Bürgerliche verzichten auf gemeinsamen Griff nach der Mehrheit in der Berner Regierung

In der Berner Kantonsregierung stehen sich 4 Rotgrüne und 3 Bürgerliche gegenüber. Das ist die einzige linke Mehrheit in der Exekutive eines schweizerischen Flächenkantons. Die Aussichten, dass das so bleibt, ist diese Woche gestiegen.

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Kantonsberner Regierung bis 2010; nach den jüngsten Entscheidungen der SVP könnte mit gleichen Verhältnissen zwischen links und rechts weiter gehen.

Machtpolitisch besteht die Herausforderung der Bürgerlichen bei den kantonalen Wahlen 2010 darin, die Mehrheit in der Exekutive zu ändern. Denn im Parlament hat man sie recht sicher. Am einfachsten geht das im Kanton Bern mit einem Angriff auf den garantierten Jura-Sitz, der an den bestplatzierten Bewerber geht, auch wenn er das absolute Mehr verfehlt.

Die Ueberlegungen im Bernischen Handels- und Industrieverein gingen schon länger in Richtung “Kampf um Jura-Sitz“. Die FDP schloss sich ihnen weitgehend an und zeigte sich gewillt, mangels Alternativen entsprechende Nominationen selber vorzunehmen. Die BDP signalisierte, sich passend zu verhalten, wenn der Bisherige im Amt bleiben will..

Doch jetzt macht die SVP einer gemeinsamen bürgerlichen Strategie für eine Wende in der Kantonsregierung einen dicken Strich durch die Rechnung: Sie beansprucht als grösste bürgerliche Partei im Kanton zwei Sitze in der Berner Regierung für sich selber, verzichtet aber auf eine Kandidatur für den Berner Jura. Mit ihrer zweiten Kandidatur will sie das politische Vakuum im Oberland schliessen, das derzeit in der Berner Regierung besteht.

Mit der gestrigen Entscheidung der SVP ist ein gemeinsamer Griff des bürgerlichen Lagers in der Berner Kantonsregierung strategisch in die Ferne gerückt. Denn entweder sistiert die FDP ihre Absicht, im Berner Jura um die Mehrheit zu kämpfen, womit der Eindruck entstünde, die FDP kuscht vor der SVP. Zudem würde die zentrale Frage des Wahlkampfes weg vom kleinen Kantonsteil im Jura hin zum grossen im “übrigen” Kanton verlegt. Oder man tritt auf der rechten Seite mit fünf Kandidaten für vier Sitze an, und das verteilt auf drei verschiedenen Parteilisten.

Gemäss Parteileitung der SVP ist die Wende im Regierungsrat gar kein strategisches Ziel mehr. Denn es geht ihr in erster Linie um den Führungsanspruch im bürgerlichen Lager. Und sie will in den Gemeinden, in denen sie bei der Parteispaltung die ganze Sektion an die BDP verloren hat, einen Aufbauwahlkampf in eigener Sache führen. Denn darin ist man sich bei der SVP einig: Der BDP gibt man mittelfristig keine Ueberlebenschance, also stellt man sich jetzt schon auf die Zeit danach ein.

Vorsichtig gesagt heisst das auch: Wenn’s gut geht, kämpft man miteinander; wenn’s eng werden sollte, tritt man auch gegeneinander an!

Nur im besten Fall gibt das eine bürgerlichen Mehrheit in der Berner Kantonsregierung. Im schlechtern Fall für die Bürgerlichen endet das in den bisherigen drei Sitzen mit Wechseln auf der personellen oder parteipolitischen Ebene im eigenen Lager. Dabei kann es sein, dass der bestehend SVP-Regierungsrat gekippt wird oder eine andere Partei ganz aus der Regierung fällt.

Wie das Beispiel zeigt sind die Gemeinsamkeiten im bürgerlichen Lager des Kantons Bern gering geworden. Sachpolitisch mag das für Mehrheit im Parlament reichen, machtpolitisch steht man sich bei Wahl gegenseitig in der Quere. Rotgrün kann von den jüngsten Entwicklungen im bürgerlichen “Lager” nur profitieren!

Claude Longchamp

Man rechne und staune!

