaren Mehrheit gemacht; die Kantone waren de justesse dafür. Die zweite Vorlage war dagegen unbestritten. Mit zwei Drittel der Stimmen und allen Kantonen hat die Schweiz beschlossen, auf die Einführung eines Volksrechtes zu verzichten. Ich nehme den Zug nach Bern und schaue mir via Internet den Service der Kollegen in Deutschland an.

Claude Longchamp

Das vorläufig amtliches Endergebnis national, kantonal und nach Bezirken gibt es hier.

last minute Befragungen zu den deutschen Bundestagswahlen 2009

In Deutschland gibt es zwei Vorgehensweisen mit Umfragen in der letzte Woche vor der Wahl: Die Institute, die für ARD (dimap) und ZDF (FGW) arbeiten, verzichten auf neue Erhebungen. Derweil publizieren andere Institute wie Allensbach, Forsa und info diese Woche nochmals aufdatierte Umfrageergebnisse.

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Uebersicht über die jeweils letzten Befragungen der sieben Institute, die zu den kommenden Bundestagswahlen forschten

Die beiden Umfrageserien für die öfrentlich-rechtlichen Fernsehanstalten werden in den letzten sieben Tagen ausgesetzt, um jedem Vorwurf, in letzter Minute beeinflussend zu wirken, begegnen zu können. Publikation in dieser Zeit werden in der Regel mit der grossen Zahl unentschiedener WählerInnen begründet, die mit jedem Tag vor der Wahl abnimmt.

Die Umfragen der letzten Tage zeigen eine Angleichung der Stärken des rechten und des linken Blockes, wobei CDU/CSU und FDP in der Regel knapp vorne sind. Am klarsten ist das bei der Forschergruppe Wahlen mit 3 Punkten Unterschied der Fall. Institutsleiter Matthias Jung sprach den auch bereits von einem knappen, aber sicheren Sieg für die neue Koalition. 2 Prozentpunkte Differenz weisen die Befragungen von dimap, GMS und Allensbach auf. Forsa sieht genau einen Prozentpunkt Unterschied, während bei Emnid beide Blöcke gleich stark sind. Einzig Aussenseiter info sieht einen Vorsprung für die drei linken Parteien SPD, Grüne und Linke von 3 Prozentpunkten.

Claude Longchamp

Beschreiben, diagnostizieren, erklären und vorhersagen

Was muss ein Wahlforscher, eine Wahlforscherin in der Praxis können? Vier Fähigkeiten sollte man entwickeln: die der Beschreibung von Wahlen, der Diagnose von Ergebnisse, der Erklärung von Ursachen hierfür und der Vorhersage von Wahlen. Das ist eine der Quintessenzen aus meiner ersten Einführung in die Vorlesung der Wahlforschung.

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Jürgen Falter, Professor für Politikwissenschaft in Mainz, einer der führenden Wahlforscher in Deutschland, der eine eigene Praxis entwickelt hat

Das letzte ist gleichzeitig das Spektakulärste und Schwierigste. Wer weiss, wie etwas ausgeht, und das im Voraus mitteilt, ist eine gemachte Person in der Wahlforschung. Und trotzdem sollte man nicht damit anfangen. Denn es gibt vielfach nur Ansätze für Prognose, keine fertigen Theorien, keine eindeutigen Methoden.

Die Forschung ist heute vor allem im Bereich der Erklärung tätig. Wenn das Ergebnis bekannt ist, will man es erklären können. Die Ursachenklärung ist etwas weniger schwierig als die Vorhersage. Denn sie hat eine andere Logik. In diesem Bereich gibt es sehr wohl Theorie, Methoden und Verfahren, die sich in den Fachdisziplinen bewährt haben.

WahlforscherInnen können nicht immer warten, bis sie aufwendige Untersuchungen abgeschlossen sind. Sie müssen aus ihrem Wissen heraus, aber auch mit ihrer Erfahrung eine geeignete Diagnose stellen können, was Sache sein könnte. Dabei stützen sie sich in der Regel auf frühere Untersuchungen, und machen sie Analogieschlüsse zu Geschehenem anderswo oder frühr, um eine Fährte zu legen, die ans Ziel führen kann.

Die einfachste, aber grundlegendste Fähigkeit von Wahlforschung ist die Beschreibung: Beim Ergebnis ist das in der Regel sehr einfach. Schwieriger ist es, wenn es um Prozesse geht, beispielsweise um den Wahlkampf, und um das Umfeld, in dem dieser stattfindet. Schwierigkeiten ergeben sich auch, weil man für die wissenschaftliche Beschreibung eine Fachsprache braucht, um nicht ideologischen Fallen der Politiksprache zu erliegen.

