Wahlentscheidung unter Medieneinflüssen

Beeinflussen Massenmedien die Wahlentscheidungen? Dieser zentralen Frage der Wahlforschung geht der Mainzer Publizistikwissenschafter Stefan Dahlem in seiner Dissertation nach. Die Literaturübersicht integriert medien- und wählerInnen-orientierte Ansätze zu einem neuen interdisziplinären Vorgehen für die emprische Forschung, welche die aufgeworfene Frage theoretisch beantwortbar machen soll.

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Ueberischt über zentrale Argumentationsketten zum Medieneinfluss auf die Wahlentscheidung nach Stefan Dahlem

Für die Modellbildung konstitutiv ist die Unterscheidung innerer wie äusserer Faktoren der Wahlentscheidungen. Letztere entstehen aus dem sozialen Umfeld, der allgemeinen politischen Lage, den Massenmedien und der öfffentlichen Meinung. Dabei geht der Einfluss des sozialen Umfeld kontinuierlich zurück, und es nimmt die Bedeutung massenmedialer Darstellunger der politischen Lage zu. Dabei geht es weniger um eine direkte Einflussnahme, als um eine indirekte, indem die Medienberichterstattung die Vorstellungen der Wählenden über die Entscheidungsgegenstände bestimmt.

Diese Vorstellung sind die inneren Faktoren der Wahlentscheidung. Ideologien, Werte und Parteibindungen sind die langfristigen Prädispositionen der Wahl. Insbesondere die Rückläufigen Parteibindungen können als Folge der Negativberichterstattung über PolitikerInnen und Parteien in den Massenmedien gedeutet werden, was die Bedeutung kurzfristiger Informationen für den Wahlausgang erhöht, die ihrerseits in zunehmendem Masse auf massenmedialen Berichten basieren.

Drei Entscheidungsmechanismen erscheinen dabei als empirisch hinreichend geprüft, um verallgemeinert werden zu können:

. das Image von KandidatInnen,
. die vermutete Kompetenz der Parteien in den wichtigen Themen und
. das Meinungsklima, das sich aus dem Wahlkampf ergibt.

Namentlich bei WechselwählerInnen sind sie die massgeblichen Determinanten. Deren Bedeutung im Einzelnen lässt sich aber ohne das Studium des Wahlkampfes nicht vorhersagen.

Die gut lesbare und klar strukturierte Arbeit kommt trotz zahlreichen Ungereihmtheiten in der referierten Forschung zum Schluss, Einflüsse von Medieninhalten auf die Wahlentscheidung bestünden. Ihre Stärke hängt nach Dahlem zunächst von der Bedeutung von Netzwerken ab, in denen Wählende Informationen verarbeiten. Ohne sie, ist die Bedeutung massenmedialer Darstellung zentral, mit ihnen wird sie von den Netzwerken gebrochen. Sodann geht es auch um den Einfluss der Politik auf die journalistischen Darstellungen. Offensichtlich ist das Bemühen der Parteien und PolitikerInnen, die Medieninhalte zu bestimmen; diskret ist die Macht der Medien dort, wo sie mit ihren Selektionskritierien und Bewertungsmechanismus selber bestimmen, wer, wann und wie vor- oder nachteilhaft erscheint.

Modellmässig spricht nach Dahlem einiges dafür, dass die Enscheidungen der Wählen für Parteien und KandidatInnen heute vor allem durch Vorstellungen geprägt sind, die massenmedial vermittelt, von den Wählenden wahrgenommen und emotional verarbeitet werden. Diese Erkenntnis steht der rational-choice-Modellierung der Wahlentscheidung diametral gegenüber, die prinzipiell von informierten, vernunftgeleiteten Sachentscheidungen bei Wahlen ausgeht.

Meine Bilanz ist denn auch, dass das die spannendste These, welche die Dissertation von Stefan Dahlem nach fast 500 Seite Bericht für die empirische Forschung präsentiert.