Die Sitzverteilung im Bundesrat erfolgt nach der arithmetischen Konkordanz, lautet der Minimalkonsens unter den PolitikerInnen, welche die Nachfolge von Pascal Couchepin regeln wollen. Doch wenn man zu rechnen beginnt, staunt man nur noch!

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Fast unbemerkt publizierte der Zürcher Politikwissenschafter Daniel Bochsler unmittelbar nach den Parlamentswahlen 2007 seine Berechnungen zur Sitzverteilung im Bundesrat als Folge der damaligen Wahlergebnisse. Jetzt, wo es konkret wird, ist diese Publikation von höchster Brisanz. Ihr Zentrales Fazit: Der Anspruch der FDP auf die Nachfolge von Pascal Couchepin lässt sich arithmetisch kaum begründen.

Verteilung nach Hagenbach-Bischoff
Wendet man den Proporzschlüssel wie beim Nationalrat (das sog. Hagenbach-Bischoff Verfahren) an, scheidet die FDP aus, egal ob man auf WählerInnen-Anteil oder Fraktionsstärken abstellt.

Die Gewinnerparteien sind je Indikator unterschiedlich. Stellt man auf die Parteienstärken ab, geht der frei gewordene Sitz in der Bundesregierung an die Grünen. Nimmt man dagegen die Fraktionsstärken von 2009 als Massstab, kann die Zentrumsfraktion, bestehend aus CVP/EVP und glp, effektiv einen rechnerischen Anspruch auf den Sitz von Couchepin/FDP erheben.

So oder so stehen der SVP im Proporzverfahren zwei Sitze zu, der BDP keinen. Entwicklungsgeschichtlich kann man allerdings begründen, dass jener der BDP bis zum Rücktritt oder zur Abwahl von Eveline Widmer-Schlumpf der SVP abgezogen wird.

Variante nach Sainte-Lagué

Rechner Bochsler bleibt allerdings nicht bei dieser Verteilung stehen. Als Variante spielt er durch, was geschehen würde, sollte man das Rechenverfahren von André Sainte-Lagué anwenden, dem Verteilschlüssel, der neuerdings bei einigen kantonalen Wahlen zum Einsatz kommt.

Danach gewinnen erneut die Grünen als kleinste Partei auf jeden Fall einen Bundesratssitz. Nach Parteistärken kalkuliert haben weder die FDP noch die CVP einen Anspruch auf zwei Sitze, bevor die Grünen aufgewertet werden. Stellt man auf die Fraktionsstärken ab, bekommt die Zentrumsfraktion tatsächlich einen zweite Sitz gutgeschrieben, der aber bei der SP verlustig geht.

Das Ganze wirkt jedoch ziemlich hypothetisch, da hier nach einem Verfahren gerechnet wird, das gesamtschweizerisch nicht einmal beim Nationalrat gilt.

Variante: Abbild der gegenwärtigen Polarisierung
Die Rechenbeispiele können auch anders gemacht werden: Denn die aktuelle Debatte nicht mehr durch den Gedanken der Proportionalität von Parteien geprägt, sondern durch die Verteilung entlang möglicher Polarisierung im Parlament.

Davon gibt es drei, die wesentlich sind: das bürgerlichen Lager gegen die Linke, alle gegen die SVP und Mitte-Links gegen Mitte-Rechts.

Die jetzige Verteilung und Diskussion entspricht der hergebrachten Polarisierung von Bürgerlich vs. Linke. Das Verhältnis ist dann 5:2, – und innerhalb des bürgerlichen Lagers ist die erweiterte CVP-Fraktion an zweiter Stelle, unter den Wählenden an dritter. Das gilt auch, wenn mit umgekehrten Vorzeichen, wenn man die Polarisierung “Alle gegen die SVP” durchrechnet.

In der Polarisierung zwischen linker und rechte Hälfte des Parlaments stehen Mitte-Links 4, SVP, FDP und BDP 3 Sitze zu. Das Quartet aus Mitte und Linken besteht dann aus je zwei SPlern und 2 CVPlern.

Bilanz

Die FDP steckt in einem tiefen Dilemma. Mit ihrer Neuorientierung weg von der Mitte hin nach rechts ist sie ihrer Scharnierfunktion in der Bundesversammlung verlustig gegangen, ohne dass sie nur mit der SVP die aktuellen Verhältnisse im Bundesrat numerisch erzwingen kann.