Die Grundlagenforschung konzentriert sich in der Regel auf die Entwicklung der beiden ersten Fähigkeiten. Sie sind auch die beiden, die am stärksten theorie-orientiert sind. Die Anwendungsforschung ist nicht so eingeschränkt. Gerade die Kompetenz zur Diagnose, zur Deutung eines Geschehens, um es verständlich zu machen, ist hier wichtig. Und auch die Beschreibung will gelernt sein, denn sie kommt der Realität am nächsten, und sie bildet gleichzeitig die Basis, auf der alle anderen Kompetenzen erst entwickelt werden können.

Ausgestattet mit diesen wissenschaftstheoretischen Kompetenzen kann man sich als WissenschafterIn in eine Praxis begeben.

Claude Longchamp

Plakate für und gegen Minarette

Noch ist die Volksabstimmung vom 27. September 2009 in der Schweiz nicht vorbei. Und schon kündigt sich der Abstimmungskampf zur stark umstrittenen Minarett-Initiative an, über die die Stimmberechtigten in der Schweiz am 29. November 2009 entscheiden.

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Am Sonntag hatte der “Blick” seinen Primeur. Er stellte das Ja-Plakatt zur Minarett-Initiative vor, über die am 29. November 2009 abgestimmt wird. Es folgt der ebenso klaren wie simplen Logik der Initianten aus Kreisen der SVP, der EDU und der Lega. Die Schweiz wird mit islamischen Gotteshäusern überbaut, die alle von riesigen Minaretten überstrahlt werden. Doch die sind nicht einfache Kirchtürme, vielmehr sind sie eine bedrohlich schwarze Kampfansage. Deshalb sehen sie auf dem Plakat wie Raketen aus, welche das christliche Abendland bedrohen. Die stark verschleierte Frau im Vordergrund erinnert uns daran: Wer schon möchte bei uns zurück ins hohe Mittelalter? Schlimm genug, dass diese Kultur im Iran die Oberhand hat.

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Dem setzt nun Frank Bodin, in der Schweiz zum Werber des Jahrees 2009 gewählt, seine Sicht der Dinge gegenüber. Für die Gesellschaft “Minderheiten in der Schweiz” hat er das Nein-Plakat entworfen, das heute erstmals in “20 Minuten” vorgestellt wurde. “Der Himmel über den Schweiz ist weit genug”, ist hier die zentrale Botschaft. Sie firmiert über dem dezenten Blau des Schweizer Himmels, der allerdings durch Wolken leicht bedeckt ist. Das, suggeriert jedenfalls das Plakat, soll uns nicht beirren, vor allem nicht die Relgionsfreiheit und den Religionsfrieden trüben. Denn der funktioniert in der Schweiz mit und gerade wegen Minaretten. Symbolisch erscheinen sie deshalb zwischen den Turmspitzen des katholischen Klosters Einsiedeln und des protestantischen Grossmünsters in Zürich bereits eingemittet.

Eines wird aus beidem klar: Der Abstimmungskampf zur Minarett-Initiative ist lanciert. Die Wortführer beider Seiten sind bestrebt, die mediale Lufthoheit erobern. Hierfür kündigen sie polarisierenden Kampangen an, die mit klaren Bildsprachen Propaganda betreiben werden. Ein wenig schon kommt eine Stimmung auf wie nach dem 11. September 2001, als der Attacke aus der Luft die Zwillingstürme der WTO in New York zum einstürzen brachte. Das soll sich nicht wiederholen, folgern die einen; den Krieg der Kulturen, den die abgewählten Republikaner im Irak angezettelt haben, auch nicht, erwidern die andern.

Claude Longchamp

Forschung ist vor Fälschung nicht gesichert!

Das Staunen war gross, als die Oeffentlichkeit heute vernahm, an der renommierten ETH könnten wissenschaftliche Arbeiten auf manipulierten Daten basieren. Statt Zitiersindices aus akademischen Fachjournalen braucht es Uebersichten, die zeigen, welche theoretischen Erkenntnisse sich in der Praxis bewähren. Denn das ist fälschungssicher.

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Die ETH Zürich, die angesehenste Forschungsanstalt der Schweiz, hat ihren ersten Fälschungsfall in der Forschung offengelegt

Es sei der erste Fall solcher Art, beteuerte der Rektor der ETH. Und die Selbstregulierung habe funktioniert, schob der Vizerektor, selber in den inkrimierten Fall verwickelt, nach. Denn der Verdacht auf Fälschung kam auf, als man die Ergebnisse eines Forschungsprojektes nicht wiederholen konnte.