Claude Longchamp

Stefan Dahlem: Wahlentscheidung in der Mediengesellschaft, München 2001

State-of-the-art in der politikwissenschaftlichen Wahlforschung

Die beiden Sozialwissenschafter Franz Urban Pappi und Susumu Shikano haben 2007 eine bemerkenswerte Uebersicht über den Stand der Wahlforschung vorgelegt. Fortgeschrittene StudentInnen finden hier eine knapp gehalten, weitgehend vollständigen Ueberblick.

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Wahlforschung gilt als eine der Königsdisziplinen in den Sozialwissenschaften. Nicht nur die Politikwissenschaft betreibt sie; auch die Oekonomie, Psychologie, Soziologie und Medienwissenschaft, ja auch die Geografie und Geschichte liefern Beiträge zur Erklärung von Parteien, Wahlergebnisse und BürgerInnenentscheidungen. Dabei beschäftigen sich ihre Modelle mit unterschiedlichen Aspekten der Wahlentscheidungen. Diese unterscheiden sich in der Reichweite, im Zeitbezug und aufgrund des Niveaus der Argumentation. Teilweise kommen sie zu gegensätzlichen Schlüssen, weil sie stärker axiomatisch oder empirisch ausgerichtet sind, oder weil sie unterschiedliche Wahlsysteme und Entscheidungssituationen vor Augen haben; teilweise ergänzen sie sich aber auch und bilden so ein Ganzes.

Den Entwicklungen der Forschung in den letzten Jahren trägt die Mannheimer Politikwissenschaft mit der aktuellen Überblicksdarstellung “Wahl- und Wählerforschung” Rechnung. Die Monografie des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) ist einerseits der Wählerforschung, also der Untersuchung von Entscheidungen und ihrer vielfältigen Motive, andererseits der Wahlforschung, die die Wahl als Ganzes behandelt, gewidmet.

Die Autoren liefern eine umfassende, anspruchsvolle Gesamtshau, wie sie bislang weder auf Deutsch noch auf Englisch verfügbar ist. Pappi und Shikano stellen sowohl dem sozialpsychologischen respektive verhaltenswissenschaftlichen Ansatz gleich zu Beginn einzeln und vergleichend vor. Darauf folgt eine Aufschlüsselung wichtiger Teilgebiete der gegenwärtigen Wahlforschung. Schliesslich widmet sich das Buch, wenn auch nur rudimentär, der der Wahl- und Wählerforschung in der politischen Praxis, besonders in Deutschland.

Der Band richtet sich an Studierende, die sich in Master-Programmen oder als Doktoranden spezialisieren wollen. Er ist vorbildlich knapp gehalten, vielleicht, was die kommunikationswissenschaftlichen Unterschungen des Wählens betrifft, sogar zu knapp.

Claud Longchamp

Franz Urban Pappi, Susumu Shikano: Wahl- und Wählerforschung. Forschungsstand Politikwissenschaft, Baden-Baden 2007

Deutscher Wahlkampfradar

Auf der Website www.wahlradar.de entsteht gegenwärtig ein spannendes Experiment zur Wahlkampfkommunikation. Etabliert wird ein Monitor der relevanten politischen Website,s um die Ausbreitung von Informationen während des Bundestagswahlkampfes im Internet zu studieren.

Die spezielle Website zu den deutschen Bundestagswahlen ist seit Anfang April 2009 aktiv. Letztlich ist sie eine Anpassung eines Projektes von “linkfluence“, die im vergangenen amerikanischen Wahlkampf eingesetzt wurde.

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Die Legende findet sich hier.

Die erste Phase des Projektes ist (weitgehend) abgeschlossen. In einem mehrstufigen Verfahren wurden die 555 wichtigsten politischen Websites in Deutschlang ermittelt. “Wichtig” bemisst sich dabei, wie im Internet so häufig, nach dem Grad dere Verlinkung durch andere Websites.