Wer rechnet, merkt’s!

Claude Longchamp

Bundesrat: Wohin des Weges?

Vor gut 30 Jahren formulierte Raimund Germann, erster Leiter des IDHEAP in Lausanne, ein ambitiöses Programm für einen zukunftstauglichen Bundesrat. Heute kann man sagen: Die Politik funktioniert weitgehend anders als damals vorgeschlagen; nicht so jedoch ihre Wissenschaft, die zahlreiche Modelle diskutiert und dabei eine gewissen Konsens entwickelt hat.

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Raimund E. Germann, Professor in Lausanne, formulierte 1975 das Programm für eine Regierungsreform, die heute in der Wissenschaft auf Zustimmung stösst, von der Politik aber negiert wird.

Nach den Nationalratswahlen 1975 trat der zwischenzeitlich verstorbene Raimund Germann prominent hervor. Die anstehende Verfassungsrevision wollte er mit drei Forderung zur Reform des Regierungssystems inspirieren:

Erstens, mit einem gestärkten Präsidium für den Bundesrat;
zweitens, mit einer erweiterten Zahl von Mitglieder in der Bundesregierung;
und drittens, mit einem Wahlverfahren, das sich an den Gegebenheiten des Parlamentarismus orientiert.

Man weiss es: Die Totalrevision der Bundesverfassung wurde zur Jahrtausendwende in Kraft gesetzt; die Staatsleitungsreform scheiterte dagegen kläglich.

Wenigstens in der Politik. Denn in der Politikwissenschaft ist seither eine breite Debatte entstanden, welche die NZZ jüngsten auf einer Sonderseite mit Beiträgen des Staatsrechtlers Daniel Thürer, des Politikwissenschafters Peter Knöpfel und des Demokratieforschers Daniel Kübler zusammengefasst hat.

Einig ist man sich unter den Experten, dass das Bundespräsidium gestärkt werden muss. Mehr Koordination ist das Thema von Knöpfel. Mehr Leadership im Sinne der Steuerung empfiehlt Thürer. Mehr strategische Führung verlangt Kübler.

Diskutiert werden ein rotierendes Präsidium mit 2 bis 3 Mitgliedern und ein auf zwei Jahre gewählter Bundespräsident ohne Fachministerium, aber mit Weisungsbefugnis. Thürer und Knöpfel verwerfen frühere Vorstellungen, den Bundesrat in zwei Ebenen mit weniger Bundesräten und mehr Staatssekretären aufzuteilen. Kübler gibt sich hier offen, denn die vertikale Erweiterung laufe bereits jetzt, derweil der horizontale Ausbau rechtliche Klippen kenne.

Ziemlich gross ist die Einigkeit der befragten Politikwissenschafter, wenn es um die Erweiterung der Bundesregierung geht. Kübler nennt zwar keine Zahl der Bundesrät, bejaht aber eine Vermehrung. Thürer optiert für 9 oder 11 Mitglieder. Knöpfel wiederum ist für 13.

Vor allem das UVEK, aber auch das EDI werden als Departemente mit zu vielen Aufgaben angesehen. Am wenigsten wichtig ist das Thürer, dem eine Staatsleitung à la IKRK mit einem breit austarierten Beraterstab vorschwebt. Knöpfel schlägt 12 FachministerInnen und ein Bundespräsident oder eine Bundespräsidentin vor. Da erhält er vor allem von Kübler Unterstützung, für den der Kanton Baselstadt mit seinem fest gewählten Regierungspräsidenten auf vier Jahre Vorbildfunktion hat.

Die beiden Politologen reflektieren, wie man das erstarkte Parlament mit den fragmentierten Parteienlandschaft in die Regierung einbinden soll. Am konkretesten ist dabei Peter Knöpfel. Als Begründung für seinen 13er Bundesrat bringt er vor, dass nur diese Zahl eine genügend feine Aufteilung der Sitze auf die Parteien erlaube. Aktuell hätten nach seiner Rechnung die SVP (inkl. BDP) 4, die SP 3, die FDP, die CVP und die Grünen je zwei Mitglieder im Bundesrat.

Am wenigstens klar sind die Vorstellungen der Experten bei der Wahl des Bundesrates. Thürer interessiert sich kaum dafür; Knöpfel und Kübler sind für eine Blockwahl auf Zeit. Bei Knöpfel schwingen konkordante Verteilungsregeln mit. Kübler favoriert das freie Ringen nach Mehrheiten, die sich anschliessend auf ein Programm festlegen.