Eine Schuldigen hat man nicht gefunden. Die Unterlagen, die das beweisen könnten, sind verschwunden. Vielleicht ist das sogar gut so. Denn damit hätte man auch die Ausrede gehabt, dass es auch unter ForscherInnen einzelne schwarze Schafe gibt – wie überall!

Das Problem liegt wohl tiefer: Akademische Karrieren kann man heute nur noch machen, wenn man Entdeckungen macht, die man auch unter seinem Namen publizieren kann. “Publish oder perish”, zu deutsch: “Veröffentliche oder verschwinde!”, lautet die Devise.

Nichts gegen Leistungsnachweise! Sie objektivieren subjektive Einschätzungen, die es auch in der neutralen Wissenschaft gibt. Doch geht die Polarisierung heute so weit, dass man nicht nur das publik macht, was die Sache wert, sondern auch Sachen darüber hinaus.

Das Ganze wird durch Zitierindices verschärft. Gemäss Hirsch-Index – der ausgehend von der Physik in immer mehr Fachbereichen als Referenz akzeptiert wird -, bestimmt sich der Wert eines Forschers oder einer Forscherin an der Häufigkeit zitierter Publikationen: Ein 10 bedeutet, dass man 10 Veröffentlichungen hat, die je 10 mal in anderen Veröffentlichungen erwähnt wurden.

Symptomatisch hierfür ist die Aussage im Untersuchungsbericht, der heute publik wurde. Das Forschungsteam, das jetzt angeklagt wird, hat zwei Artikel in angesehenen Journalen publiziert, und es entstand eine Doktorarbeit aus diesem Projekt. Und jetzt kommt’s: Da die gemachten Messungen mit den vorgeschlagenen Modellerwartungen nicht übereinstimmten, wurden diese nicht in Frage gestellt, sondern die Daten angepasst.

Denn auch das lernt man in der wissenschaftlichen Forschung: Um im heutigen Wissenschaftsbetrieb zitiert zu werden, braucht man nicht der Wahrheit auf der Spur zu sein, wie das Karl R. Popper seinerzeit forderte. Wichtiger ist die richtige Vernetzung und die Lancierung von Thesen, Modelle und Theorien, die in diesen im Schwange sind. Denn das garantiert interne Reputation, positive Gutachten, Zulassungen zur Veröffentlichungen, wissenschaftes Ansehen und damit neue Fördergelder. Selbst wenn man die Untersuchungen, welche die Annahmen bestätigen sollen, hierfür frisiert hat.

Ich habe ein andere Vision: Statt den selbstreferenziellen Zitierindices hätte ich gerne Uebersichten, die zeigen, wie aus wissenschaftlichen Entdeckungen eine Praxis entsteht, die dadurch, dass sie sich ausserhalb der akademischen Zirkeln bewährt, glaubwürdig ist und bleibt!

Claude Longchamp

Die Krux mit den Ueberhangmandaten

Nicht-Deutschen muss man das Wort “Ueberhangmandate” erläutern. Denn in Bern ist das unbekannt. Dafür wird in Berlin spekuliert, dass eine bürgerliche Regierung in Deutschland inskünftig alleine dadurch legitimiert sein könnte. Worum geht es?

Die Gesamtzahl der Sitze, die einer Partei in einem Bundesland zustehen, wird zunächst durch die Zweitstimme bestimmt. Hat eine Partei innerhalb eines Bundeslandes mehr Direktmandate, als ihr nach Zweitstimmen Mandate des Landeskontingents zustünden, entstehen Überhangmandate. Die Partei darf die zusätzlichen Sitze aus Überhangmandaten behalten, obwohl sie damit mehr Abgeordnete entsendet, als ihr eigentlich zustehen. Durch diese Überhangmandate erhöht sich die Zahl der Abgeordneten im Bundestag. Noch nie waren es mehr als 16 Mandate, die so zusätzlich zu den 299 Mandaten der Bundesländer und den 299 für Deutschland geschaffen wurden.

Der Friedrichshafener Politologe Joachim Behnke, Verfasser eines Standardwerkes zum deutschen Wahlsystem, gilt als einer der besten Rechner, wenn es um Ueberhangmandate im deutschen Bundestag geht. Demnach kann diesmall alleine die CDU/CSU mit 20 Ueberhangsmandaten rechnen. Forsa-Chef Manfred Güllner ist mit 14-18 etwas zurückhaltender; doch sein Kollege Richard Hilmer von Infratest dimap hält sogar noch mehr Ueberhänger für möglich.