Dieses Kriterium lässt Segmentierungen in verschiedene politische Lager einerseits, unterschiedliche Funktionen zwischen Information und Parteinahme anderseits zu.

Die Karte, die so entsteht, gleicht einer Wolke: Nahe beieinander sind die Webstites, die stark untereinander agieren. Das ist bei den parteibezogenen Angebote im konservativen, liberalen, sozialdemokratischen, grünen, linken und rechten Spektrum wenig überraschend.

Aufschlussreicher sind die Beziehungen vor allem zu den institutionellen und medienbetriebenen Webstites, jenen der Oeffentlichkeit und der Satire. Letztere beispielsweise sind recht gut mit den Medien verhängt, aber auch mit denen der politischen Extreme, kaum jedoch mit jenen der Regierungsparteien. Insgesamt fällt auf, wie gering die CDU/CSU-nahe Websites mit denen anderer Parteien und Funktionen verlinkt sind.

In der zweiten Stufe des Projektes der Agentur Publicis Consultants sollen Wahlkämpfer erkennen können, wie Debatten verlaufen, wohin sie sich ausbreiten, und wer sie ignoriert. Das soll mit Stichwortsuche auch für KandidatInnen möglich werden. Zu erwarten ist, dass man mit diesem Projekt mehr über die Dynamiken von Sachfragen lernen wird, wie auch dem Umgang der Akteure mit ihnen.

Man wird mit Sicherheit von von dieser Website sprechen.

Claude Longchamp

Wahlkämpfe in der Schweiz: amerikanisch oder modernisiert schweizerisch?

Eine neue Untersuchung beschäftigt sich mit der Amerikanisierung der politischen Kommunikation in der Schweiz. Und bejaht den Trend für die Wahlkämpfe weitgehend. Eine Buchbesprechung.

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Im Fazit zu seiner Untersuchung der Modernisierung politischer Kommunikation in der Schweiz kommt der Freiburger Kommunikationswissenschafter Benjamin Weinmann zu folgendem Schluss: Die Amerikanisierung von Wahlkämpfen ist weiter fortgeschritten, als wie es uns bewusst sind. Das hat viel damit zu tun, dass man in der Schweiz dem Begriff “Amerikanisierung” aus kulturellen Gründen kritisch gegenüber steht, die Phänomene selber, die damit gemeint seien, jedoch einiges neutraler beobachtet.

“Amerikanisierung” der politischen Kommunikation definiert Weinmann anhand von vier Eigenschaften:

. der Professionalisierung,
. der Emotionalisierung,
. der Personalisierung und
. der Wettbewerbsorientierung

der politischen Kommunikation.”

In einem Rundgang durch die Medienberichte und Auswertungen hierzu, die sich vorwiegend auf die Nationalratswahlen 2007 stützen, zeigt Weidmann für alle vier Bereiche Evidenzen auf. Dabei ist viel von der Offensive die Rede, welche die SVP mit ihrem Wahlkampf lanciert hat. Das so gewonnene Material bleibt aber nicht für sich stehen; vielmehr wird es in der eben publizierten Untersuchung anhand von 10 Experteninterviews gewichtet und bewertet. Je fünf Spitzenfunktionäre der Parteien resp. zentrale Akteure der Massenmedien gaben ihm hierfür unmittelbar nach dem Wahlkampf Auskunft.

Die Bilanz am Schluss des Buches ist auf der Ebene der Befunde eindeutig. “Eine Amerikanisierung der politischen Kommunikation in der Schweiz gibt es auf jeden Fall.” In der Diskussion wird diese These dann aber differenziert: Weinmann zieht, um die Trends übergreifend zu charakterisieren, den Begriff der “Modernisierung” der politischen Kommunikation jenem der Amerikanisierung vor. Denn die realen Veränderungen reflektierten sowohl vom System wie auch von der Kultur her nur bedingt die amerikanischen Voraussetzungen. Sie werden auch nicht zwingend direkt aus den USA kommend in die Schweiz importiert; häufiger kommen sie als Adaptationen aus Nachbarländer in unser Land.