Vergleicht man das mit dem Aufruf von Germann aus dem Jahre 1975 kann man sagen: Gewichtige Stimmen der Wissenschaft sind heute klar weiter als die Politik. Bei der Stärkung des Präsidiums herrscht weitgehend Einigkeit, bei der Erweiterung der Bundesratsmitlieder auch. Danach franzen die Vorstellungen aber aus.

Die Zustimmung zum Konkordanzsystem begründet Peter Knöpfel so: Bei der Problemlösungsfähigkeit kann die Schweiz mit Konkurrenzsystemen nicht kurz-, aber mittelfristig durchaus mithalten.

Das ist es denn auch, was die PolitikerInnen bei der Staatsleitungsreform zögern lässt. Aktuell ist Eveline Widmer-Schlumpf am ehesten dafür, doch reicht auch bei ihr der Reformwille nicht über die strategische Stärkung der Führung des Bundesrates hinaus.

Claude Longchamp

Die BDP bringt sich in Position

Die BDP entdeckt ihren Wert: Wenn FDP und SVP für die Nachfolge von Pascal Couchepin im Bundesrat einen Pakt eingeht, will die BDP für die zwei CVP-Vertreter im Bundesrat votieren. Um zu verhindern, das FDP und SVP 2011 wieder nach der Mehrheit im Bundesrat greifen.

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Auf dieser Grafik sind die Parteien/PolitikerInnen aufgrund ihres Stimmverhaltens im Parlament im zweidimensionalen Feld positioniert worden (Quelle: sotomo/NZZamSonntag)

Die BDP ist aus den Parteiwirren nach der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bunderat als konkordante, bürgerliche Kraft entstanden, von der man erwartete, dass sie vor allem in der Europafrage offener als die SVP und insgesamt gouvernementalrer als die Partei politisieren werde, aus der sie hervorgegangen ist.

Eine Auswertung des Stimmverhaltens im Nationalrat während der laufenden Legislatur, die Politgeograph Michael Hermann erstellt hat, lässt erstmals interessante Rückschlüsse zur Position der jüngsten Partei in der schweizerischen Politlandschaft zu:

Erstens, die BDP politisiert in einem klar anderen Segment als die SVP. Sie steht der CVP am nächsten, befindet sich aber in ähnlicher Distanz auch zur FDP. Sie ist etwas weniger reformorientiert als die beiden grösseren bürgerlichen Parteien, steht aber weniger klar rechts als die FDP und weniger deutlich in der Mitte als die CVP.

Zweitens, die 5 Fraktionsmitglieder im Nationalrat stimmen allesamt anders als die SVP. Das gilt selber für den Bündner Hansjörg Hassler, der ihr noch am unmittelbarsten geblieben ist, aber deutlich weniger konservativ votiert. Hans Grunder, der Fraktionspräsident der BDP, ist am klarsten im Magnet der FDP, gefolgt von seiner Berner Mitstreiterin Ursula Haller. Brigitta Gadient, die zweite Bündnerin, ist ihrersetis am deutlichsten im Gravitationszentrum der CVP, und auch Martin Landolt befindet sich dem sehr nahe.

Aufgrund der Affinitäten sind bei der Nachfolge für Bunderat Couchepin Stimmen aus den Reihen der BDP sowohl für die FDP wie auch für die CVP denkbar. Sollte es aber zur erwarteten Blockbildung zwischen FDP und SVP kommen, könnte das die BDP ganz ins Lager der CVP treiben. Denn eine solche Allianz auf der rechten Seite wird von der BDP-Parteispitze als Zeichen gedeutet, die FDP werde seitens der SVP jetzt bedient, um nach den nächsten Wahlen mit Hilfe der FDP mit zwei Sitzen im Bundesrat vertreten zu sein.

Das kann eigentlich nur zu Lasten der kleinen BDP resp. ihrer Vertreterin in der Bundesregierung, Eveline Widmer-Schlumpf, gehen. Womit sich die Zusammenarbeit in der Fraktion einer grösseren Partei mit ähnlicher soziologischer Voraussetzung und gemeinsamen politischen Position erst recht empfehlen würde. Zur Stärkung des politischen Zentrums in der Schweiz!