Das kann absurde Folgen haben, insbesondere wenn sich die Volksparteien ungleich stark sind. So könnte die CDU/CSU bei einem Wählendenanteil von 35 Prozent durchaus mehr Direktmandat erringen, als ihr zustehen, während das bei der SPD aufgrund ihres voraussichtlichen Anteils von 25 Prozent weniger wahrscheinlich ist. In der Endabrechung kann es deshalb theoretisch sein, dass SDP, Grüne und Linke mehr Stimmen haben als CDU/CSU und FDP, aber weniger Mandate.

Für diesen Spezialfall hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits angekündigt, ohne Rücksicht auf Wähleranteile auf die parlamentarische Mehrheit zu setzen. Sie will Schwarz-Geld, auch wenn die Differenz nur eine parlamentarische Stimme beträgt und diese auf einem Ueberhangmandat basiert.

Unter veränderten Umständen haben die SchweizerInnen gerade eine vergleichbare Diskussion erlebt, deren Ergebnis allgemein umgekehrt gelesen wird. Im Schweizer Bundesrat sollen die Parteien ihre Ansprüche nur entsprechend im WählerInnen-Anteil, nicht aufgrund der Zahl Parlamentsabgeordneter anmelden können, hiess es letzte Woche in Bern. Wahrscheinlich auch, weil es in der Schweiz keine Ueberhangmandate gibt …

Claude Longchamp

Das www der Wahlforschung

“Wer wählt wen?”, interessiert in der Wahlforschung sowohl die Theorie wie auch die Praxis.

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Lichthof im Hauptgebäude der Universität Zürich, auf den ich bei meiner inneren Vor- und Nachbereitung zur Vorlesung sehe

Klassische Vorlesungen zu diesem Thema beginnen mit dem Satz, die Wahlforschung sei die Königsdisziplin der Politikwissenschaft und die Umfrageforschung der Königsweg der Datenbeschaffung. Theorien des Wählens und Bevölkerungsstudien hierzu bilden die Basis, auf der Studierende lernen, wissenschaftliche Fragen zu stellen, entsprechende Hypothesen anhand zu testen und statistische Verfahren und Kennzifferenz anzuwenden, um zu gesicherten Aussagen zu kommen.

Für diese Vorlesung habe ich, wie Untertitel antönt, ein breiteres Vorgehen im Sinn. Mir geht es um Wahlforschung in Theorie, Empirie und Praxis. Ich werde also nicht nur den wissenschaftstheoretischen Teil der Wahlforschung ausloten, sondern auch den wissenschaftspraktischen.

Das unbestrittene Bindeglied zwischen allen drei Aspekten der Wahlforschung ist die Empirie. Die heutigen Theorien, egal ob sie aus der Politökonomie, der Sozialpsychologie, der Gesellschaft- oder Medienwissenschaft stammen, sind samt und sonders empirisch geprüft, korrigiert und weiterentwickelt worden.

Aber auch die Praktiker der Wahlforschung kommen ohne ihre Daten nicht aus. Diese gewinnen sie aus Umfragen, Inhaltsanalysen, real-time-Beobachtungen, um zu sagen, was gilt, was nicht ist, allenfalls um zu spekulieren, was wird.

Zwar gibt es immer noch Vorurteile auf allen Seiten: Demnach sind Empiriker reine Fliegenbeinchenzähler, Praktiker verhinderte Politiker und Theoretiker nutzlose Denker. Doch hat mich die Beobachtung der Wahlforschung selber in den letzten 15 Jahren gelehrt, dass die drei Felder näher gerückt sind. Die Denker, die Rechner und die Vermittler sind mit Ausnahmen dabei, sich näher zu kommen. Denn zwischenzeitlich ist man sich der Grenzen wissenschaftlicher Theorie bewusster, und umgekehrt weiss man auch, dass Zahlen für sich nicht sprechen.

Meine Absicht in diesem Kurs ist es zu zeigen, dass sowohl die Praxis von der Theorie wie auch die Theorie von der Praxis lernen kann. Denn alle WahlforscherInnen interessieren sich letztlich fürs Gleiche: “Wer wen wählt?”, ist die minimale Formel, “warum wer wen mit welche Wirkungen wählt” die maximale – sei dies in Praxis oder Theorie.

Claude Longchamp