Was das Ausmass betrifft, hält Weinmann drei der vier ausgewählten Kriterien der Transformation politischer Kommunikation in der Schweiz für erfüllt: Einzig bei der Wettbewerbsorientierung resp. dem damit verbundenen negative campaigning ist er sich nicht so sicher, ob es stattfindet oder nicht.

Pointiert ausgedrückt kommt die aktuelle Veränderung von Wahlkämpfen für den Kommunikationswissenschafter darin zum Ausdruck, dass es der SVP gelungen sei, werberisch und medial die Parlamentswahlen ’07 in eine Quasi-Bundesratswahl umzugestalten. Ein eigentliches Pferderennen um die politische Macht sei daraus aber nicht geworden, denn dafür spräche die politische Kultur mit ihrem Beharrungsvermögen dagegen.

Man kann bei einigem, das Benjamin Weinmann präsentiert, Fragezeichen anbringen. Das hat vor allem mit der Begriffsdefinition und ihren Folgen zu tun. Denn diese wird etwa von den Innsbrucker PolitikwissenschafterInnen Fritz und Gunda Plasser in ihrer weltweit führenden Uebersicht über die Amerikanisierung von Wahlkämpfen radikaler vorgenommen: Amerikanisierung sei der Uebergang von der parteien- zur kandidatengetriebenen Kampagne, verbunden mit der Kommerzialisierung der Aktion, mit der forschungsgestützten, von externen Beratern geführten Kampagne, die sich auf die Fernsehpräsenz ausrichtete. Davon sind wir in der Schweiz wohl noch einiges mehr entfernt, als es hier bilanziert wird. Plasser würde denn auch nicht von Modernisierung sprechen, eher von der Diffusion von Techniken aus der amerikanischen politischen Kommunikation in die anderer Systeme und Kulturen. Und schon diese bleiben nicht ohne Wirkung, wo sie den Verhältnissen angepasst eingesetzt werden.

Trotz dieses Einwandes kommt Weinmann das Verdienst zu, sich erstmals in einer Publikation mit den Phänomenen der Amerikanisierung politischer Kommunikation in der Schweiz auseinander gesetzt zu haben.

Claude Longchamp

Benjamin Weinmann: Die Amerikanisierung der politischen Kommunikation in der Schweiz. Verlag Ruegger, Zürich/Chur 2009

Wider die Negierung der Ethik des Marktes

Die öffentliche Kontroverse über Wirtschaftsethik, die von Ulrich Thielemann an der Universität St. Gallen entfacht wurde, geht weiter. Es schaltet sich via Weltwoche auch das Liberale Institut aus Zürich ein und verteidigt die Ethik des freien Marktes.

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Pierre Bessard, Direktor des Zürcher Liberalen Instituts, sieht im freien Markt den besten Garanten für ethisches Handeln.

Mit Verve vertritt Pierre Bessard, neuer Direktor des Liberalen Instituts wortreich die These, der freie Markt sei die umfassendste moralische Institution des Menschen überhaupt. Denn nur der freie Markt respektiere die individuelle Eigentumsrechten, weil hier in jeder nur mit seinem Wissen, seinem Geld, kurz: mit seinen Produktionsfaktoren handeln könne.

Die unversale Ethik des Marktes setze sich, fährt Bessard fort, immer und überall durch, – selbst wenn sie unterdrückt werde. Deshalb entstünden mit dem freien Markt überall Werte wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Friedfertigkeit, Gerechtigkeit – und Effizienz.

Bessard hält den Markt für die grösst möglich denkbare menschliche Gemeinschaft überhaupt, verbunden durch das Netzwerk des Tasuches. Die Wahlfreiheit der Konsumenten sei es, welche den Anbieter diszipliniere. Wer unehrlich oder rücksichtslos tausche, setze sein Vermögen aufs Spiel.