Claude Longchamp

Sozialdemokratie in der Krise: den Gerechtigkeitsbegriff neu schärfen

Während sich die SPD an ihrem heutigen Parteitag auf die Bundestagswahl als Kampf ums Bundeskanzelramt einschwört, kommt der Politikwissenschaftern Wolfgang Merkel in der “NZZ am Sonntag” in seiner Analyse der Niederlage der Sozialdemokratie bei den jüngsten Europa-Wahlen zum Schluss: Die Partei muss den fair organisierten Zugang zu individuellen Qualifikationen ins Zentrum ihres neuen Gerechtigkeitsbegriffes lenken.

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Wolfgang Merkel, Direktor des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, analysiert die Zukunft der Sozialdemokratie

Merkel, selber parteilos, aber Mitglied der Grundwertekommission der SPD und Berater des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck, mag sich bei der Ursachenklärung für den Absturz der europäischen Soziademokratie bei der Wahl ins Europa-Parlamentes nicht mit den viel zitierten Besonderheiten dieser Wahl aufhalten. Vielmehr sieht er die fast flächendeckenden Misserfolg der SP in Regierungen (wie in Grossbritannien, Deutschland, Oesterreich, Spanien, Portugal) wie auch in der Opposition (wie Frankreich, Finnland, Dänemark, Schweden) in den programmatischen Positionen und ihren Umsetzungen.

Die Sozialdemokratie werde, schreibt Merkel, heute von mehreren Seiten gleichzeitig herausgefordert: Zuerst von den regierenden Christendemokraten, die seit der Wirtschaftskrise in der Mitte Terrain zurückerobern würden. Staatseingriffe seien für sie kein Tabu mehr, der Keynesianismus zurück, Regulierungen wieder in und selbst Verstaatlichungen würden nicht mehr überall ausgeschlossen. Die Abkehr von neoliberalen Positionen führe reihum zu vermehrt anerkannter Wirtschaftskompetenz in der Bevölkerung, ohne dass die Liberalen auf der anderen Seite wirklich profitieren könnten.

Zweitens gäbe es, analysiert Merkel, selbst in den Kernschichten der Sozialdemokratie parteipolitische Konkurrenz: die Grünen werben unbekümmert in den mobilen, neuen Mittelschichten, die Postkommunisten bei den gewerkschaftliche organisierten Staatsangestellten und die nationalistische Rechte bei der durch Immigration verunsicherten Arbeiterschaft in der Privatwirtschaft.

Das alles müsse nicht sein, meint Wolfgang Merkel. Denn das Kerngeschäft der Sozialdemorkatie bleibt die Weiterentwicklung ihrer sozialpolitischen Kompetenz. Diese dürfe sich aber nicht auf die Feuerwehrrolle für den Krisenfall beschränken; sie müsse die BürgerInnen mit Fähigkeiten ausrüsten, ihr Leben selber gestalten zu können.

Unter Blair, Schröder und Persson seien die Sozialdemokraten richtigerweise in die Mitte aufgebrochen, dabei aber zu weit gegangen. Denn sie hätten mit ihrem “dritten Weg” die soziale Ungleichheit nicht verringert, sondern ihre Vergrösserung zugelassen. Das habe ihr Projekt flächendeckend diskrediert und die Demobilisierung resp. Abwanderung der Wählerschaft eingeleitet.

Merkel grenzt sich von allen Untergangstheorien in den Sozialwissenschaften und der linken Ideologie ab. Vielmehr sieht er die Sozialdemokratie in einem Wellental, aus dem sie wieder hervorkommen könne, sollte sie sich den Ueberlegungen des indischen Nobelpreisträgers für Wirtschaft, Amartya Sen, anschliessen, der zurecht den fair organisierten Zugang zu individuellen Qualifikationen ins Zentrum seines Gerechtigkeitsbegriffes gerückt habe.

Claude Longchamp

SVP und Grüne: geringe Aussichten auf die Couchepin-Nachfolge, aber …

24 Stunden nach dem Rücktritt von FDP-Bundesrates Pascal Couchepin haben vier Parteien ihre Ambitionen für die Nachfolge angemeldet: die FDP selber, die CVP, die SVP und die Grünen. Die Aussichten der SVP und der Grünen erscheinen eher gering. Das heisst indessen nicht, dass sie das Endergebnis nicht beeinflussen können.