Mit der Ausbreitung des Marktes, folgert der liberale Vordenker, zivilisiere auch die Welt. Der Wettbewerb löse den Kampf ab. Deshalb bringe der freie Handel auch Frieden, im Binnenmarkt, wie auch international.

“Gäbe es einen Freidensnobelpreis für Ordnungen und Institutionen, keine hätte ihn so sehr verdient wie der freie Markt”, empfiehlt sich Pierre Bessard als Verkünder der Wahrheit selber. Denn er unterlässt es nicht, gegen die Universitäten zu polemisieren, denen nicht nur ein fundiertes Verständnis des freien Marktes abhanden gehe. Man sei an Schweizer Hochschilen auch versucht, sich gerade mit Wirtschaftethik dem grössten Produzenten von Ethik, dem Markt an sich, zu entziehen.

Ohne Zweifel, klare Worte, mit klaren Absichten, die nicht nur gehört, sondern auch kommentiert werden dürften.

Claude Longchamp

Deutsche Bundestagswahlen als Blog

“Wahlen nach Zahlen” ist ein Blog und bietet empirisch fundierte, wissenschaftliche Beiträge rund um das Wahljahr 2009 in Deutschland.

Die online-Ausgabe der Zeitung “Die Zeit” hat verschiedenste ForscherInnen unterschiedlicher Universitäten eingeladen, im Vorfeld der deutschen Bundestagswahlen kurz und prägnant zu Wahlkämpfen, Wahlausgängen und Koalitionsverhandlungen Stellung zu nehmen. Das Blog “Wahlen nach Zahlen” will aktuell, informativ und empirisch fundiert sein. Es leistet damit eine willkommene Vermittlung zwischen Forschung und Journalismus.

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Nützliche Kurzinfos zu den deutschen Bundestagswahlen: Die Positionierung der Parteiprogramm im Zeitvergleich lässt für 2009 eine verbreitete Links-Entwicklung im aktuellen Wahljahr erkennen.

Zu den AutorInnen zählen bekannte Grössen aus der Literatur zur deutschen Wahlforschung wie Rüdiger Schmitt-Beck, Kai Arzheimer und Harald Schön. Schaut man sich die neueren Beiträge an, finden sich tatsächlich nützliche Informationen aus der aktuellen Forschung. Besprochen werden etwa die Positionen der Parteiprogramme auf der Links/Rechts-Achse, die Vernetzung der SpitzenkandidatInnen in sozialen Netzwerken auf Internet und die Bedeutung länger- resp. kurzfristiger Parteibindungen bei den Wahlentscheidungen 2005. Es lassen sich aber auch Besprechungen von Stellungnahmen finden, wie etwa die Kritik am kaum existenten Europa-Wahlkampf oder an den Schwierigkeiten der CDU/CSU, sich in der Steuerfrage zu positionieren.

Man wird noch mehr auf dieses überparteiliche Blog zu den kommenden Bundestagswahlen zurück greifen!

Claude Longchamp

Die deutschen Parteistärken im Spiegel der Demoskopie

Mit Blick auf die Bundestagswahlen vom 27. September 2009 nimmt die Bedeutung von Umfragen zu den politischen Parteien in Deutschland schnell zu. Spiegel-Online bietet hierzu eine nützliche Dokumentation an, die Einblicke in die Tätigkeit der demoskopischen Institute gibt.

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Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Umfragewerte für die deutschen Parteien seien instabil. Doch resultiert der Eindruck nur, weil auf der Hauptgrafik die Resultate aller Institut miteinander verarbeitet sind.

Im Prinzip machen alle Institute die gleiche Arbeit mit der gleichen Zielsetzung. Sie wollen wissen, wie stark die Parteien mit Blick auf die Bundestagswahlen sind und verwenden hierfür in ihren Repräsentativ-Erhebungen die Sonntagsfrage. In der Praxis unterscheiden sich die Vorgehensweisen von TNS Emnid, Forsa, Forschungsgruppe Wahlen, Infratest dimap und Allensbach jedoch leicht. Das gilt namentlich für die Gewichtungsverfahren und Stichprobenbildungen.

Vergleicht man nur die Ergebnisse von Trendbefragung innerhalb eines Instituts entstehen viel klarere und konstantere Resultate. Ihnen gemeinsam ist, dass sie alle die CDU/CSU als vorläufige WahlgewinnerInnen sehen, und die SPD an zweiter stelle ranigert, gefolgt von der FDP. Derweil liegen je nach Institut die Linke oder die Grünen auf dem 4. Platz.

Am uneinheitlichsten wird gegenwärtig die CDU/CSU bewertet. Allensbach gibt aktuell einen Wert von 37,5 % aus, TNS Emnid und Infratest dimap kommen auf je 34 Prozent. TNS Emnid hat dafür die SDP bei rekordverdächtigen 28 Prozent, während Allensbach für diese Partei auf 24,5 Prozent kommt. Die Unterschiede bei FDP, der Linken und den Grünen liegen im Ein-Prozent-Bereich.

Die Kadenzen der Veröffentlichung von Befragungsergebnissen sind allerdings nicht gleich, weshalb der punktgenaue Vergleich täuscht. Die letzte Publikation von Allensbach basiert auf Daten, die zwischen dem 3. und 17. April erhoben wurden, während jene von TNS Emnid zwischen dem 4. und 11. Mai entstanden.

Alle Institute arbeiten heute mit computergestützten Telefonumfragen, doch unterscheiden sich die Befragtenzahlen beträchtlich. Bei der Forschungsgruppen Wahlen reichen rund 1300 Personen, während sich TNS Emnid auf 3207 stützt.

Zwei technische Sachen sind im Institutsvergleich bemerkenswert: Alle Institute runden auf ganze oder halbe Prozentwerte, verzichten aber auf die Publikation von Bandbreiten für die Parteistärken, die sich aus den statistischen Fehlermargen von Stichprobenerhebungen ergeben.

Wie die Wahlergebnisse am 27. September 2009 sein werden, kann man daraus abschätzen. Wie hoch die Aussagegenauigkeit effektiv sein wird, wird man jedoch erst am Wahlabend selber wissen.

Claude Longchamp

German Longitudinal Election Study gestartet

In Deutschland wird mit den Bundestagswahlen 2009 eine neue Aera der Wahlforschung eingeleitet, die neue Standards setzen dürfte.

Dieser Tage startete das bisher ambitionierteste Wahlforschungsprojekt in Deutschland. Initiiert von der 2007 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung soll die German Longitudinal Election Study die drei Bundestagswahlen von 2009 bis 2017 aus einem Guss beobachten und analysieren.

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In diesem Projekt geht es darum, wie die Wählerschaft auf die komplexe Konstellation elektoraler Politik reagiert. Die bisherigen Fragestellungen der (deutschen) Wahlforschung werden deutlich erweitert: Kurz- und Langfristeffekte werden speziell untersucht. Parteien- und KandidatInnen-Survey kommen zu Einsatz. Und der Wahlkampf wird mit den Mitteln der Demoskopie, aber auch der Medieninhaltsanalyse analysiert. Gearbeitet wird dem obenstehenden Untersuchungsdesign.

Die Leitung des Grossforschungsprojektes haben Hans Rattinger (Uni Mannheim), Sigrid Rossteutscher (Uni Frankfurt), Rüdiger Schmitt-Beck (Uni Mannheim) und Bernhard Wessels (Wissenschaftszentrum Berlin) inne.

Claude Longchamp

Christoph Blocher mag nicht mehr politisieren

Im Newsnetz der grossen Tageszeitungen darf heute Reto Hunziker über Christoph Blochers Motive nachdenken, sich für den Lehrstuhl für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen zu bewerben. Viel Sinn mag er der gestrigen Ankündigung nicht abgewinnen, sodass er sie nur noch ins Lächerliche ziehen kann.