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Stellt man auf die Stärke der Parteien in der Wählerschaft oder in der Bundesversammlung ab, können SVP und Grüne gute Argumente vorbringen, im Bundesrat besser oder überhaupt vertreten sein zu müssen.

Das Dilemma der SVP
Die SVP ist seit dem Ausschluss von Eveline Widmer-Schlumpf, die gegen den Willen der Partei als Nachfolgerin von Christoph Blocher in den Bundesrat gewählt wurde, mit nur noch einem Mitglied in der Bundesregierung.

Um zum zweiten Sitz, der ihr nach Berechnung der numerischen Konkordanz zusteht, zum Kommen, ist sie mindestens auf die Stimmen der FDP angewiesen. Diese könnte, so sie selber mit zwei Sitzen im Bundesrat vertreten bliebt, zu Beginn der nächsten Legislatur, gewillt sein mitzuhelfen, Eveline Widmer-Schlumpf von der BDP abzuwählen, und den Sitz der SVP zu überlassen. So hätten die beiden Parteien im Bundesrat 2012 zusammen wieder eine Mehrheit.

Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die SVP jetzt den FDP-Sitz angreift. Vielmehr dürfte sie an einer klar bürgerlich ausgerichteten Kandidatur aus den Reihen der FDP interessiert sein. Es ist zu erwarten, dass sie sich entsprechend ausrichtet. Sollte das jedoch nicht der Fall sein oder sollten die Aussichten auf eine FDP-Nachfolge für Pascal Couchepin sinken, ist – bis zum letzten Moment – nicht auszuschliessen, dass sich die SVP zu einer eigenen Kandidatur entscheidet.

Das Dilemma der Grünen

Nach numerischen Kriterien steht den Grünen eindeutig vor der BDP ein Sitz im Bundesrat zu. Doch geht es auch hier um die Frage der Realisierung, denn ohne die Zustimmung der CVP und der SP wird es kein grünes Mitglied in der Bundesregierung geben. Und das ist, solange die CVP den selbstformulierten Anspruch, wieder zwei eigene BundesrätInnen zu haben, nicht eingelöst hat, unwahrscheinlich.

Entsprechend kann man dieses Szenario bei der Nachfolge für Pascal Couchepin praktisch ausschliessen. Immerhin gibt es für die Grünen eine second-best Lösungen: eine Kandidatur aufzubauen, die zurückgezogen wird, sollte sich die CVP bei ihren personellen Entscheidungen für eine Nachfolge für den zurückgetretenen Innenminister auch an Vorstellungen der Grünen ausrichten. Diese Bedingung ist nicht unwahrscheinlich, weil die CVP in der jetzigen Situation keinen zweiten Bundesratssitz ohne die Stimmen der Grünen bekommt. Das Taktieren ist aber nur solange möglich, als auch die SP eine Bewerbung aus der CVP vorzieht.

Meine Erwartungen

Voraussichtlich am 16. September 2009 bestimmt die Vereinigte Bundesversammlung die Nachfolge von Pascal Couchepin. Parteipolitisch sind Bewerbungen aus den Reihen der FDP und CVP aussichtsreich. Solche aus den Fraktionen der SVP und der Grünen dürften dagegen wenig Wahlchancen haben.

Zu erwarten ist unter der Bedingung einer Einervakanz aber, dass SVP und Grüne ihre Taktik so ausrichten, dass sie mit ihrem Verhalten die personelle Auswahl in der FDP und der CVP optimal mitbestimmen können. Und da sind die Stimmen der SVP und der Grüne nicht unerheblich.

Claude Longchamp

Pascal Couchepin in der Retrospektive

Pascal Couchepin ist als Bundesrat heute zurückgetreten. Ein Rückblick auf seine Leistung als freisinniges Regierungsmitglied für das Newsnetz der grossen Schweizer Tageszeitungen und eine persönliche Einschätzung hier.