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Kommunikativer Trick: Mit der nicht ernst gemeinten Bewerbung als Professor lenkt Christoph Blocher von seinem schrittweisen Rückzug aus der Politik ab. Denn Fakt ist: In die Wahlen 2011 mag er die SVP nicht mehr führen.

Ich bin der gleichen Meinung wie der genannte Journalist und widerspreche ihm dennoch. Weil er wie allen anderen Medienschaffenden in ihren fast schon symbiotischen Beziehung zur Christoph Blocher nicht gründlich lesen will. Denn der Gag provoziert die erwartete Anschlusskommunikation, die geeignet ist von der effektiven Botschaft der Stellungnahmen in der Sonntagspresse abzulenken.

Diese betraf nämlich den sukzessiven Rückzug des SVP-Präsidenten aus der Politik. Angefangen hatte alles mit der Abwahl Blochers aus dem Bundesrat. Es folgten zwei bitere Abstimmungsniederlagen bei der Einbürgerungsinitiative und bei der Personenfreizügigkeit, – zwei Kernanliegen der SVP. Dazwischen lag die unsanfte Botschaft der Fraktion, die eigene Leitfigur der letzten Jahre nicht mehr als Bundesratskandidaten nominieren zu wollen. Als das auf Umwegen dennoch erfolgte, scheiterte der frühere Tausendsassa der Schweiz Politik zwar nicht an der eigenen Partei, dafür umso deulicher am Veto der FDP.

An Christoph Blochers Frontkämpferrolle ist seither einiges kritisiert worden, auch parteiintern. Empfohlen wurde ihm, einen Rollenwechsel zum elder statesman vorzunehmen, bei den Nationalratswahlen 2011 zu kandidieren, und für die Partei die Wahlkampfleitung zu übernehmen. Nur Aussenseiter empfahlen ihn darüber hinaus noch für das Amt des UBS-Präsidenten, und wurden vom Uebervater gleich selber desavouriert.

Denn Christoph Blocher mag nicht mehr. Seine SVP drängt in ihrer Mehrheit mit kräftigem Schritt zurück in den Bundesrat. Einen Sitz hat sie schon, die Aussichten auf einen zweiten bestehen. Dafür wird man aber von der verbalen Fundamentalopposition Abschied nehmen und sich mit der Themenopposition, die von allen anderen Regierungsparteien auch geübt wird, begnügen müssen.

Allem Anschein nach ist das nicht mehr Christoph Blochers Welt. In aller Stille hat der früher so erfolgreiche Unternehmen Teile seines Vermögens in Beteiligungen an Firmen investiert und steht er im Gespräch, die Leitung eines serbelnden Geschäfts zu übernehmen.

In dem Punkt sind seine Aussagen über sich und seine Absichten ernst zu nehmen: Führen ist seine Sache, sei es in Wirtschaft oder Politik, im Unternehmen oder in der Partei. Und wenn das in Helvetiens Oeffentlichkeit, die gemeinsam über allgemeinverbindliche Beschlüsse nachzudenken hat, nicht mehr gefragt ist, interessiert es das animal politique aus Herrliberg nicht mehr am gemeinsamen Strick ziehen.

Statt nach weiteren Posten zu fahnden, die man Christoph Blocher als Trostpreise, die er gar nicht mag, antragen könnte, würde es dem Schweizer Journalismus gut anstehen, über die Ausgestaltung und Wirkungsweise von Wahlkämpfen nachzudenken, die nicht mehr von Parteipräsident, Bundesrat oder Oppositionführer der SVP ersonnen und umgesetzt werden.

Claude Longchamp

Spaltungen der Schweiz bei Volksabstimmungen systematisch untersucht

Ein Forschungsprojekt von Berner PolikwissenschafterInnen hilft, die Vielfalt von Gegensätzen in den Abstimmungsergebnissen historisch und typologisch zu überblicken.

Wer erinnert sich nicht an die Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992, als die Schweiz in einer denkwürdigen beim Volksmehr knapp, beim Ständemehr deutlich entschied, dem EWR nicht beizutreten. Vom “Röschtigraben” war damals sinnbildlich die Rede, weil die Trennlinie zwischen mehrheitlicher Zustimmung und Ablehnung praktisch mit der Sprachgrenze zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz zusammenfiel, und die Sprachregionen (mit Ausnahme der deutschsprachigen Grossstädte) fast gänzlich gegensätzlich stimmten.

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Cleavages oder Konfliktlinien nennt die Sozialwissenschaft gesellschaftlich bedingte Spaltungen, die historisch zurückliegende Konflikte reflektieren, nachwirken, verschiedenen Interessen oder Identitäten zum Ausdruck bringen und durch entschprechende Organisationen immer wieder mobilisiert werden. Das kann man erfolgreich für die Entstehung der Parteiensysteme verwenden, aber auch für Analyse von Volksabstimmungsergebnisse verwenden.

Ein Forschungteam der Universität Bern, geleitet von Wolf Linder, hat sich dieses Raster auf alle Volksabstimmungen seit 1874 angewendet und die raumbezogenen Resultate erstmals eine systematischen statistischen Analyse über die Zeit unterzogen. Die Ergebnisse ihrer Studie wurde vor kurzer Zeit im Band “Gespaltene Schweiz – Geeinte Schweiz. Gesellschaftliche Spaltungen und Konkordanz bei den Volksabstimmungen seit 1874″veröffentlicht (und ist teilweise auf via Web abrufbar).

Konfliktlinie “Stadt vs. Land” bei Volksabstimmungen
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Regula Zürcher und Christian Bolliger, welcher die empirischen Arbeiten geleistet haben, kommen zum Schluss, dass der Stadt/Land-Gegensatz nicht nur der wichtigste über die ganzen Betrachtungsperiode ist. Er nimmt auch klar zu. Oder anders gesagt: In Volksabstimmung der Schweiz ist die Konfliktlinie zwischen Stadt und Land am häufigsten relevant, um Zustimmung und Ablehnung zu kennzeichnen.

Konfliktlinie “Kapital vs. Arbeit” bei Volksabstimmungen
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An zweiter Stelle figuiert bei ihnen die Konfliktlinie “Arbeit/Kapital”; sie war zwischen 1895 und 1925 ausgeprägt wirksam und bei Volksabstimmungen die wichtigste. Seit 1986 ist die wieder zunehmend, bleibt aber hinter der erstgenannten zurück.

Konfliktlinie “deutschsprachige vs. französischsprachige Schweiz” bei Volksabstimmungen
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Damit sind die beiden interessenbezogenen Spaltungen an der Spitze. Die beiden identitätsorientierten Konfliktlinien, die ebenfalls untersucht wurden, folgen danach: Zuerst erwähnt wird der Sprachengegensatz (hier vereinfacht dargestellt durch die Spaltung zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz), während die konfessionelle Teilung der Schweiz (gemessen an der Polarität zwischen Katholizismus und Protestantismus) an letzter Stelle folgt.

Konfliktlinie “Katholisch vs. reformiert” bei Volksabstimmungen
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Der grosse Vorteil dieser Art von Analyse ist, die Uebersicht zu erhalten und zu bewahren, wobei die Aufgeregtheit, mit der einzelne Phänomene gelegentlich kommentiert werden, relativiert wird. Das gilt notabene auch für die “Spaltung” der Schweiz beim EWR, die aus der Sicht der Abstimmungsgeschichte nur eine vorübergehende Episode war: ein Grund mehr, diese Konfliktlinie nicht bei jeder Gelegenheit zu bemühen!

Claude Longchamp