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Von hoffnungsvoll über irritiert bis hinzu ablehnend: der Wandel meiner Einstellung zu Bundesrat Pascal Couchepin

11. März 1998
Am Tag der Wahl von Pascal Couchepin in den Bundesrat hielt ich abends in Sursee einen Vortrag. Ich habe das Manuskript spontan beiseite gelegt, um meine damalige Analyse der Bundesratswahlen vom Morgen und die Aussichten, die sich durch den Entscheid der Bundesversammlung eröffneten, dargelegt. Ich war in Sachen Couchepin ziemlich optimistisch, weil ich sein Talent als animal politique schätzte.

4. Dezember 2002
2002 wurde ich vom Generalsekretär des Volkswirtschaftsdepartementes eingeladen, die Rede am internen Jahresrapport zu halten. Ich nahm die Herausforderung an, sprach über die verunsicherte Mitte und meinte damit dem Umgang des damaligen bürgerlichen Zentrums mit dem unaufhaltsamen Aufstieg der SVP zur grössten Partei. Das Referat wurde zu einer Art Verabschiedung von Bundesrat Couchepin im EVD, denn es war sein letzter Auftritt vor seinen Spitzenbeamten vor dem Wechsel ins EDI. Unsere Einschätzungen ging damals schon deutlicher auseinander. Der Bundesrat erwidert auf mein Referat kurz und bündig: “Nein, isch bin nischt verunsischert.”

12. Juni 2009

Jetzt, beim Rücktritt von Pascal Couchepin, sind unsere Sichtweisen auf seine Leistung in der Schweizerischen Bundesregierung ziemlich polar und gegensätzlich geworden. Ich mag mich der Selbstbeweihräucherung nicht anschliessen; zu grosse ist meine Enttäuschung. Meine spontane Würdigung am Morgen des Rücktritts auf dem Newsnetz ist soeben erschienen.

Claude Longchamp

Die CVP entscheidet über die Zukunft der FDP – wenn sie es richtig macht

In der Schweiz ist Bundesrat Pascal Couchepin, der Vertreter der französischsprachigen FDP, zurückgetreten. Ueber die Nachfolge entscheidet nicht seine Partei alleine, sondern die Vereinigte Bundesversammlung. Da hat die CVP die besten Karten in der Hand, mit einer Mitte-links getragenen Kandidatur die FDP-Vertretung im Bundesrat zu ändern.

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Pascal Couchepin, FDP, wegen seines Verhaltens der umstrittenste aller gegenwärtiger Bundesräte, ist heute zurückgetreten. Ueber die Nachfolge in der Bundesregierung entscheidet letztlich die CVP.

Im Nationalrat herrscht zwischen Mitte-Rechts (SVP, FDP, BDP, EDU, Lega) und Mitte-Links (SP, CVP, Grüne, GLP, EVP, CSP und PdA) ein Patt. Beide Blöcke bringen es in der Volksvertretung auf je 100 Stimmen. Im Ständerat hat dagegen die Allianz aus CVP, SP, Grünen und Grünliberale die Ueberhand: 27 zu 19 lautet das Kräfteverhältnis in der Kantonsvertretung.

In der Vereinigten Bundesversammlung hat Mitte-Links damit eine knappe Mehrheit. Entscheidend ist aber, was die CVP macht. Stimmt sie bürgerlich, überwiegt diese Seite eindeutig. Stimmt sie geschlossen mit der Ratslinken, hat dieser Teil des Parlamentes das Sagen. Stimmt sie in alle Richtungen, vergibt die CVP ihre eigene politische Kraft.

Bei den anstehenden Bundesratswahlen ist das von Bedeutung. Die FDP kann ihre eigene Stärke im Bundesrat nur behaupten, wenn sie die Unterstützung der SVP, der BDP und der rechten Kleinparteien einerseits hat, den Zuspruch eine relevanten Minderheiten aus der CVP findet. Bei blockweisen Entscheidungen braucht es mindestens 5 Abweichler in der CVP, damit Mitte-Rechts mehrheitsfähig wird. Sollte die BDP nicht stramm rechts stimmen, erhöht sich der Anteil in der CVP, der die Seite wechseln müsste, entsprechend. Das wären dann im schlechtesten Fall 10 Mitglieder aus der Zentrumsfraktion.

Die Begründung jenseits dieser theoretischen Ueberlegungen sind kontrovers. Die Zentrumsfraktion zählt 36 Sitze im Nationalrat, jene der FDP-Die Liberalen kommt auf 35 Mandate. Im Ständerat liegt die CVP mit 15 zu 12 Sitzen der FDP ebenfalls vorne. Fraktionsmässig ist die Zentrumsfraktion durch den Zusammenschluss von CVP, EVP und glp die Nummer zwei unter der Bundeskuppel geworden.

Einen Einwand gibt es allerdings: Stimmenmässig ist die FDP seit dem Zusammenschluss mit den Liberalen eindeutig stärker als die CVP, deren Fraktionspartner parteipolitisch ganz bewusst eigenständig bleiben wollen. Das spricht gegen einen parteipolitischen Wechsel bei der Nachfolge von Pascal Couchepin.

Oder für einen rotierenden Sitz zwischen FDP und CVP solange es zwischen diesen beiden Parteien nicht klar ist, wer im bürgerlichen Lager den eigentlichen Lead inne hat.

Claude Longchamp

EU-Wahl: Resultateübersicht nach Ländern in zeitlicher Perspektive

Vertiefenden Analysen zur Wahl 2009 ins Europäische Parlament gibt es bisher kaum. Das hat mitunter damit zu tun, dass die gesamteuropäischen Uebersichten sehr mangelhaft sind.

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Das mediale Interesse an der Europawahl schwindet bereits rapide. Der Alltag regiert wieder. Dass es bisher kaum Analysen gibt, hat mitunter damit zu tun, dass Ueberblick über die Zeit und den Raum eher schwer zu finden sind.

Die bisher einzige Uebersicht über Sitze und Parteienstärken nach Ländern bei der aktuellen und der vorhergehenden Wahl findet sich im Vertiefungsdossier von “Financial Times”.

Eine Uebersicht über alle amtlichen Wahlergebnisse zwischen 1979 und 2004 nach Mitgliedstaaten gibt es beim Mannheimer Zentrum für europäische Sozialforschung.

Materialreich ist im Uebrigen die Ergebnisseite des Münchner Centrums für angewandte Politikforschung (CAP). Das gibt es auch zahlreiche Links zu Themenseiten und Blogs, die bei der Materialbeschaffung für vertiefende Auswertungen nützlich erscheinen.

Man könnte als mit der Analyse der grössten demokratischen Wahl in Europa beginnen!

Claude Longchamp

Prognose und Resultat im Vergleich

Im umittelbaren Vorfeld der EU-Parlamentswahlen präsentierte www.predict09.eu eine Vorhersage zum Ausgang der jüngsten Wahlen. Jetzt legte das Team um Simon Hix und Michael Marsh eine Evaluierung in eigener Sache vor: zu 90 Prozent richtig, ist ihr Urteil.

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Die von den Prognostikern von www.predict09.eu kommunizierte und hier auch besprochene Sitzverteilung differiert mit ihrer Analyse des Ergebnisses kaum, – mit der veröffentlichten Sitzverteilung auf der offizielle Website des EU-Parlamentes indessen schon. Das stellt die spannende Frage: Sind Prognosen genauer als Ergbnisse?

In der Tat gibt es bei den EU-Wahlen zwei Sorten von Resultaten. Die faktischen auf dem Stand heute, und die hypothetischen, wie sie bei der Eröffnung der neuen Legislatur sein werden. Bis dann können neuen Fraktionen entstehen resp. können sich fraktionslose Gewählte einer Partei anschliessen.

Nun macht www.predict09.eu auch hierzu eine Prognose. Die wichtigste Aussage ist, dass rund um die britischen Konservativen eine neue Fraktion der Europäischen Konservativen entstehen wird.

Stellt man das in Rechnung sind, die Abweichungen gering: bei der Sozialdemokraten lag die Prognose 10 Sitze zu hoch, bei den Christdemokraten dafür um 5 zu tief. 5 Sitze besser als erwartet dürften auch die neuen Konservativen abschneiden. Abweichung in dieser Grössenordnung gibt es auch bei den Linken, Unabhängigen und Fraktionslosen.

In der Schlussfolgerung heisst es: “Looking at the number of seats won by each national party, our model correctly predicted 661 seats – which is 90% of the total.” Auf der aggregierten Ebene stimmt die Vorhersage nach eigenen Berechnung gar um 98 Prozent.

Vorausgesetzt, die neuen Europäischen Konservativen machen das, was man ihnen auch vorhersagt …

Claude Longchamp